Martin Suchanek, Neue Internationale 288, 20. Dezember 2024
Alle sprechen von der Krise. Nicht nur Linke, sondern wirklich alle politischen Kräfte. Die Zeiten, als uns Regierungen und Ökonom:innen glauben machen wollten, dass Krisen sich erledigt hätten, gehören einer scheinbar ganz fernen Vergangenheit an. Viele Genoss:innen haben diesen Schönwetterkapitalismus überhaupt nicht mehr bewusst miterlebt, weil nach 2008 praktisch niemand mehr von einem neuen Zeitalter der Wohlstand bringenden Marktwirtschaft sprach.
So reden auch heute fast alle linken Organisationen, ja fast alle Organisationen der Arbeiter:innenbewegung und auch des linken Kleinbürgertums von multiplen oder Mehrfachkrisen. Hier nur einige davon: Wirtschaftskrise, Energiekrise, Krise der Sozialsysteme, Krise der sozialen Reproduktion, Bildungskrise, Gesundheitskrise, Flüchtlingskrise, Krieg und Zusammenbruch der internationalen Ordnung, Nord-Süd-Krise, Rechtsruck, Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Krise der Demokratie, Autoritarismus, politische Krise, ökologische Krise …
Diese Aufzählung ließe sich fast beliebig fortsetzen. Im Grunde verdeutlicht das nur, dass Krise(n) und Krisenhaftigkeit der Gesellschaft heute eine anerkannte Realität darstellen, auf die verschiedene Klassen naturgemäß unterschiedliche Antworten geben.
Als Mittel zur Beschreibung und Aufzählung hat der Begriff der multiplen Krise sicher Berechtigung. Aber: Zugleich wirft er eine entscheidende Frage auf: Wie hängen diese verschiedenen Phänomene zusammen? Worin besteht ihr grundlegendes, ihr verbindendes Element, was macht ihren Charakter aus?
Die Beantwortung dieser Fragen ermöglicht erst, die aktuelle Weltlage zu verstehen und zwar nicht oberflächlich, als Addition verschiedener Erscheinungsformen von Krisen, sondern in ihrem inneren Zusammenhang. Vielen reformistischen, aber auch kleinbürgerlichen, radikalen Linken stellen sich die verschiedenen Krisenerscheinungen nämlich nicht bloß als nebeneinander existierende, mehr oder weniger voneinander isolierte Phänomene, sondern auch als Probleme dar, die jeweils verschiedene Subjekte für ihre Veränderungen hervorbringen.
Z. B. erscheint dann als Subjekt der Überwindung der ökologischen Krise eine klassenübergreifende, oft politisch kleinbürgerliche, mehr oder weniger radikale Umweltbewegung, als Subjekt des Kampfes gegen Frauenunterdrückung gelten die Frauen unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit. Die Verteidigung demokratischer Rechte mag zwar auch in Verbindung mit ökonomischen Verwerfungen gesehen werden, aber als ihr Subjekt erscheint die Einheit aller „Demokrat:innen“. Diese Liste ließe sich fast beliebig erweitern.
In jedem Fall legt ein solches vorherrschendes Verständnis der multiplen Krise nahe, dass auch ein gesellschaftsveränderndes oder gar revolutionäres Subjekt aus der bloßen Addition dieser Bewegungen hervorgehe. Die Frage, welche Klasse die führende Rolle in diesen Kämpfen ausüben muss, spielt dabei nicht nur keine Rolle, sondern wird als Zumutung betrachtet, weil sie die Vorstellung angreift, dass diese Krisen bloß parallel zueinander auftreten oder lose verbunden existieren würden.
Der Begriff der multiplen Krise ist in diesem Fall nicht nur kaum mehr als nur eine bloße Beschreibung, sondern drückt auch eine falsche Vorstellung des Verhältnisses verschiedener Krisenphänomene aus. Und er ist auch notwendig ahistorisch, weil er die Verbindung zwischen diesen Krisen nicht in einen Entwicklungszusammenhang mit dem Kapitalismus als globalem System, mit einer bestimmten Entwicklung der imperialistischen Epoche stellt.
Es reicht daher nicht, wie es durchaus auch etliche linke Gruppierungen tun, allgemein den Zusammenhang von kapitalistischer Krise und anderen Krisen zu konstatieren. Für Revolutionär:innen ist es vielmehr unerlässlich, sich über ihren inneren Zusammenhang klar zu werden. Im Folgenden wollen wir wesentliche Elemente dieses Zusammenhangs aus unserer Sicht skizzieren, um so auch die Grenzen des Begriffs der multiplen Krise zu begreifen.
Ganz allgemein gesprochen ist jede historische Krise des Kapitalismus eine „multiple“, weil sie nicht nur die Sphäre der Ökonomie oder Politik, sondern die gesamte kapitalistische Gesellschaftsordnung im nationalen wie internationalen Maßstab betrifft. Dies erklärt auch, warum sie auch als eine ideelle, kulturelle Krise erscheinen muss.
Das vormals bestehende Gleichgewicht zwischen den, aber auch innerhalb der Klassen, zwischen Staaten und politischen Mächten ist grundlegend erschüttert und im Zusammenbruch begriffen. Das kennzeichnet alle solche Perioden, ob nun 1848, 1914 – 1923, die Zwischenkriegszeit, aber auch die Periode 1968 – 1975, den Zusammenbruch des Stalinismus oder die 2008 eröffnete Krise der kapitalistischen Globalisierung und des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt.
Wir wollen uns daher Kernelementen der aktuellen Krisenperiode und ihrem Zusammenhang zuwenden.
Die Überakkumulation von Kapital und der Fall der Profitraten über mehrere Zyklen und in allen wichtigen Ländern bilden die ökonomische Basis der aktuellen Krisenperiode. Obwohl eine Reihe von Maßnahmen seit Jahrzehnten verfolgt werden, um dem Fall der Profitrate entgegenzuwirken, lässt sich ein solcher über mehrere Weltmarktzyklen festhalten, wie z. B. Stephan Krüger in seinem Buch „Profitraten und Kapitalakkumulation in der Weltwirtschaft“ zeigt.
Die herrschenden Klassen aller imperialistischen Staaten – der USA, Westeuropas, Japans, aber auch Chinas und Russlands – stehen dem Phänomen ratlos gegenüber. Und das, obwohl neoliberale Offensiven, Angriffe auf die Einkommen der Lohnabhängigen, Intensivierung der Arbeit, Rationalisierung, Ausdehnung des Weltmarktes, Reduktion von Transaktions- und Transportkosten usw. dem Fall der Profitraten entgegenwirkten.
Mit der Krise ab 2008 wurde das in der Großen Rezession manifest und noch einmal in einem eigentlich noch tieferen synchronisierten globalen Einbruch während der Pandemie. Die Masse überakkumulierten Kapitals, das seither noch zugenommen hat, verweist auf die Notwendigkeit der Kapitalvernichtung in historisch nie dagewesenem Ausmaß, um eine neue Akkumulationsperiode zu eröffnen. Das heißt, wir leben, um es mit Trotzki zu sagen, in einer Phase, in der die Kurve der kapitalistischen Entwicklung einen stagnierenden, wenn nicht niedergehenden Charakter trägt.
Dies verdeutlicht auch den illusionären Charakter von Neoreformismus, -keynesianismus und grüner Staatsintervention wie im Green Deal. Diese unterstellen, dass die Kapitalvernichtung und Erneuerung „kontrolliert“, geplant und global „gerecht“ stattfinden könne. Ihre Illusion liegt darin, dass die bürgerliche Staaten- oder gar die Weltgemeinschaft ihre kapitalistischen oder imperialistischen Eigeninteressen dem Wohl des weltwirtschaftlichen Ganzen unterordnen würden.
In Wirklichkeit kann die Entwicklung unter kapitalistischen Bedingungen aber nur in die gegenteilige Richtung gehen. Denn für die großen (und kleineren) Kapitale und Mächte geht es nicht um „kontrollierte“ Kapitalvernichtung, sondern darum, wessen Kapital vernichtet und aus dem Feld geschlagen wird, wer siegreich aus der Konkurrenz hervorgeht.
Die ökonomische Krisenhaftigkeit bildet die Grundlage der verschärften Konkurrenz zwischen den Kapitalgruppen und imperialistischen Mächten – für einen sich beschleunigenden Kampf um die Neuordnung der Welt.
Die globale wirtschaftliche Konkurrenz ist aber keineswegs eine bloß ökonomische Frage. Sie hängt unmittelbar mit dem imperialistischen System zusammen, das selbst durch eine bestimmte, nach 1945 etablierte Weltordnung unter Vorherrschaft der USA geprägt war: einer bestimmten ökonomischen Rangordnung und Aufteilung des Weltmarktes, eines bestimmten Währungssystems, bestimmter Institutionen (IWF, Weltbank, WHO usw.), die zur Absicherung dieser Ordnung etabliert wurden – von Seiten der US-Bourgeoisie mit dem Ziel, ihre Vorherrschaft zu verewigen.
Doch nichts hält bekanntlich ewig. Die US-Hegemonie war natürlich nie unbegrenzt, sie stand in einem Verhältnis von Konkurrenz zu und zugleich Kooperation mit den degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Mit der Entwicklung des Nachkriegskapitalismus traten zusätzlich die Verlierermächte des Zweiten Weltkrieges, Japan und (West-)Deutschland, als ökonomische Rivalen hervor.
Der Sieg im Kalten Krieg und die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion und China stellten einen weltgeschichtlichen Sieg des Imperialismus und eine Niederlage der Arbeiter:innenklasse dar. Sie erlaubten die Etablierung der sog. Globalisierungsperiode und eine massive Expansion des Weltmarktes.
Aber die List der Geschichte besteht gerade darin, dass nicht nur die EU versuchte, sich als globale Rivalin zu etablieren, sondern gerade aus den ehemaligen degenerierten Arbeiter:innenstaaten neue imperialistische Konkurrent:innen hervorgingen und heute der Hauptgegensatz auf internationaler Ebene zwischen den USA und China verläuft.
Wir erleben den Niedergang der US-Hegemonie und deren etablierter Weltordnung, ohne dass eine neue an ihre Stelle getreten wäre – und das ist auch nicht „friedlich“ möglich. Der Aufstieg imperialistischer Rival:innen wie China und Russland geht zudem auch mit den gestiegenen Ambitionen ökonomisch entwickelter und militärisch stärker werdender Halbkolonien einher – insbesondere Indiens, aber auch anderer Regionalmächte. Die USA verfügen zweifellos noch über die größte kapitalistische Wirtschaft, dominieren das globale Finanzsystem, ihr Dollar ist die wichtigste Währung, stellt noch immer das bedeutendste Weltgeld dar. Aber andere Staaten wie China versuchen – durchaus auch mit ihren eigenen Problemen – selbst, mit der Neuen Seidenstraße, mit militärischen und wirtschaftlichen Abkommen, ihren eigenen Block aufzubauen. Der Weltmarkt und die Weltordnung fragmentieren, wir erleben eine Tendenz zur Blockbildung und zum Unilateralismus – und wir können unter der Präsidentschaft Trumps eine massive Forcierung dieser Entwicklung erwarten.
Auch wenn ein neuer Weltkrieg unmittelbar nicht bevorsteht und kurzfristig unwahrscheinlich ist, so drängen die innerimperialistischen Gegensätze in diese Richtung. So können wir z. B. beim Krieg um die Ukraine einerseits einen berechtigten Aspekt ihrer Selbstverteidigung gegen den russischen Imperialismus erkennen, andererseits ist dieser eingebettet in den Kampf um die Neuaufteilung der Welt, beschleunigte Sanktionen und gegenseitige Aufrüstung. Eine ähnliche, potentiell noch weit gefährlichere Tendenz können wir im Gelben, Ost- und Südchinesischen Meer), nicht nur um Taiwan, beobachten. Auch beim Krieg in Gaza geht es um die globale Ordnung, wobei die pogromistische Politik Israels auch Grenzen der Fähigkeit des US-Imperialismus verdeutlicht, seine Ordnung trotz extremer militärischer Überlegenheit einfach durchzusetzen.
Verschärft werden die Probleme noch dadurch, dass die Krise der US-Hegemonie und die globale Konkurrenz auch für andere Staaten Spielräume schaffen, die Regionalmächte auszunutzen versuchen. In jedem Fall wird die innerimperialistische Konkurrenz massiv zunehmen, was sich auch notwendigerweise in den inneren Klassen- und Herrschaftsverhältnissen ausdrücken muss, wie wir weiter unten sehen werden.
Das Ganze lässt sich zusammenfassen in einer historischen Periode des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt, die 2008 eröffnet wurde und seither verschiedene Phasen durchlief:
2008 – 10 Globale Rezession;
2011 – 16 Vorrevolutionärer Aufschwung.
Aber die Arabischen Revolutionen und die vorrevolutionäre Situation in Griechenland endeten mit schweren, weit über die einzelnen Länder hinausgehenden Niederlagen der globalen Arbeiter:innenklasse.
2016 – 19 Rechtsruck und Unilateralismus;
2020 – 22 Coronapandemie und synchronisierte Rezession.
Ab 2022 massive Verschärfung der innerimperialistischen Konfrontation und des neuen Kalten Krieges infolge des Ukrainekrieges.
Obige Unterteilung der verschiedenen Phasen des Klassenkampfes seit 2008, die sicher noch genauer gefasst werden kann, soll hier nur verdeutlichen, dass innerhalb einer längeren, 2008 beginnenden Periode das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, die ökonomische Konjunktur, die Formen der Zuspitzung im innerimperialistischen Kräftemessen wechseln. Diese Phasen konstituieren eine jeweils besondere weltgeschichtliche Lage, Klassenkampfperioden oder Konjunkturen des Kampfes, die von verschiedenen Kräfteverhältnissen geprägt sind und in denen bestimmte Fragen im Vordergrund stehen.
Dies ist für Marxist:innen von besonderer Bedeutung, weil das revolutionäre Aktionsprogramm, eine Konkretisierung unseres allgemeinen Programms, immer auch an aktuelle Veränderungen der Lage im internationalen Maßstab angepasst werden muss, aber auch auf verschiedene nationale Situationen. So stehen beispielsweise andere Fragen im Vordergrund, wenn wir aus einer Situation der Defensive (wie heute in den meisten Ländern) oder der Offensive der Lohnabhängigen, Unterdrückten und sozialen Bewegungen heraus agieren.
Bevor wir auf die Rückwirkungen der globalen Lage, auf das Klassenverhältnis und die Arbeiter:innenklasse selbst eingehen, wollen wir noch einen weiteren grundlegenden Aspekt der aktuellen Krisenperiode betrachten, der diese von früheren unterscheidet.
Der Kapitalismus ist in seiner Geschichte, wie schon Marx im Kapital zeigt, von einem metabolischen, unheilbaren „Riss“ im Stoffwechsel zwischen Mensch und (außermenschlicher) Natur geprägt, der dazu führt, dass die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer Entwicklung zugleich die Quellen allen gesellschaftlichen Reichtums – menschliche Arbeit und Natur – unterminiert, ja zerstört. Diese Entwicklung erreichte in den letzten Jahrzehnten eine neue Qualität, weil das Überschreiten ökologischer Kipppunkte z. B. beim Klimawandel, die Überlebensbedingungen der Menschheit in Frage stellt.
Im Grunde verweist der Riss von Beginn an auf die Notwendigkeit einer sozialistischen Ordnung und einer demokratischen, wirklich unter Kontrolle der Produzent:innen stehenden Planwirtschaft, die Nachhaltigkeit und Befriedigung menschlicher Bedürfnisse in Einklang bringt.
Die Krise des Kapitalismus und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt verschärfen diesen Riss unwillkürlich, trotz Beteuerung fast aller Regierungen, der drohenden ökologischen Katastrophe entgegenwirken zu wollen. Vom Green (New) Deal blieb nur eine Phrase, die internationalen Klimagipfel beschließen – nichts. Im Gegenteil. Der Kampf um die Verteilung der Lasten und Kosten der ökologischen Krise bildet selbst einen integralen Bestandteil desjenigen um die Neuaufteilung der Welt. Das schließt einzelne Notmaßnahmen nicht aus, aber diese Lage verunmöglicht jede wirkliche Lösung im Imperialismus.
Kapitalistische Krise und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt gehen unvermeidlich auch mit einer Veränderung der inneren Verhältnisse zwischen den Klassen auf verschiedenen Ebenen einher. Wir wollen hier nur einige Aspekte anführen.
Diese führt selbst zu einer massiven Veränderung der Rolle der herrschenden Klassen in den verschiedensten Ländern und Regionen der Welt.
Obige Entwicklungen führen zu grundlegenden Rückwirkungen auf die herrschenden Klassen in allen Staaten. Betrachten wir z. B. die USA, so ist die US-Bourgeoisie zwischen verschiedenen Strategien gespalten, wie sie ihre hegemoniale Rolle gegen China verteidigen und andere Rival:innen – inklusive verbündete – in einer untergeordneten Rolle halten kann. Das stand auch hinter der Konfrontation zwischen Harris und Trump. Wir können diesen Prozess in faktisch allen imperialistischen Staaten beobachten – so auch in Europa, wo dieser mit einem Erosions- und Zersplitterungsprozess der tradierten Parteien der herrschenden Klasse und der „politischen Mitte“ verbunden ist.
