Bruno Tesch, Neue International 269, November 2022
Die Sportart Fußball genießt einen hohen Aufmerksamkeitsgrad. Die vom 20. November bis 18. Dezember 2022 in Katar stattfindende Weltmeisterschaft männlicher Teilnehmer erhitzt nicht nur die Gemüter der milliardenfachen Fangemeinde, sondern sorgt sogar für politischen Gesprächsstoff.
Die Vita dieses Massenphänomens ist durchzogen von zahllosen sportlichen Höhepunkten, jedoch auch von den Niederungen der Gesellschaftsordnung, in der es entstanden ist. Die Bandbreite der hässlichen Begleiterscheinungen erstreckt sich von Homophobie, Frauenunterdrückung (z. B. Verbot weiblicher Fußballvereine seitens des DFB von 1955 – 1970), sexuellem Missbrauch über Rassismus, Chauvinismus bis hin zu offenen Gewaltausbrüchen wie jüngst in Indonesien. Korruptionsaffären, die Herausbildung einer Sportwetten- und Spielervermittlungsmafia gehören ebenso zum Alltagsbild dieses Showgeschäfts.
Dies sind jedoch keine Auswüchse, die mittelfristig zu beseitigen wären und den Organismus des Sports gesunden lassen könnten. Nein, das Krebsgeschwür des Kapitalismus hat sich längst tief in den Körper hineingefressen.
Von Beginn an, seit Ende des 19. Jahrhunderts, als der Fußball in Großbritannien professionalisiert wurde, erhob sich bereits die Klassenfrage in dieser Sportart. Sie fand rasch Massenanhang im Proletariat als Akteure auf dem Spielfeld und den Zuschauer:innenrängen. Die Geschäftsführung in Vereinen und überörtlichen Verbänden lag jedoch stets in bürgerlichen Händen.
Die Arbeiter:innensportbewegung, v. a. in Deutschland, durchbrach kurzzeitig die bourgeoise Dominanz, baute u. a. einen eigenen Spielbetrieb auf und setzte dem reaktionären Boykott gegen die junge Sowjetunion, der sich auch im Sport manifestierte, eine tätige Solidarität entgegen. Der Faschismus zerschlug auch die Arbeiter:innensportvereine. Nach dem 2. Weltkrieg kapitulierten die reformistischen Arbeiterverräter:innen wieder und überließen dem Klassenfeind einen durch und durch verbürgerlichten Sportbetrieb.
Auf Landesebene konstituierte sich 1900 in Leipzig mit dem Deutschen Fußballbund (DFB) ein (einfluss)reicher Sportverband. Er ist der größte auf der Welt und mit weiteren 210 nationalen Verbänden Mitglied der FIFA (Féderation Internationale de Football). Dieses Konstrukt ist in der Schweiz als steuerbegünstigter gemeinnütziger Verein eingetragen und übt die Aufsichtsfunktion über den Fußball in all seinen Belangen aus.
Die nationalen Organisationen treten auf einem Kongress zusammen, entscheiden über statuarische Fragen und wählen den FIFA-Präsidenten. Da jedes Mitgliedsland eine gleichberechtigte Stimme hat, scheint dies bürgerlich-demokratischen Kriterien zu genügen. Doch der Präsident hatte bis 2016 weitreichende Machtbefugnisse und Managementkompetenzen. Trotz Reformen und Verlagerung des operativen Geschäfts auf den Generalsekretär hat sich nicht wirklich etwas geändert.
Die FIFA unterhält nach wie vor ein undurchsichtiges Gestrüpp von Subunternehmen, Beraterverträgen und Anwaltskanzleien und agiert wie ein kapitalistisches Großunternehmen. Das System von Löhnen, Aufwandsentschädigungen und Boni etwa in Höhe von 100 Millionen US-Dollar sowie der Finanzfluss an Einzelmitglieder im Vorfeld von Abstimmungen ähnelt einer verschlossenen Auster (Quelle: https://netzwerkrecherche.org/stipendien-preise/verschlossene-auster/verschlossene-auster-2012-fuer-die-fifa/). Dieses Geschäftsgebaren rief 2015 und 2016 sogar die schweizerische Bundesstaatsanwaltschaft auf den Plan, die das FIFA-Hauptquartier durchsuchte, letztlich jedoch ohne bindende strafrechtliche Konsequenzen.
Ihren Umsatz, allein 2021 waren dies rund 766 Millionen US-Dollar (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160262/umfrage/ertraege-der-fifa/), generiert die FIFA zur Hauptsache durch Verkäufe von Medienübertragungs- und Marketingrechten: Verantworten muss sich die Organisation praktisch nur gegenüber ihren Sponsor:innen und großen Konzernen. Letztere können sogar den (zeitweiligen) Ausschluss oder Sanktionen für nationale Verbände erwirken, wenn nicht die genehmigte Sportkleidung oder entsprechende Logos getragen werden. So wurden Kamerun 2004 während der WM-Qualifikation im Zuge des berühmten Trikotstreits zwischen Adidas und Puma 6 Punkte abgezogen (Quelle: https://www.spiegel.de/sport/fussball/trikotstreit-kamerun-fordert-die-fifa-heraus-a-300077.html).
