Arbeiter:innenmacht

Systemrelevant und ignoriert – LehrerInnen und ErzieherInnen wehren sich!

Lucie Damsch und Christian Gebhardt, Infomail 1143, 23. März 2021

Fast pünktlich zum einjährigen „Jubiläum“ der Pandemie ist das Thema Corona so präsent wie eh und je. Auch die Bildungseinrichtungen erleben dadurch eine starke Veränderung. Seit fast einem Jahr wird die Betreuungs- und Bildungslandschaft im Zuge der Pandemie von Woche zu Woche vor neue Herausforderungen gestellt, teilweise durch spontane und nicht durchdachte Beschlüsse der Regierungen gebeutelt. Dazu kommen Ängste um die eigene Gesundheit und um die der Kinder und SchülerInnen. Dass uns der Kurs, welchen die Regierungen einschlagen – mit drastischen Einschränkungen und Isolationsmaßnahmen im Privaten und Sozialen auf der einen Seite und extremen finanziellen Zuschüssen für große Unternehmen und die Offenhaltung aller Produktionsbetriebe auf der anderen – nicht zu konstant niedrigen beziehungsweise null Infektionswerten führt, haben wir lange genug hingenommen.

Veranstaltung der VKG

Die Stimmen der Beschäftigten in den Bildungseinrichtungen wurden hierbei lange verschwiegen. Vor allem die der ErzieherInnen wurden oft überhört oder gingen in den Diskussionen rund um die Schulen unter. Um den beiden Bereichen eine Stimme zu geben, organisierte die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) in Berlin eine Onlineveranstaltung mit dem Titel: „Systemrelevant und ignoriert – Lehrer*innen und Erzieher*innen wehren sich!“

Die Veranstaltung war mit rund 40 – 45 TeilnehmerInnen gut besucht. Sie begann mit drei Beiträgen von Beschäftigen aus Schule und Kita. Es sprachen Christoph Wälz (Lehrer und Vorsitzender des GEW-Bezirksverbandes Berlin-Pankow), Lucie Bevermann (Erzieherin und Studentin, Mitglied der Jungen GEW Berlin) und Daniel Keller (Lehrer, VKG Berlin).

Christoph Wälz bezog sich thematisch vor allem auf den „Massenaufstand der LehrerInnen im Januar“, ausgelöst durch eine Petition eines besorgten Vaters in Berlin. Die Senatsverwaltung wollte entgegen der damaligen Stimmungslage als eines der ersten Bundesländer die Schulen wieder öffnen. Die Petition erhielt nicht nur viele Unterschriften, es kam auch dazu, dass sich viele Beschäftigte an Berliner Schulen versammelten, an ihre Gewerkschaft schrieben und von ihr Aktionen einforderten. Auch der Ruf nach Streik wurde von unten immer lauter. Die Protestaktionen und Forderungen zeigten Wirkung: Der Senat gab nach und sagte die Schulöffnungen wieder ab.

Anschließend berichtete Lucie Bevermann von der Situation der ErzieherInnen in Kitas und informierte über die Aktivitäten einer Basisinitiative von GEW-Mitgliedern, in welcher sie aktiv ist. Diese tritt für die Durchführung eines Aktionstages durch die Organisation der GEW für mehr Gesundheitsschutz ein und brachte die Idee eines Aktionstages teilweise erfolgreich in und über die Junge GEW Berlin auch in den Landesverband der GEW mit ein. Zusätzlich bezog sie sich auf die schon vor der Pandemie vorherrschenden schlechten Arbeitsbedingungen von ErzieherInnen und gab diesen oft überhörten Beschäftigtengruppen eine Stimme auf dieser Veranstaltung, wurden und werden ihre Arbeitsbedingungen durch die Pandemie doch noch zusätzlich verschärft. Der klassische Gesundheitsschutz (Abstand halten und Masken tragen) ist in der Arbeit mit den jüngsten Kindern nicht realisierbar. Diese Berufsgruppe setzt sich also tagtäglich einem enormen Risiko aus, um die Kinder zu betreuen. Durch die Beschlüsse der Regierung (in einigen Bundesländern wurden lediglich Bitten an die Eltern gerichtet, ihre Kinder zuhause zu betreuen, so dass diese kein Argument ihren Arbeit„geber“Innen gegenüber hatten, um für eine Betreuung dort entschädigt zu werden) wurde deutlich, dass die Gewährleistung der uneingeschränkten Arbeitskraft der Eltern im Hauptfokus dieser Schritte stand und steht. Des Weiteren waren und sind die beschlossenen Schutzmaßnahmen oft nicht bis zu Ende durchdacht und teilweise fernab jeder praktischen Realisierbarkeit. Um den Forderungen und der Empörung der Beschäftigten Gehör zu verschaffen, verdeutlichte Lucie noch einmal die Idee der GEW-Basisinitiative, als Gewerkschaft aktiv unsere Forderungen in Form eines bundesweiten Aktionstages auf die Straße zu tragen und nicht nur passiv Verbesserungen und Dialog einzufordern.

