Alex Zora, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020
Der Aufstieg Chinas in den letzten vier Jahrzehnten dürfte kaum jemanden entgangen sein. Ausgehend von den Reformen unter Deng Xiaoping hat in China in den vier Jahrzehnten seit 1978 eine riesige gesellschaftliche Umwälzung stattgefunden. Es ist nicht nur die weltweit größte industrielle ArbeiterInnenklasse aus hunderten Millionen ehemaligen Bauern und Bäuerinnen entstanden, sondern China hat es auch geschafft, zu einer ernsthaften Konkurrenz zu den USA aufzusteigen. Grund genug, China und seine „sozialistischen Marktwirtschaft“, wie die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) die wirtschaftlichen Verhältnisse im Land gerne bezeichnet, zu untersuchen. Diese Erkenntnis hat sich auch im eurokommunistisch geprägten Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung in München (isw) durchgesetzt, und in den letzten 10 Jahren gab es mehrere Ausgaben ihres mehrmals jährlich erscheinenden Reports, die sich China bzw. dem Konflikt China-USA widmeten, mit deren Analysen wir uns im folgenden Beitrag beschäftigen wollen. Sie stehen auch weitgehend im Einklang – wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen und Schattierungen – mit den Einschätzungen, die auch rund um die europäische Linkspartei, das Netzwerk „transform! Europe“ oder die deutsche Rosa-Luxemburg-Stiftung weit verbreitet sind.
Schon unter Präsident Obama wurde der Dreh- und Angelpunkt der US-Außenpolitik (pivot to asia) auf Asien gelegt. Durch China ausschließende Freihandelsabkommen wie TPP sollte es ökonomisch und politisch isoliert und im Rahmen der „regelbasierte internationalen Ordnung“, die in erster Linie von den USA etabliert wurde, bekämpft werden.
Seit der Wahl von Donald Trump war klar, dass sich in der herrschenden Klasse der USA die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass China längst zum wichtigsten strategischen Gegner aufgestiegen war und mit einseitigen Maßnahmen der USA bekämpft werden müsse – auch ohne Verbündete, wenn nötig. Trumps China-Politik ist indikativ dafür, dass sich ein immer größerer Teil der US-Bourgeoisie nicht mehr auf die Mechanismen der internationalen Freihandelsordnung verlässt. Mit dem Beitritt Chinas zur WTO hatte man sich seine Durchdringung mit US- und, in geringerem Maße, auch europäischem Kapital erhofft, um es in eine untergeordnete neokoloniale Rolle herabzudrücken. Die Erfahrung seit 2001 zeigte aber, dass sich China in den letzten zwei Jahrzehnten nicht stärker in eine Abhängigkeit der traditionellen imperialistischen Metropolen begeben, sondern – insbesondere durch die Wirtschaftskrise 2008/09 – sich eine deutlich eigenständigere und unabhängigere Rolle verschafft hat.
Statt den Strategien der Obama Ära hat sich also in den letzten Jahren die Meinung in der US-Bourgeoisie durchgesetzt, dass man sich gegenüber China mit allen Mitteln verteidigen müsste. Wichtige VertreterInnen beider Parteien der US-Bourgeoisie heißen Trumps Strafzölle gegen China gut. Immer wieder sprach insbesondere der demokratische Minderheitsfraktionsführer im Senat, Charles Ellis „Chuck“ Schumer, Präsident Trump in seinem Kurs gegenüber China die Unterstützung zu. Durchaus beachtlich, da die Demokratische Partei Trumps erratischen Kurs in der Außenpolitik als einen ihrer Hauptangriffspunkte betrachtet.
Trumps Handelskrieg, der mit Strafzöllen auf Stahl und Aluminium im März 2018 begann, war ein Bestandteil der strategischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China. Zwar wurde Anfang dieses Jahres in einem ersten Teil eines Handelsabkommen die Eskalation der Zölle erst einmal gestoppt, die schon bestehenden sollen aber bis zum Abschluss eines zweiten Teils nicht aufgehoben werden. Die Entwicklung rund um die Covid-Pandemie hat aber den Konflikt zwischen China und den USA in anderen Bereichen wieder eskalieren lassen. Auf der einen Seite bezeichnete Trump das Coronavirus auch gerne als „Chinavirus“ und schob China die Schuld an der globalen Epidemie zu. Der Konflikt, der sich auch im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation WHO abspielte, nahm in den letzten Monaten weit gefächerte Formen an. Schon mit Beginn der weiten Ausbreitung von Covid-19 in den USA begann Trump, der WHO die Schuld für die Pandemie zuzuschieben. Im April kündigte er die Kürzung der US-amerikanischen WHO-Beiträge um 50 % an. Und nachdem die USA eine entscheidende Abstimmung über eine von der EU eingebrachte und von China mitgetragene Resolution bei der Weltgesundheitsversammlung im Mai diesen Jahres verlor, kündigte die Trump-Regierung dann den Rückzug der USA aus der WHO 2021 an. Grund dafür sei, dass die WHO von den USA geforderte „Reformvorschläge“ nicht vollziehen würde.
Einen neuen Höhepunkt der Eskalation erreichte die Auseinandersetzung zwischen den USA und China, als im Juli die USA das Konsulat Chinas in Houston (Texas) schließen ließen. Chinas Konter, die Schließung des US-Konsulats in Chengdu (Südwestchina), folgte kurze Zeit später. Die USA hatten den Vorwurf erhoben, dass das Konsulat in Houston ein wichtiger Bestandteil des chinesischen Spionagenetzwerks in den USA gewesen sei.