Weiterhin gehören zu den Aufgaben der FIFA auch die Vergabe und Oberaufsicht von Fußballweltmeisterschaften. Für 2022 fiel die Wahl auf Katar.
Katar, als koloniales Erbe des britischen Imperialismus erst vor 50 Jahren in die Unabhängigkeit entlassen, ist als Staat nur überlebensfähig durch große Vorkommen von fossilen Energieträgern wie Erdöl und Erdgas. Es ist weltweit für den höchsten CO2-Ausstoß pro Kopf verantwortlich und trägt damit zur globalen Erderwärmung bei. Die Rohstoffe, Lieferung petrochemischer Produkte (Düngemittel) sowie die Anbindung an den US-Imperialismus durch den Sitz des Hauptquartiers der US-Truppen im Nahen Osten machen Katar zu einem unverzichtbaren Anlauf- und Stützpunkt für die US-Außenpolitik. Atmosphärische Störungen wegen Vorwürfen der Unterstützung von Terrorismus, wie unter Trump geäußert, wurden von der Biden-Administration wieder beigelegt.
Regiert wird die Halbinsel am Persischen Golf ohne Wahlen und Parteien von einer islamischen Scheichdynastie, die nur etwa 10 % der Bevölkerung repräsentiert. Diese Elite verfügt über 90 % des Einkommens. Den Hauptanteil an Lohnabhängigen stellen Arbeitsmigrant:innen aus Ländern Süd- und Südostasiens dar, denen Rechte wie Gewerkschaftsgründung oder Streiks versagt werden. Frauen ist der freie Arbeitsmarkt kaum zugänglich. Sie sind durch die herrschende Scharia rechtlich am stärksten benachteiligt.
Durch die Stadien- und Unterkunftsbauten für die Weltmeisterschaft, die praktisch alle neu aus dem Boden gestampft werden mussten, stieg der Bedarf an Arbeitskräften zusätzlich. Dies führte dazu, dass in den letzten 10 Jahren der vermehrten Bautätigkeit viele Arbeitsmigrant:innen aus Südasien nach dem sogenannten Kefala-System angeheuert wurden. Dieses beinhaltet, dass jede(r) ausländische Beschäftigte eine/n einheimische/n Bürg:in benötigt – in der Regel handelt es sich dabei um den/die (Sub-)Unternehmer:in. Meist werden hier sämtliche Arbeitsrechte und -schutzbestimmungen missachtet. Viele Arbeiter:innen mussten ihre Pässe abgeben. Ihnen wurden teilweise monatelang Lohnzahlungen vorenthalten. Etliche verunglückten auf den Baustellen und über 6.500 mussten ihren Einsatz gar mit dem Leben bezahlen (Quelle: https://www.tagesschau.de/ausland/fifa-wm-katar-menschenrechtsverstoesse-101.html). Die Angehörigen der Opfer bekamen oft erst nach internationalen Protesten almosenhafte Entschädigungen.
Bereits mit Bekanntgabe der Vergabe der Weltmeisterschaft an Katar regte sich Kritik, die sich mit Herannahen des Ereignisses noch deutlich verstärkt hat. Die bürgerlich-liberale Tonart hob zumeist das Prozedere hervor, die offensichtlich erkaufte Entscheidung, die zum Zuschlag an einen Staat geführt habe, der sowohl sachlich (fußballerisch nicht verankert) wie politisch (Menschenrechte nicht beachtend) nicht auf die Werteagenda der nördlichen Halbkugel gehöre. In der Empörung dieser Kommentator:innen schwingt eine gehörige Prise Selbstgerechtigkeit und auch rassistischer Unterton („Fußballentwicklungsland“) mit. Dieselben Figuren, die die Entscheidung aus diesem Blickwinkel verdammen, vollführen einen „Salto mor(t)ale“; sie haben anscheinend vergessen, dass auch das deutsche „Sommermärchen“ von 2006 nur durch Schmiergelder ergaunert worden ist. Zudem akzeptieren sie den Deal der deutschen Regierung zum Erdgasimport mit Katar wiederum als realpolitisch gerechtfertigt, das Wort „Menschenrechte“ darf dann beiläufig erwähnt werden.
Auch vorgeblich linke Vorschläge zum Protest gegen diese „WM der Schande“ bleiben hilflos bzw. bestenfalls in kleinbürgerlichem Aktionismus stecken. Appelle an Sendeanstalten, die Spiele nicht zu übertragen, verhallen ungehört. Die Weigerung von Gastwirtschaften, während der Weltmeisterschaften für ihre Gäste Fernsehapparate einzuschalten, kann auf der Ebene eines individuellen Boykotts nur eine wirkungslose Geste bedeuten.
Viel zur kurz greift auch eine bürgerliche Parole, welche fordert „Fußball ja – Ausbeutung nein“, reißt sie doch einen Zusammenhang auseinander, den der moderne Profifußball mit seinen Ingredienzien Menschenhandel und Sportinvaliditätsrisiko längst hergestellt hat.
Eine fortschrittliche Kritik muss unmittelbar an den Zuständen ansetzen, denen die Arbeiter:innen in Katar ausgesetzt sind: