Christian Gebhardt, Infomail 1170, 24. November 2021
3G, 2G, 2G+, 1G. Was sich liest wie eine Reise in die Geschichte der mobilen Telekommunikation, ist der neuste Schrei in der Pandemiebekämpfung. In Deutschland sowie anderen europäischen Ländern nimmt die vierte Welle weiterhin Fahrt auf oder ist schon längst mit voller Wucht am Wüten. In der BRD steht das Gesundheitssystem im Osten und Süden des Landes kurz vor dem Kollaps und in restlichen Teilen steigen die Zahlen kontinuierlich an.
Wie schon im Winter 2020 bemühen sich die PolitikerInnen hervorzuheben, wie überrascht sie von der Situation sind und dass es doch niemand hätte besser wissen können. Wir müssen nun zusammenstehen. Mit Fingern aufeinander zeigen, würde nun niemanden weiterbringen. Also ganz gemäß dem Motto: „Same procedure as last year!”. Alles andere als Schaumschlägerei und Ausreden sind diese Aussagen jedoch nicht.
In Deutschland war es schon über Wochen klar, dass die Welle an Fahrt aufnehmen wird und die Aufhebungen von Maßnahmen wie z. B. der Maskenpflicht für SchülerInnen in Schulen nach den Herbstferien nur Öl ins Feuer schütten bedeuten konnten. Diesen Öffnungsschritten lagen einerseits der Bundestagswahlkampf, wirtschaftliches Interesse des Groß- und Kleinkapitals, aber auch die Angst vor einem erneuten Erstarken und Zuwachs der Querdenkerbewegung zugrunde.
Kurz gesagt: Politisches und wirtschaftliches Kalkül steht hier klar über notwendigen Maßnahmen für die Gesundheit der Bevölkerung und spielt schlussendlich den Rechten in die Hände.
Ein Déjà-vu-Erlebnis! Wir stehen vor den Scherbenhaufen einer Politik, die Profitinteressen über Gesundheit stellt, darauf spekulierte, dass die Impfung einer Mehrheit und die „schrittweise“ Durchseuchung einer Minderheit Ungeimpfter die Infektionsausbreitung unter der Schwelle des Kollapses des Gesundheitswesens halten würde. Nun breitet sich das Virus aus wie nie zuvor. In der letzten Woche infizierten sich täglich um 50 000 Menschen oder mehr, täglich sterben mehr als 200 in Deutschland.
Seit Beginn der Pandemie können wir unterschiedliche Strategien ihrer Bekämpfung unterscheiden. Neben der hier in Deutschland angewandten des „Abflachens der Kurve“ stehen noch „Zero-Covid“ sowie „Durchseuchung“ im Fokus der Debatten.
Die Strategien der „Durchseuchung“ sowie des „Abflachens der Kurve“ erfolgen unter der grundsätzlichen Annahme, dass Coronainfektionen nicht verhindert werden können und wir damit umzugehen lernen, d. h. einen Maßnahmenkatalog finden müssen, der nur so viele Coronainfektionen zulässt, wie es das Gesundheitssystem aushält, ohne unnötig die Wirtschaft zu belasten. Alles, was darüber liegt – einschließlich Tausender Menschen, die nicht hätten sterben müssen –, ist in diesen Konzepten einkalkuliert.
Hierbei spielen auch die Schulen und Kitas eine wichtige Rolle. Schulschließungen betreffen schließlich nicht nur Lehrende, Kinder und Jugendliche, sondern haben auch einen gravierenden Einfluss auf die Verfügbarkeit der Arbeitskraft der Eltern im bisherigen Verlauf der Pandemie ausgeübt. Dies führt bei der derzeitigen Pandemiebekämpfung dazu, dass Schul- und Kitaschließungen von allen politischen Kräften im Bundestag abgelehnt werden. Dies wird gerne damit begründet, dass die psychische und physische Belastung durch langanhaltende Schulschließungen sowie das Auseinanderklaffen der sozialen Schere zugenommen haben.
Verschwiegen wird dabei aber, dass dies eine Änderung der Strategie mit Hinblick auf die Schulen bedeutet: diese nämlich zu durchseuchen. Die aktuellen Inzidenzzahlen sprechen hier auch eine eindeutige Sprache. Beobachtet man die Zahlen in den einzelnen Landkreisen nach Altersgruppen gestaffelt, fällt ohne weiteres sofort auf, dass die zwischen 5 – 14 Jahren die derzeit am stärksten von Infektionen heimgesuchte der Gesellschaft darstellt. Auch wenn dies weiterhin (noch) nicht zu einer Kulmination schwerer Krankheitsverläufe bei Menschen dieser Altersgruppe geführt hat, ist noch sehr wenig über die möglichen Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung und „Long Covid“ bekannt. SchülerInnen und Kitakinder werden somit bewusst einer Coronainfektion ausgesetzt, um die wirtschaftlichen Prozesse am Laufen zu halten. Dabei wird wissentlich in Kauf genommen, dass die Auswirkungen von „Long Covid“-Erkrankungen von derzeit jungen SchülerInnen und Kitakindern in 20 – 30 Jahren erhebliche Auswirkungen auf unsere Gesellschaft mit sich bringen können. Aber das dahinterliegende Interesse ist schnell geklärt: Die KapitalistInnen haben derzeit mehr damit zu tun, um ihr wirtschaftliches Überleben im rauen internationalen Konkurrenzkampf zu behaupten, als Rücksicht auf die Gesundheit irgendwelcher potenzieller Angestellter in 20 – 30 Jahren zu nehmen.
Derzeit wird immer noch von einer „Pandemie“ gesprochen und die Hoffnung aufrechterhalten, dass es eine Zeit nach Corona geben wird bzw. ein Weg zu den „guten alten Zeiten“ gefunden werden kann. Dies ist aber nicht nur ein Wort, an das sich alle gewöhnt haben und das deshalb noch weite Verwendung findet. Der Fokus auf das Wort „Pandemie“ lenkt auch von der Frage ab, ob das Coronavirus überhaupt noch pandemisches Virus, oder nicht schon ein endemisch (einheimisch) gewordenes ist. Je nach Einschätzung in dieser Frage lassen sich auch unterschiedliche Maßnahmen und Umgangsformen mit dem Virus ableiten, wie z. B. mit dem Impfen. Ein pandemisches Virus kann durch eine breit aufgestellte Impfpflicht aus einer Gesellschaft gedrängt werden. Bei einem endemischen Virus ist dies nicht mehr möglich und eine immer wiederkehrende Impfung in regelmäßigen Abständen mit angepassten Impfstoffen wird notwendig. Ob wir uns in Bezug auf das Coronavirus schon in einer endemischen oder noch einer pandemischen Lage befinden, ist noch umstritten. Dass wir aber auf dem Weg dahin sind, ist jedoch sicher. Auch die WHO spricht jetzt schon davon, dass wir das Coronavirus nicht mehr loswerden, d. h. Es endemisch ist bzw. werden wird.
Solche endemischen, immer wiederkehrende Viren sind der Menschheit aber nicht fremd: z. B. das jährliche Grippevirus. Dieses verändert bzw. mutiert im Laufe eines Kalenderjahres bei seinem „Gang“ über den Globus so stark, dass es jährlich in einer neuen Form eine erneute Grippewelle auslösen kann. Es werden durch ganzjährige Beobachtungen die Veränderungen des Virus durch extra dafür eingerichtete Forschungszentren verfolgt, um dann den passenden Impfstoff für die kommende virulenten Mutanten herstellen zu können. Eine Klassifizierung des Coronavirus als endemisch würde eine solche ganzjährige Beobachtung sowie eine zeitlich abgestimmte Anpassung der benötigten Impfstoffvarianten sowie deren Produktion bedeuten. Ein solches System aufzubauen, benötigt vor allem Geld, wovor sich aber die EntscheidungsträgerInnen derzeit wegducken und das Thema zur Seite schieben, indem weiterhin von einer Pandemie gesprochen wird.
Die obige Unterscheidung zwischen pandemischer und endemischer Lage hat auch mit einer derzeit stark geführten Debatte zu tun – der der Impfpflicht. Sie wird derzeit entweder in Form einer generellen Impfpflicht geführt oder in Verbindung mit bestimmten Berufsgruppen wie z. B. PflegerInnen, Kitaangestellten oder LehrerInnen. Stellt eine solche Diskussion jedoch ein Schattenboxen dar oder ist sie wirklich ein möglicher Weg aus der Coronakrise?
Österreich ging als erstes Land in der EU den Schritt und verkündete ab Februar 2022 eine allgemeine Impfpflicht. Die wurde gekoppelt mit der Verhängung eines Lockdowns für alle ab dem 22. November und keiner Differenzierung mehr zwischen Geimpften, Genesenen und Ungeimpften vor dem 12. Dezember 2021. Aber wer eine Impfpflicht ausspricht, muss diese auch durchsetzen können. Hier muss dann die Frage gestellt werden, ob ein solcher Beschluss überhaupt ausführbar ist: Sind überhaupt genügend Impfdosen vorhanden? Wie schnell soll das Impfen durchgezogen werden und gilt die Impfpflicht nur jetzt oder auch für notwendige Auffrischungen in absehbarer Zukunft?
Das Beispiel Kuba zeigt, wie eine gut organisierte Massenimpfkampagne in sehr kurzer Zeit fast die gesamte Bevölkerung erfassen kann. Trotz wirtschaftlichen Embargos und internationalen Drucks hat dieses Land es geschafft, einen eigenen Impfstoff herzustellen und diesen in der eigenen Bevölkerung mithilfe einer groß angelegten Massenimpfkampagne einzusetzen. Seit dem Impfstart am 16.09.2021 wurden bis Stand 18.11.2021 rund 89 % mindestens einmal und 76,6 % vollständig geimpft (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1203308/umfrage/impfstoffabdeckung-der-bevoelkerung-gegen-das-coronavirus-nach-laendern/). Bei einem Impfstoff mit einer Wirksamkeit von rund 90 % sprechen auch die Zahlen eine eindeutige Sprache für die kubanische Impfkampagne. Hatten sich in der Kalenderwoche des 16.09.2021 noch 56 165 Menschen auf Kuba angesteckt, fiel diese Zahl kontinuierlich auf nun 2 064 dieser Woche (Quelle: https://coronavirus.jhu.edu/map.html). Auch wenn diese Zahlen eventuell nicht den kompletten Infektionsverlauf auf Kuba abbilden, ist ihr Rückgang doch recht beeindruckend.
Dieser Impferfolg in nur drei Monaten war durch das seit langem auf Kuba eingeübte, planwirtschaftliche Impfsystem möglich: Die Impfung wird zentral von den Gesundheitsbehörden koordiniert, in den Barrios aber die Umsetzung den Massenorganisationen, insbesondere den Nachbarschaftskomitees (CDR) übertragen. Diese sorgen dafür, dass wirklich alle aus der Nachbarschaft an den zugeteilten Terminen in die Kollektivpraxen kommen. Ein klarer Beweis für die Überlegenheit eines kollektiven, planwirtschaftlichen Gesundheitssystem gegenüber der kapitalistischen Planlosigkeit!
Hier muss man verschiedene Situationen unterscheiden, in denen eine Impfpflicht festgeschrieben und auch durchgeführt wird. Es macht einen großen Unterschied für den Schutz der Wirksamkeit, ob sie und eine große Impfkampagne zu einer Hochzeit der Infektionslage durchgeführt werden oder nicht. Sind die Infektionszahlen in einem Land hoch, bedeutet dies auch eine hohe Virenlast in der Gesellschaft und somit ein erhöhtes Risiko, eine derzeit symptomfreie, infizierte Person zu impfen. In einem solchen Fall steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationsvarianten des Virus in diesen infizierten, aber nun geimpften Personen etabliert werden, die sich im Anschluss ausbreiten und den Impfstoff unwirksamer werden lassen. Daher macht es auch Sinn, eine groß angelegte, verpflichtende Impfkampagne durchzusetzen, wenn die Viruslast in einer Gesellschaft gering und damit auch die Infektionszahlen auf einem Minimum sind. Diese Chance wurde jedoch vertan, so dass es keine Alternative zur Forcierung des Impfens zum jetzigen Zeitpunkt gibt, selbst wenn deren Wirkungen erst in etlichen Monaten deutlich werden.
Damit wir auf eine geringe Viruslast nicht bis zum nächsten Sommer warten müssen und der Winter einer wie der letzte wird, benötigen wir jetzt einen klaren Lockdown, der nicht nur die Freizeiteinrichtungen und den privaten Konsum trifft, sondern auch gesellschaftlich nicht notwendige Produktion und Tätigkeiten für einige Wochen aussetzt.
Gekoppelt werden müsste das mit einer international angewandten Zero-Covid-Strategie. Dies bedeutet: die Schließung aller nicht lebensnotwendiger Betriebe sowie die Weiterbezahlung aller Beschäftigten, die wegen eines solchen notwendigen Lockdowns zuhause bleiben müssen. Ein solcher, auf die Wirtschaft ausgerichteter Lockdown würde auch mehr Raum geben, um Maßnahmen in Kitas und Schulen sowie im sozialen Bereich lockerer zu handhaben als in den vorherigen Lockdowns. Dies ist wichtig, um die verlorene Akzeptanz für die nun notwendigen Maßnahmen zurückzugewinnen.
Schließlich müsste er mit einem massiven sozialen Schutzschirm, finanziert durch eine massive Besteuerung der großen Kapitale und Vermögen, verbunden werden. D. h. unter anderem 100 % Lohnfortzahlung für alle, die nicht arbeiten gehen können; Verbot von Mietpreissteigerungen und Kündigungen von Wohnungen; Ausbau des Gesundheitswesens und Erhöhung der Einkommen um mindestens 500,- Euro/Monat für alle Pflegekräfte; Sicherung der Betreuung von Kindern, Jugendlichen sowie von Menschen mit Behinderung durch zusätzliche Kräfte.
Stellt man die Impfpflicht alleine ohne weitere, gekoppelte Maßnahmen in den Raum, ist sie sehr wohl ein Schattenboxen, das von den derzeitig notwendigen Maßnahmen und Diskussionen abzulenken versucht. Selbst wenn sie von der geschäftsführenden oder der neuen Bundesregierung sowie den jeweiligen Landesregierungen beschlossen und durchgesetzt werden würde, würde der Effekt dieser Maßnahme erst mittelfristig, in einigen Monaten sichtbar werden. So hat die Ankündigung der österreichischen Regierung, ab Februar eine Impfpflicht einzuführen, überhaupt keine Wirkung, soll vielmehr von der bisherigen Inaktivität und Verharmlosung der Gefahr sowie dem Zickzackkurs ablenken. Auch der Lockdown in Österreich ist letztlich darauf berechnet, das Infektionsgeschehen bis Mitte Dezember so weit in den Griff zu kriegen, dass dann wieder alles geöffnet ist, Weihnachten, Neujahrsfeiern und vor allem der Wintertourismus „gerettet“ werden können, also so weiter gewurschtelt werden kann wie bisher.
Wird eine Impfpflicht aber mit einem harten, solidarischen Wirtschaftslockdown und einer Kontrolle der Impfstoffproduktion und -verteilung durch die ArbeiterInnenklasse auf einer internationalen Ebene verbunden, würde sie durchaus Sinn ergeben. Deren Umsetzung müsste dabei von den Lohnabhängigen kontrolliert werden, so dass verhindert werden kann, dass sie von Unternehmen als Vorwand für Entlassungen und Kündigungen missbraucht wird.
Die aktuelle Zunahmen von hartnäckigen ImpfgegnerInnen, die Ausbreitung von letztlich irrationaler Ablehnung von Gesundheitsschutz und Impfung stellt dabei ein gesellschaftliches Hindernis dar, das natürlich nicht einfach durch Verbote überwunden werden kann. Zudem bereiten die bürgerliche, halbherzige und in sich widersprüchliche Coronapolitik und die Krise des Kapitalismus selbst den Nährboden, auf dem diese wachsen. Um diesen reaktionären Trend zu brechen, müssen wir natürlich mit den Menschen sprechen und zu überzeugen versuchen, die nicht aus tiefer reaktionärer Überzeugung, sondern aus Mangel an Aufklärung und damit verbundenen Ängsten Impfungen skeptisch gegenüber stehen. Aber es muss ihnen von Seiten der ArbeiterInnenbewegung auch deutlich gemacht werden, dass die Weigerung, sich und andere mit den vorhandenen Mitteln zu schützen, einen Akt der Entsolidarisierung gegenüber der Gesellschaft darstellt.
Eine zentrale Verantwortung für diese Misere kommt dabei den Gewerkschaften und den sozialdemokratischen und Linksparteien, also in Deutschland vor allem der SPD, aber auch der Linkspartei zu, die vorgeben, die Lohnabhängigen zu vertreten. Und dabei geht es nicht nur, ja nicht einmal vorrangig um Leute wie Wagenknecht, die die Gefahr verharmlosen und reaktionären Müll verbreiten. Entscheidend ist, dass SPD und Linkspartei seit Ausbruch der Pandemie wie auch die DGB-Gewerkschaften die Regierungspolitik mitbestimmt oder faktisch gestützt haben. Die Politik eines Bodo Ramelow und anderer Landesregierungen, an denen die Linkspartei beteiligt ist, unterscheidet sich nicht von denen der meisten anderen. Die Führungen der großen Industriegewerkschaften (IG Metall, IG BCE) und die Konzernbetriebsräte übten sich in SozialpartnerInnenschaft. GEW und Teile von ver.di äußerten zwar immer wieder Kritik an Bund und Ländern – aber viel zu zaghaft und ohne Mobilisierungsperspektive. Wenn wir in der ArbeiterInnenklasse etwas ändern wollen, müssen wir daher für einen Kurswechsel gerade in den Gewerkschaften und in den Betrieben kämpfen, so schwer es auch erscheinen mag.
Denn unmittelbar geht es darum, die Ausbreitung des Virus, das Sterben und den drohenden Zusammenbruch des Gesundheitswesens effektiv zu stoppen. Daher brauchen wir einen solidarischen Lockdown jetzt! Ansonsten droht, dass in den kommenden Wochen und Monaten weitere Tausende an Corona sterben und weitere Hunderttausende sich mit dem Virus infizieren.