Arbeiter:innenmacht

Südafrika: Nachruf auf Desmond Tutu (1931 – 2021)

Elke Wetzig (Elya), CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

Jeremy Dewar, Infomail 1174, 30. Dezember 2021

Der Antiapartheidaktivist und Befreiungstheologe Desmond Tutu ist am zweiten Weihnachtsfeiertag im Alter von 90 Jahren nach einem langen Kampf gegen den Krebs gestorben.

Tutu ist vor allem für sein aktives Engagement im Kampf gegen die südafrikanische Apartheid bekannt, deren Sturz eine der großen historischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts darstellte. Er nutzte seine Ämter zunächst als Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates und später als erster schwarzer anglikanischer Erzbischof von Kapstadt (daher sein Spitzname „The Arch“), um den gewaltfreien Widerstand gegen die Apartheid zu fördern.

Liberale Antiapartheidbewegung

In der Praxis bedeutete dies, dass Tutu zwar Miet- und Schulstreiks in den Townships unterstützte und sogar zu einem Generalstreik aufrief, sich aber auch gegen Umkhonto we Sizwe (Xhosa: Der Speer der Nation), den militärischen Flügel der Afrikanischen Nationalkongress-Partei ANC, und gegen Repressalien seitens der Bewegung gegen KollaborateurInnen („necklacing“) wandte. Dies machte ihn zu einer idealen Symbolfigur für die liberale Antiapartheidbewegung, die von seinem Freund und frühen Mentor Trevor Huddleston initiiert wurde. Er war jedoch ein mutiger und freimütiger Verfechter des Kampfes gegen den Staat der abstoßenden, weißen Vorherrschaft und brandmarkte auch dessen politisch-ideologischen Zwilling – den zionistischen Siedlerstaat Israel. Während seine eigene Kirche und die meisten Labour-, sozialdemokratischen und liberalen PolitikerInnen wie Feiglinge davor zurückschreckten, ihn zu verurteilen, tat Tutu das nicht.

Seine Unterstützung der Kampagne für Boykott, Vielfalt und Sanktionen (BDS) war wahrscheinlich sein größter Beitrag zum Sturz der Apartheid. Sie trug dazu bei, moralische Sympathie in aktive Unterstützung umzuwandeln und das zunehmend isolierte Regime dort zu treffen, wo es weh tut – in den Taschen.

Tutu nutzte sein Privileg als Erzbischof in vollem Umfang, um die Welt zu bereisen und für BDS zu werben, 1984 den Friedensnobelpreis zu erhalten und ein Jahr später vor den Vereinten Nationen zu sprechen. Noch wichtiger als dies war Tutus Fähigkeit, der Macht die Wahrheit zu sagen und damit die jungen Reihen der Antiapartheidallianz zu ermutigen und zu erweitern, etwa als er Präsident Reagan sagte: „Amerika kann zur Hölle fahren!“ Und das von einem Mann der Geistlichkeit.

Die Grenzen seiner widersprüchlichen Position – für die Befreiung, aber gegen die Mittel zu ihrer Verwirklichung – wurden deutlich, als er Senator Ted Kennedy auf eine Tour durch die Townships mitnahm und das Treffen von AktivistInnen gestört wurde, die sich über die Unterstützung eines US-imperialistischen Politikers empörten.

Seine Achillesferse war sein kleinbürgerlicher Pazifismus, denn er schloss den totalen Sieg der einen oder anderen Seite aus. Als die revolutionären Kräfte 1984 – 86 ihre Offensive gegen das System starteten, war es Tutu, der sich als erster als Vermittler anbot. Obwohl er zunächst von Präsident Pieter Willem (PW) Botha abgewiesen wurde, fand Tutus Kampagne für Versöhnung, d. h. christliche Vergebung, 10 Jahre später bei Südafrikas erstem schwarzen Präsidenten Nelson Mandela Anklang.

Wahrheits- und Versöhnungskommission

Tutu führte von 1996 bis 1998 den Vorsitz der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC). Die TRC, die vom regierenden ANC handverlesen wurde, obwohl ihr auch einige AnhängerInnen der Apartheid angehörten, erhielt die Befugnis, Zeugenaussagen von Opfern (beider Seiten!) anzuhören, Wiedergutmachung zu leisten und entweder Rehabilitierung oder Amnestie (für diejenigen, die „Reue“ zeigten) zu gewähren. Die Betonung auf Vergebung und nicht auf Gerechtigkeit wurde dadurch unterstrichen, dass Tutu vor jeder Sitzung ein Gebet verlas.

Obwohl 22.000 Opfer der Apartheid identifiziert und angehört wurden, stieß die Weigerung, zwischen der Gewalt des/r UnterdrückerIn und der der Unterdrückten, die das Recht hatten, sich dagegen in Stellung zu bringen, zu unterscheiden, vielen sauer auf – ebenso wie die „Vergebung“ von 849 TäterInnen, die über die Köpfe der Unterdrückten hinweg amnestiert wurden.

Am schlimmsten war, dass die TRC es versäumte, kollektive Forderungen gegen das Apartheidsystem als Ganzes anzusprechen, indem sie sich mit denjenigen befasste, die ganz oben in der Pyramide standen.