Als letztes sprach Daniel Keller und fokussierte sich als Sprecher für die VKG Berlin vor allem darauf, die Rolle der Gewerkschaftsbürokratie herauszuarbeiten und auf die Notwendigkeit einer koordinierten Auseinandersetzung mit gerade dieser hinzuweisen, mit der sich eine jede kämpferische Basisbewegung innerhalb der Gewerkschaften konfrontiert sehen wird. Er unterstrich damit die Wichtigkeit des Aufbaus der VKG über Gewerkschafts- und Branchengrenzen hinweg.

Bildungseinrichtungen öffnen oder schließen?

An die Inputreferate schloss sich eine sehr lebhafte und breite Diskussion an. Sie zeichnete sich nicht nur durch Beiträge von anwesenden politischen Gruppierungen aus, sondern wurde auch durch Erzählungen aus dem Alltag anwesender KollegInnen aus dem Bildungsbereich ergänzt und bereichert. Dies konnte für die VKG Berlin als Erfolg angesehen werden. Im Fokus der Diskussion standen vor allem folgende Themenfelder: der frisch beschlossene Aktionstag am 12.03 in Berlin, die Einschätzung der derzeitigen Stimmung rund um das Thema „Öffnung der Bildungseinrichtungen“ und davon abgeleitet das sehr kontrovers diskutierte Themenfeld #ZeroCovid.

Prinzipiell bestand große Übereinstimmung bezüglich der Notwendigkeit eines Aktionstages und einer darüber hinausreichenden Vernetzung und Organisation der Proteste im Bildungs- und Erziehungsbereich. Auch wurde die Argumentation, dass dieser nach Möglichkeit auf der Straße und in der Öffentlichkeit stattfinden sollte, um mehr Druck aufzubauen, bestärkt. In den letzten Monaten zeigten viele gut organisierte Demonstrationen, dass es auch in Zeiten der Pandemie möglich ist, dringende Forderungen in Präsenz vorzubringen und dadurch auch ein Stück weit gegen das Gefühl der Vereinzelung und Ohnmacht anzutreten.

Der Aspekt der Schließung oder Öffnung der Kitas und Schulen wurde jedoch kontroverser diskutiert. In dieser Diskussion und dem damit verbundenen Themenfeld von #ZeroCovid wurden die Unterschiede der politischen Perspektiven der an dieser Diskussion beteiligten Gruppen ersichtlich. Die Diskussion drehte sich stark um die Frage, ob derzeit die Forderung nach „Schließung der Schulen, bis diese sicher sind“ überhaupt noch aufgeworfen werden sollte. Dies wurde hauptsächlich damit begründet, dass einerseits auch das Wohl der Kinder und Jugendlichen bei den Entscheidungen betrachtet werden soll und andererseits sich die Stimmung innerhalb der Bevölkerung und den Kollegien geändert hätte. Diese würde nun im Vergleich zum Beginn des Jahres mehr in Richtung Öffnungen tendieren. Daran angelehnt wurde auch die Konzeption der #ZeroCovid-Kampagne kritisiert und vor allem von VertreterInnen der Sozialistischen Organisation Solidarität (Sol) abgelehnt. Diese sei derzeit nicht vermittelbar und wäre der Organisation von Widerstand hinderlich.

Die neuesten Fallzahlentwicklungen zeigen jedoch, dass sich diese Aussage nicht als richtig erwiesen hat, führen sie in den letzten Tagen doch zu einem erneuten Anschwellen der Angst innerhalb der Bevölkerung und der Kollegien, dass die Öffnung der Schulen und Kitas ein großes Sicherheits- und Infektionsrisiko darstellt und mit für die Anstiege der Neuinfektionen verantwortlich ist. Eine kämpferische Vernetzung innerhalb der Gewerkschaften sollte sich gerade nicht von kurzzeitigen Stimmungsschwankungen leiten lassen und an die rückschrittlicheren Positionen innerhalb der ArbeiterInnenklasse anpassen. Sie muss eine klare Perspektive und einen klaren Standpunkt beziehen. Es war auch schon zur Zeit der Veranstaltung abzusehen, dass die Fallzahlen wieder steigen werden und die Frage der Schul- und Kitaschließungen erneut auf die Tagesordnung gesetzt werden wird.

Wirtschaftslockdown als Brücke zum Kindeswohl!

Hier überzeugten vor allem die Argumente innerhalb der Diskussion, die sich entlang der #ZeroCovid-Strategie orientierten. Diese forderten die Schließung nicht systemrelevanter Betriebe, um die Fallzahlen zu drücken. Eine solche Perspektive würde es der Gesellschaft dann auch unter bestimmten Bedingungen erlauben, kontrolliert die Bildungs- und Erziehungseinrichtungen wieder zu öffnen wie auch Raum zu geben, um Jugendlichen und Kindern soziale Kontakte im Privaten zu ermöglichen (z. B. Öffnungen von Jugendzentren etc.). Es sollte doch gerade nicht der Fehler begangen werden anzunehmen, dass das psychosoziale Wohl der Jugendlichen und Kindern alleine von den sozialen Kontakten innerhalb von Schulen und Kitas abhängt. Dieser Logik zu folgen, würde bedeuten, „der Wirtschaft“ in die Hände zu spielen. Eine ihrer wichtigsten Forderungen ist es, die Kinderbetreuung zu gewährleisten, damit die uneingeschränkte Arbeitskraft der Eltern für die Aufrechterhaltung der Wirtschaftskraft des Landes im internationalen Wettbewerb zur Verfügung steht. Hier ist es jedoch wichtig aufzuzeigen, dass es eine Alternative zum bürgerlich organisierten Lockdown gibt. Einen Lockdown organisiert durch und orientiert an den Interessen der ArbeiterInnenklasse! Als kämpferische GewerkschafterInnen ist es hierbei unsere Pflicht aufzuzeigen, welche Rolle die DGB-Gewerkschaften spielen müssten, und dafür auch innerhalb der Gewerkschaften zu kämpfen, anstatt sich hinter Stimmungsschwankungen zu verstecken oder sich von ihnen desorientieren zu lassen.

Besonders die Phase des zweiten Lockdowns, in welcher es zunächst für die Inanspruchnahme eines Betreuungsplatzes kein Kriterium war, ob die Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiteten oder nicht, zeigte offen, welche Interessen den Beschlüssen der Regierung zugrunde liegen. Durch die Aussetzung der Liste der systemrelevanten Berufe als Voraussetzung für Kinderbetreuung ließ die Regierung den Arbeit„geber“Innen freie Hand im Umgang mit ihren Angestellten. Von Lohnfortzahlungen bei Stundenreduzierung oder zusätzlichen bezahlten Urlaubstagen im Zuge der freiwilligen Kinderbetreuung zuhause war keine Rede, und die Eltern sahen sich gezwungen, ihrer nicht systemrelevanten Tätigkeit weiterhin voll nachzugehen und ihr Kind institutionell betreuen zu lassen. Zusammen genommen bilden die Forderungen nach Schließung der nicht systemrelevanten Betriebe sowie die nach Stundenreduzierung bei voller Lohnfortzahlung bzw. bezahlten Urlaubstagen ein Scharnier, das es einer kämpferischen Basisbewegung ermöglicht, das psychosoziale Wohl der Kinder und Jugendlichen mit den Bedürfnissen der beschäftigten Eltern zu vereinen.

Aktionstag in Berlin

Im Nachklang der Veranstaltung fand am 12.03. in Berlin der schon angesprochene Aktionstag statt, hauptsächlich organisiert durch die Junge GEW Berlin. Dieser stellte Forderungen für mehr Gesundheitsschutz und bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte der Kinder- und Jugendhilfe, Sozialarbeit, Schule und Hochschule auf und trug diese in Form einer Kundgebung in die Öffentlichkeit. Mithilfe einer Petition wurden Unterschriften gesammelt und diese der Senatsverwaltung übergeben. Für Personen, denen eine Teilnahme an der Kundgebung nicht möglich war, gab es eine Fotoaktion.

Die Idee des Aktionstages inklusive Präsenzveranstaltung und die Kritik an einer zu passiven Gewerkschaftsführung ging zurück auf die durch Lucie Bevermann vertretene Initiative, die zunächst mit ihrer Idee eines (bundesweiten) Aktionstages Gehör in der jungen GEW Berlin fand. Bürokratische Manöver durch die Gewerkschaftsführung der örtlichen GEW verhinderten die Ausweitung des Aktionstages. Obwohl es für diesen eine knappe Mehrheit im Landesvorstand der GEW Berlin gab, wurde er nur in geringem Maße durch die Hauptamtlichen der GEW Berlin unterstützt und wurden auch nur Mitglieder unter 35 Jahren dafür mobilisiert. Dieses Vorgehen der Gewerkschaftsführung und deren bürokratische Verzögerungstaktiken zeigen einmal mehr die Notwendigkeit einer kämpferischen Basisopposition innerhalb der GEW und der restlichen DGB-Gewerkschaften auf.

Deshalb begrüßen wir, dass sich nun der Beginn einer Vernetzung an GEW-KollegInnen im Bundesgebiet gebildet hat, die die Idee eines bundesweiten Aktionstages verbreitet und dafür innerhalb der GEW und darüber hinaus argumentieren möchte. Wir rufen deshalb alle interessierten KollegInnen in den Bildungseinrichtungen dazu auf, sich dieser GEW-Vernetzung anzuschließen und mit uns in Kontakt zu treten. Umso deutlicher die Stimmung innerhalb der GEW nach einem bundesweiten Aktionstag vernommen wird, umso mehr müssen der Bundesvorstand sowie die jeweiligen Landesvorstände darauf reagieren und unsere Gewerkschaftsstrukturen für das nutzen, für das sie gedacht sind: für die aktive Interessenvertretung der Beschäftigten!

Die Zeit des Bittens hat ein Ende. Lasst uns unsere Organisation dazu nutzen, um unseren richtigen und wichtigen Forderungen Druck auf der Straße zu verleihen! Denn das haben wir alle in über einem Jahr Corona gelernt: Ohne Druck wird die Politik weiterhin den Lockdown im Sinne der Wirtschaft und nicht in unserem organisieren.

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