In faktisch allen wichtigen Ländern nimmt dieser innere Konflikt auch die Form der Entstehung populistischer Bewegungen und Parteien an, die sich als „Anti-Establishment“ präsentieren und hinter sich eine Massenbasis aus verschiedenen Klassen – von einem Teil der Bourgeoisie, dem Kleinbürger:innentum und den Mittelschichten sowie aus der Arbeiter:innenklasse – zu einer „Volksbewegung“ zusammenfassen, die eine „neue“ Ordnung verspricht. Diese demagogische, reaktionäre und oft auch rein verlogene Inszenierung zielt im Grunde auf eine Neuetablierung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und sie geht immer mit einer starken Betonung von Rassismus und Nationalismus einher.
Die Herrschaft in China, Russland und anderen despotisch regierten Ländern scheint verglichen mit den inneren Konflikten der Bourgeoisien und der Erosion ihrer Parteien stabil. Dies spiegelt jedoch auch nur deren Oberfläche wider, unter der sich – wie z. B. der nicht so lange vergangene sog. Wagner-Putsch unter Prigoschin exemplarisch verdeutlichte – durchaus beachtliche Konfliktpotentiale zeigen.
Die Krise erschüttert nachhaltig die Lage des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten. Diese geraten – z. B. während der Pandemie – in vielen Ländern tatsächlich unter die Räder oder fühlen sich vom sozialen Abstieg bedroht. Unter relativ stabilen gesellschaftlichen Bedingungen stellen sie eine Stütze demokratischer Herrschaftsformen und des bürgerlichen Systems dar.
Auch wenn heute diese meisten dieser Kräfte einen populistischen und noch keinen direkt faschistischen Charakter annehmen, so speist sich ihr Wachstum aus der Tatsache, dass ihre gesellschaftliche Stellung massiv unterminiert wurde und diese auch nicht wiederhergestellt werden kann. Daher resultiert auch die Tendenz zum Irrationalismus als gesellschaftlichem Phänomen. Ihre reaktionäre, utopische Zielsetzung – der unmöglichen Wiederherstellung eines imaginierten goldenen Zeitalters der „Mitte“, der „normalen Menschen“ – verlangt danach als ideologischem Kitt.
Unter Bedingungen krisenhafter Erschütterungen mutieren die kleinbürgerlichen und Mittelschichten selbst zu einer Basis für die Polarisierung nach rechts, in Ausnahmenfällen auch nach links. Das setzt aber progressive Bewegungen und vor allem eine aktive, als gesellschaftliche Kraft fungierende Arbeiter:innenklasse voraus.
Die Lohnabhängigen werden wir weiter unten betrachten. Hier nur so viel: Die Krise führt auch zu Widerstand, Erschütterungen, tw. enormen Klassenkämpfen und Mobilisierungen.
Zugleich erweist sich, dass die Organisationen und Führungen der Arbeiter:innenklasse auf die politischen Herausforderungen der aktuellen Periode nicht nur schlecht vorbereitet sind. Sie bilden ein aktives Hindernis, weil sei im Grunde die überkommenen, tradierten Formen der Klassenkollaboration verteidigen oder wiederherstellen wollen, was sie unwillkürlich zu einem Bündnis mit der „demokratischen“ oder „nationalen“ Bourgeoisie treibt.
Zugleich erleichtert das rechten populistischen Kräften, sich demagogisch als einzige Oppositionskraft zu präsentieren. Bevor wir die Arbeiter:innenklasse noch genauer betrachten, wenden uns einem anderen, mit der Krise der bürgerlichen Herrschaft und der inneren Umgruppierung im bürgerlichen und kleinbürgerlichen Lager eng verbundenen Kennzeichen der aktuellen Lage zu.
Während die „demokratische“, imperialistische Bourgeoisie die globalen Konfrontationen gern als eine zwischen „Demokratie“ und „Autoritarismus“ präsentiert, stellt die Tendenz zum Autoritarismus, zu Angriffen auf demokratische Rechte und zur Stärkung bonapartistischer Herrschaftsformen ein allgemeines Merkmal der aktuellen Lage dar, auch in den Ländern, die sich als Verteidiger der „Demokratie“ präsentieren.