Der ehemalige Präsident Frederik Willem (FW) de Klerk, dem es nicht gelungen war, die Kommission von vornherein zum Scheitern zu bringen, weigerte sich rundheraus, die Verantwortung seiner Regierung für die von seinen Sicherheitskräften begangenen Verbrechen anzuerkennen. De Klerks Vorgänger PW Botha weigerte sich sogar, vor der Sitzung Kommission zu erscheinen, und bezeichnete sie als „Zirkus“. Tutu konnte nichts tun, um die beiden zu weiteren Schritten zu zwingen oder sie vor Gericht zu stellen. Die Familie von Steve Biko, des 1977 ermordeten Führers der Schulstreiks von Soweto, war eine von vielen, die sich durch Tutus TRC einer wirklichen Gerechtigkeit beraubt fühlten.

Später setzte Tutu mutig Israels Behandlung der PalästinenserInnen mit der der schwarzen Bevölkerung Südafrikas gleich und unterstützte die BDS-Kampagne der PalästinenserInnen mit den Worten:

„Ich war in den besetzten palästinensischen Gebieten und habe die nach Rassen getrennten Straßen und Wohnungen gesehen, die mich so sehr an die Bedingungen erinnerten, die wir in Südafrika unter dem rassistischen System der Apartheid erlebt haben“.

Wegen solcher Äußerungen bezeichnete ein Blogger der Zeitschrift Times of Israel Tutu noch vor seiner Beerdigung als „heimtückischen Antisemiten“ und wiederholte damit die Beschimpfungen, die die ApologetInnen der Apartheid in den 1980er Jahren gegen den „Arch“ ausstießen.

Einige Linke sind versucht, Tutus Rolle in der TRC als einen Ausrutscher in seinem sonstigen  Leben für die Befreiung zu betrachten, zumal er sich später, zusätzlich zu seiner bereits erwähnten unerschütterlichen Unterstützung für die Sache der PalästinenserInnen, für LGBT-Rechte, das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch und für die gemiedenen und ausgeschlossenen AIDS-Opfer einsetzte. Er scheute sich auch nicht, die Korruption des ANC und die Nichteinhaltung von Versprechen an die schwarzen Armen und die ArbeiterInnenklasse anzuprangern. Er forderte auch, dass Tony Blair und George W. Bush als Kriegsverbrecher nach Den Haag geschickt werden sollten (Irak), und weigerte sich einmal, mit ersterem ein Podium zu teilen.

Aber die TRC war entscheidend für die demokratische Konterrevolution, die der ANC durchführte. Die Kommission lieferte den ideologischen Deckmantel für die „Versöhnung“, die die ANC-Führung unter der Leitung von Nelson Mandela dem weißen Monopolkapital anbot. Der Nationalen Partei, die jahrzehntelang über die Apartheid regiert hatte, wurden MinisterInnen in einer Koalitionsregierung und die Leitung der Zentralbank angeboten, obwohl sie bei den ersten, allumfassenden Wahlen 1994 nur 20 Prozent der Stimmen erhalten hatte, ein Drittel des vom ANC erzielten Anteils. Die Freiheitscharta und insbesondere die Paragraphen, die eine Verstaatlichung forderten, wurden zugunsten einer „Verfallsklausel“ verworfen, die die Rechte des (weißen) Privateigentums garantierte.

Tutu war nie Mitglied des ANC . Er verbot anglikanischen Geistlichen den Beitritt zu irgendeiner politischen Partei, arbeitete aber eng mit dem legalen Arm des ANC, der Vereinigten Demokratischen Front, und, als dieser frei war, mit Mandela zusammen. Trotz seiner tiefen Abneigung gegen die stalinistische SACP leitete Tutu die Beerdigung ihres Generalsekretärs Chris Hani, der 1993 von einem weißen Rassisten ermordet wurde. Zu diesem Zeitpunkt stand die SACP jedoch bereits an der Spitze der Bestrebungen für eine Volksfrontregierung und eine kapitalistische „Etappe“ der Revolution, d. h. eine demokratische Konterrevolution.

Viele in der Linken waren der Meinung, dass dies nur eine vorübergehende Phase sein würde, und rieten zur Unterstützung des ANC. Workers Power und die Vorgängerorganisation der Liga für die Fünfte Internationale gehörten nicht zu ihnen. Tragischerweise haben wir Recht behalten, und Millionen von schwarzen SüdafrikanerInnen, landlosen Bauern und Bäuerinnen, ArbeiterInnen und arbeitslosen Jugendlichen, müssen mit dem Erbe leben.

Tutus aufrichtige Sympathie für die Unterdrückten bedeutete jedoch, dass er auch der neuen schwarzen Elite, etwa Jacob Zuma, dem abgesetzten südafrikanischen Präsidenten, „die Wahrheit sagte“ und offen darüber sprach, wie wenig die Armen und Ausgebeuteten von den Früchten der Befreiung erhalten hatten – im krassen Gegensatz zu MillionärInnen wie dem jetzigen Präsidenten Cyril Ramaphosa. Er war jedoch nicht bereit, das Recht und die Notwendigkeit der Ausgebeuteten und Unterdrückten anzuerkennen, „mit allen Mitteln“ um die Macht zu kämpfen.

Während wir also Tutus Beiträge zum Kampf und seinen Mut anerkennen, solidarisieren wir uns politisch mit denen, die heute für ein sozialistisches Südafrika kämpfen.

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