Jan Hektik, Infomail 1174, 31. Dezember 2021
„2021 in a nutshell: Gorillas“ – mit dieser Werbung trat der Lieferdienst Gorillas vor ungefähr einem Jahr erstmals auf. Für viele Beschäftigte könnte daran sogar etwas dran sein, denn für sie heißt Gorillas in a nutshell: Ausbeutung, Schikane, Kündigung, Arbeitsrecht-mit-den-Füßen-treten. Seit Monaten kämpfen sie gegen das Unternehmen um grundlegende Arbeitsrechte und eine Betriebsratsgründung.
Wer ist eigentlich Gorillas? Es ist ein so genanntes „Start-up“-Unternehmen aus Berlin, welches als Geschäftsmodell in Zeiten der Pandemie die kostengünstige und schnelle Auslieferung von (vor allem) Lebensmitteln per Fahrrad betreibt. Wie bei anderen Unternehmen dieser Art auch (z. B. Flink) ist es hierbei wichtig, sehr schnell liefern zu können und dabei möglichst nicht wesentlich teurer zu sein als der Gang zum Supermarkt, quasi das Amazon-Geschäftsmodell für Lebensmittel. Doch wer in der Schule mal den Sozialkundeunterricht besucht hat und zudem Addition und Subtraktion beherrscht, weiß, dass die Einnahmen aus den Verkäufen, neben den Anschaffungskosten von Rädern, dem Bezahlen von Mieten und den Löhnen der ArbeiterInnen auch noch Gewinne für den/die UnternehmerIn abwerfen sollen. Da wundert es nicht, dass die FahrerInnen (Rider) Mindestlohn erhalten, eher, dass sie ihn überhaupt bekommen.
Es ist eine Mischung aus Tricksereien arbeitsrechtlicher Grauzonen, halblegalen oder ganz illegalen Arbeitszeitbemessungs-, Kündigungspraktiken und Befristungen sowie quasi keinen Ausgaben für die Ausrüstung. Das Ergebnis dessen ist, dass die ArbeiterInnen neben miesen Lohnbedingungen zusätzlich enormem Zeitdruck und verheerenden Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind, während sie gleichzeitig jeden Monat nachrechnen müssen, ob sie nicht um ihre Arbeitszeit beschissen werden.
Wer innerhalb von 15 Minuten mit einem Fahrrad Einkäufe ausliefern soll, muss sich schnell im Straßenverkehr bewegen. Jede Person, die in deutschen Großstädten schon mal so unterwegs war, weiß, dass das schon nicht ungefährlich ist, wenn man Zeit hat. Aber wenn einem/r unter Zeitdruck und mit übermäßigem Gepäck beladen der Lenker oder der Sattel mitten auf der Kreuzung abfällt, ist die Grenze zum Wahnsinn erreicht. Genau das berichten aber vermehrt Rider und zwar auch, nachdem sie explizit auf solche Defekte hingewiesen haben. Das ist auch gewissermaßen vorhersehbar. Schließlich ergibt die Lösung oben beschriebener Subtraktionsaufgabe, dass es weder häufige Wartung noch neue Räder geben kann, wenn man noch Gewinn einfahren will. Interessant hierbei ist auch, dass viele der Rider migrantisch sind und teilweise kein oder sehr schlecht Deutsch sprechen. Böse Zungen könnten gar behaupten, hier werde versucht, mangelnde Kenntnisse über Regeln des deutschen Arbeitsrechts und Möglichkeiten der Vernetzung auszunutzen.
Ganz nebenbei räumt hier die Wirklichkeit mit dem Klischee der lieben netten Start-ups und Kleinbetriebe auf, in denen die ArbeiterInnen und der/die UnternehmerIn ein Teil derselben Familie seien und die Klassengegensätze wohlwollend aufgelöst würden. Aber wie in der Familie ist die schöne idyllische Fassade oft nur dazu da, die Misshandlungen und Schindereien dahinter zu verbergen.