Diese innere Tendenz folgt aus der Krise der Demokratie selbst, ihrer schrumpfenden sozialen Basis. Sie folgt auch aus der innerimperialistischen Konfrontation und der Tendenz zu Kriegen, die selbst eine autoritärere Herrschaftsform erfordern und Militarismus, Rassismus, Nationalismus als Rechtfertigungsideologien.
Die Krise der Demokratie und der Angriff auf demokratische Rechte stellen zugleich eine Reaktion auf soziale Massenbewegungen, Klassenkämpfe oder Kämpfe um demokratische und nationale Rechte dar. Anders gesagt: Kämpfe um demokratische Forderungen wie die gegen Diktatur, Abschaffung demokratischer Errungenschaften und für die Verteidigung des nationalen Selbstbestimmungsrechts geraten selbst zu zentralen gesellschaftlichen, innerstaatlichen und internationalen Konfliktfeldern in der gegenwärtigen Periode.
Als Revolutionär:innen müssen wir diesen daher besondere Aufmerksamkeit schenken und die Arbeiter:innenklasse muss diese als Vorkämpferin aufgreifen. Zugleich braucht es eine klare Abgrenzung von jeder illusorischen Idealisierung der bürgerlichen Demokratie, von jedem Nationalismus (auch der Unterdrückten) oder anderen bürgerlichen Ideologien.
Denn wir erleben nicht nur einseitig eine Tendenz zu Autoritarismus und Bonapartismus. Zugleich erscheinen auch das Bündnis der Demokrat:innen, die Volksfront und die Klassenkollaboration auf dem Boden der Demokratie als einzige Alternativen. In Wirklichkeit verkörpern diese nur Scheinalternativen.
Die Veränderungen des globalen Kapitalismus haben schon seit Jahrzehnten, also lange vor der aktuellen Krise zu einer massiven Veränderung der internationalen Arbeiter:innenklasse geführt, deren Organisationen auch erschüttert, wie wir ausführlich im Revolutionären Marxismus 47 und später 55 analysiert haben.
Wir wollen hier nur einige zentrale Phänomene anführen: Verlagerung der industriellen Arbeiter:innenklasse; Vertiefung der globalen Unterschiede innerhalb der Klasse;
Anwachsen der unteren Schichten des Proletariats; die zunehmende Bedeutung der Migration für die Zusammensetzung der Arbeiter:innenklasse; das Schrumpfen der alten und die Entstehung einer neuen Arbeiter:innenaristokratie; die Restrukturierung des Produktionsprozesses; die Krise der Reproduktionssphäre, wie wir sie täglich erleben.
Die Führungen der Arbeiter:innenklasse reagieren darauf im Grunde konservativ und anpasslerisch. Sie hoffen, die Entwicklung sozial auszugestalten, Bestände von Sozialpartner:innenschaft und Korporatismus zu verteidigen. Oder sie versuchen, wie zu Beginn des Jahrtausends Blair und Schröder, den Neoliberalismus humanitär zu gestalten, neoliberalism with a human face gewissermaßen. Wie Corbyn oder die NFP in Frankreich zeigen, bedeutet das keinesfalls, dass der Reformismus oder auch Linkspopulismus nicht vorübergehend neue Hoffnungen und Illusionen generieren können.
Aber das Problem des Linksreformismus wie der reformistischen Strategie überhaupt besteht darin, dass, obwohl in der gegenwärtigen Periode natürlich auch Reformen erkämpft werden können, die Etablierung eines dauerhaften, stabilen sozialstaatlichen Kapitalismus aufgrund der Überakkumulationskrise und der globalen Konkurrenz unmöglich ist. Im Gegenteil. Jede größere Reform wird ihrerseits mit einem massiven Gegenschlag der herrschenden Klasse rechnen müssen.
Politisch bedeutet dies – selbst bei kämpferischeren Formen wie Organizing – ein Festhalten an Klassenzusammenarbeit und Sozialpartner:innenschaft, bestenfalls eine militantere Form des Syndikalismus; auf politischer Ebene bestenfalls bürgerliche Arbeiter:innenregierungen, wobei die Reformist:innen letztlich Bündnisse mit bürgerlichen Kräften und die Volksfront bevorzugen. Diese Flaute des Reformismus geht mit einem Niedergang gewerkschaftlicher Organisierung und einer Krise der Gewerkschaften selbst einher.
Sie bedeutet keineswegs, dass es notwendigerweise weniger Klassenkämpfe gibt – aber viele werden nicht nur ausverkauft, oft stellen kleinbürgerliche Kräfte auch deren politische Führung. Das heißt, die Führungskrise des Proletariats nimmt in vielen Ländern auch die Form an, dass kleinbürgerliche Kräfte und Ideologien ganze Bewegungen, v. a. unter der Jugend, prägen und dominieren.
Das heißt, die Kluft zwischen der Krisenhaftigkeit der Verhältnisse, der objektiven (Über-)Reife für eine sozialistische Revolution und der Tiefe der Führungskrise der Arbeiter:innenklasse hat eine historisch extreme Form angenommen.
Trotz globalen Rechtsrucks und als Antwort auf die Krise gibt es auch wichtige Massen- und Befreiungskämpfe:
Diese werden wir auch in den kommenden Jahren trotz Krise der proletarischen Führung erleben. In diesen treten auch neue Avantgardeschichten immer wieder hervor, tw. werden auch „alte“ wieder aktiver. Aber die Krise der Führung ergreift auch diese Kämpfe und enthält ein politisch-ideologisches Element, das bewusst angegangen werden muss, wenn wir ihrer Lösung näherkommen wollen.
Der Reformismus stützt sich selbst auf eine spezifische Form bürgerlicher Ideologie, eine Mischung aus mechanischem Materialismus und Empirismus. Seine Krise und das Fehlen einer revolutionären Massenalternative gehen mit einem ideologischen Vormarsch von Identitätspolitik einer- und/oder subjektivem Idealismus und Postmodernismus andererseits einher, die sich als pseudoradikale Kritik an der Arbeiter:innen- als Klassenbewegung und am Marxismus als politischer Theorie dieser Klasse präsentieren.
Revolutionäre Klassenpolitik muss daher eine Antwort auf allen Ebenen des Klassenkampfes liefern, der ökonomischen, politischen wie theoretischen/ideologischen. Die Führungskrise kann dabei offenkundig nicht durch Selbstproklamation gelöst werden, also die kindische Vorstellung, dass eine der bestehenden Organisationen mit revolutionärem Anspruch nur noch aus sich allein heraus wachsen müsse.
Im Grunde stellen die heutigen „revolutionären“ Gruppierungen keine Parteien, sondern Organisationen dar, die eine solche aufbauen wollen. Um aus dem Stadium einer (kämpfenden) Propagandagruppe herauszukommen und zu einer revolutionären Partei und Internationale zu werden, braucht es auch Taktiken.
So die Arbeiter:innenparteitaktik in Ländern, wo es noch nicht einmal eine reformistische Massenpartei und wo es eine Tendenz von Teilen der Klasse in diese Richtung gibt; Entrismus in eine größere, nach links gehende oder krisengeschüttelte reformistische oder zentristische Organisation; Umgruppierung von Kräften, die sich programmatisch aufeinander zubewegen, auf Basis prinzipienfester programmatischer Übereinstimmung, insbesondere zu den politischen Schlüsselfragen der aktuellen Periode.
Eine solche Politik erfordert ein korrektes Verständnis der aktuellen Lage und verschiedenen Erscheinungsformen der Krise. Ein fehlerhaftes, eklektisches führt nämlich auch zu einer falschen Antwort auf die Frage nach dem Subjekt für revolutionäre Veränderungen. So ist z. B. das für eine grundlegende Lösung der ökologischen Frage nicht, wie es vordergründig erscheint, die ökologische Bewegung, sondern die Arbeiter:innenklasse! Damit letztere es auch wirklich werden, sie ihren historischen Beruf als Befreierin der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung ausüben kann, muss sie freilich von einer Klasse an sich zu einer für sich werden.
Das bloße Zusammenführen von Bewegungen ersetzt nicht Programm, Strategie, Taktik und löst schon gar nicht die Frage, wer das System überhaupt stürzen kann. Der Aufbau einer revolutionären Organisation und der Kampf für eine neue revolutionäre Partei und Internationale bilden daher die Schlüsselaufgabe der aktuellen Periode. Das umfasst den Kampf für ein revolutionäres Programm, das folgende Schlüsselelemente enthalten muss:
Krise und Wandel der Arbeiter:innenklasse, in: Revolutionärer Marxismus 55