Wie es in Start-ups und in prekären Verhältnissen üblich ist, ist die gewerkschaftliche Organisierung quasi gleich null. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass der Betrieb neu und es auch unwahrscheinlich ist, dass Menschen, die scheinbar noch nicht lange genug im deutschen Arbeitsleben stehen, um die Sprache zu sprechen, eine gewerkschaftliche Organisierung aufweisen. Andererseits ist das auch eine Folge der Ausrichtung der Gewerkschaften auf die sogenannten Stammbelegschaften bzw. das Fernhalten von LeiharbeiterInnen und sonstig prekär Beschäftigten.
Auch wirkt die zurückhaltende und bürokratische Gewerkschaftslandschaft insbesondere auf prekär Beschäftigte nicht unbedingt reizvoll, da diese eigentlich auf kämpferische Gewerkschaften und Solidaritätsstreiks anderer für das Gesamtkapital schmerzhafterer Sektoren als LieferantInnen und TelefonistInnen angewiesen wären. Doch der Streik ist rechtlich nur geschützt, wenn er von einer Gewerkschaft ausgerufen wird und nicht gegen die Friedenspflicht verstößt. Davon abweichende Arbeitskämpfe stellen einen Kündigungsgrund dar.
Dass ursprünglich Streiks nicht nur mit Kündigung, sondern auch mit Polizeigewalt und Schlägertrupps bekämpft wurden und das Streikrecht nur ein Ergebnis des Kampfes und des Kräfteverhältnisses ist, haben hierzulande scheinbar allzu viele vergessen. Nicht so jedoch die Gorillasworkers. Eine Reihe von selbstorganisierten, sogenannten wilden Streiks und Besetzungen wurde mit Kündigungen beantwortet. Dagegen wurde geklagt und gekämpft, Kündigungen wurden zum Teil zurückgenommen. Gegen die anstehende Betriebsratswahl klagt das Start-up weiterhin und baut seine Strukturen um, um die Betriebsratsgründung zu vermeiden. Die Medien und die radikale Linke wurden aufmerksam. Letztere versuchte sich in Solidarität mit den Kämpfen.
Ein Blick auf die Zahlen zeigen aber auch, welche Schwierigkeiten noch vor den Beschäftigten und allen UnterstützerInnen liegen. An den Arbeitskämpfen beteiligten sich an vielen Standorten weniger als 10 % der FahrerInnen, die an den Betriebsratswahlen sieht nicht viel besser aus. Lediglich ein Berliner Store wurde fast vollständig bestreikt.
Angesichts der schwierigen Voraussetzung sollte das niemand kleinreden. Andererseits drücken sich natürlich auch die widrigeren Kampfbedingungen aus. Gerade hier muss ver.di dafür kritisiert werden, sich des Kampfs nicht anzunehmen, und stattdessen zum Beispiel mit seinen riesigen Ressourcen mehrsprachige Flugblätter und Betriebsinfos zu drucken und verteilen.
Zweitens wird bei Gorillas wie auch bei anderen Firmen mit prekären Arbeitsbedingungen, wo mitunter schon seit Jahren immer und immer wieder gegen miese Löhne und so weiter gekämpft wird – denkt an Amazon – deutlich, dass der Kampf gegen die Ausweitung des prekären Sektors eigenlich eine Antwort der ArbeiterInnenklasse insgesamt braucht. Es geht nicht nur darum, in einzelnen Betrieben zu kämpfen (was natürlich ein Ausangspunkt sein kann), sondern dass Gewerkschaften und reformistische Parteien dazu getrieben werden müssen, auf gesetzlicher Ebene für deutlich höhere Mindestlöhne; massive Strafen für Unternehmen, die Unionbusting betreiben und Betriebsratswahlen verhindern; eindeutige Arbeitszeitregelungen von einer 30-h-Woche usw. einzustehen.
Uns ist klar, dass die ChefInnen von ver.di und der DGB sich davor drücken, diesen Kampf zu führen. Umso mehr beweist er, dass es nicht einfach nur darum geht, ver.di mehr ins Boot zu holen, sondern auch, die Gewerkschaften basisdemokratisch zu reorganisieren, um es nicht der Führung zu überlasssen, auf welche privilegierten Schichten der ArbeiterInnenklasse sich gestützt wird – und auf welche armen und überausgebeuteten nicht. Das Prekariat organisieren heißt, für klassenkämpferische Opposition in ver.di und Co. einzutreten – und sie selbst aufzubauen. Denn das ist die Bilanz von 2021 und Gorillas in a nutshell.