Der Konflikt, der sich hier zwischen China und den USA abspielt, ist aber kein Produkt von Trumps Psyche und wird sich auch nicht so schnell durch einen Wechsel an der Spitze der USA ändern. Es ist zwar zu vermuten, dass sich eine Regierung der demokratischen Partei unter Joe Biden wohl verstärkt darauf fokussieren würde, gemeinsam mit der Europäischen Union China zu isolieren, aber die grundlegenden bestehenden Widersprüche sind ökonomischer Natur. China und die USA werden in den nächsten Jahren klären müssen, wer die ökonomische und politische Vorherrschaft behalten bzw. erlangen wird. China will bis 2049 (1949 wurde die Volksrepublik gegründet) zur globalen Supermacht aufsteigen – ökonomisch, politisch und militärisch.
In seinen Publikationen wird der Konflikt zwischen China und den USA ausführlich diskutiert. Positiv fällt hier vor allem auf, dass das isw nicht in die klassisch liberale Deutung des Konflikts als eines zwischen dem demokratisch Westen und dem despotischen China verfällt. Doch für eine sich dem Marxismus zuordnende Publikation reicht diese Erkenntnis noch nicht aus.
„Dagegen [gegenüber der militarisierten Globalisierung des Westens] praktiziert China die Globalisierung anders. Sie soll „gerecht und inklusiv“ sein und ohne militärische Begleitung.“ii
Richtigerweise kreidet das isw die scheinheilige Verwendung von Menschenrechten als politische Waffe des westlichen Imperialismus an, aber wenn es um die Politik der chinesischen Führung geht, wird diese kaum hinterfragt. Dabei sollte zentraler Ausgangspunkt für die Beurteilung des Konfliktes zwischen China und den USA die grundlegende Betrachtung der Rolle der beiden Kräfte im kapitalistischen Weltsystem sein. Der politische Ausdruck des ökonomischen Konflikts ist nicht in erster Linie daran zu messen, welche der beiden Seiten den ersten Stein geworfen hat oder die aggressivere Politik verfolgt, sondern an ihrem Klassencharakter und ihrer Stellung auf dem Weltmarkt. Beide Länder sind kapitalistische, ja imperialistische Großmächte.
Dem isw geht es aber eben nicht vorab demzufolge darum, Liebknechts berühmtem Leitsatz „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ Rechnung zu tragen, sondern in erster Linie werden die USA als Hauptfeind ausgemacht. Denn die europäischen Imperialismen werden in erster Linie als ZuträgerInnen des Us-amerikanischen Imperialismus gesehen. Conrad Schuhler macht das in einem Artikel auch ganz explizit, wenn er zustimmend Albrecht Müller zitiert „Die Deutschen – und die Mehrheit der Europäer – sollten sich daran gewöhnen, dass die USA nicht unser Freund sind. Sie sind das Imperium und behandeln uns wie eine Kolonie.“iii
Die Position ist damit nicht in erster Linie antiimperialistisch, sondern eigentlich ein Ratschlag für den deutschen (bzw. europäischen) Imperialismus, den traditionellen Verbündeten fallenzulassen und sich der aufstrebenden Macht zuzuwenden. Garniert wird dies zuweilen noch mit dem Ratschlag, doch ein bisschen vom chinesischen System, wie einen aktiven, bedeutenden staatlichen Sektor, zu übernehmen. Walter Baier dazu: „Die politische Frage, auf die die großen europäischen Staaten und die EU eine Antwort finden müssen, lautet, ob sie sich gegenüber dem Druck der USA, die auf eine Zerstörung des freien Welthandels und eine Verschärfung der politischen und militärischen Konfrontationen zielen, emanzipieren wollen oder nicht. Gerade in Deutschland sollte man verstehen, dass der von der Trump-Administration entfesselte Wirtschaftskrieg sich gegen die europäischen Industrien und Arbeitsplätze richtet.“iv
Die zentrale Frage für die Bewertung des Konfliktes zwischen China und den USA ist – zumindest für revolutionäre MarxistInnen – also nicht die nach dem „Aggressor“ sondern dem grundlegenden Charakter des ökonomischen Systems und der Stellung im kapitalistischen Weltgefüge. Das isw tut sich weitgehend schwer damit, eine eindeutige Charakterisierung Chinas abzugeben. „,Sozialismus chinesischer Prägung’, ,Sozialistische Marktwirtschaft’, eine ,Art Staatskapitalismus unter dem Kommando der KP’, ,Staatlich kontrollierter Kapitalismus’, ,Wohlfahrtstaat’ nach schwedischen Modell – es fällt schwer, den chinesischen Weg zu einer modernen Volkswirtschaft in ein Schema zu pressen und zu kategorisieren“, schreibt zum Beispiel Fred Schmidv. Um einiges leichter tun sich die VertreterInnen des chinesischen Regimes, die vor allem im isw Report 119 zu Wort kommen. Für sie ist klar, dass es sich bei China um eine „Sozialistische Marktwirtschaft“ handelt, also eine Marktwirtschaft deren „sozialistischer“ Charakter durch die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas garantiert wird.
Die Charakterisierung Chinas als „Neoliberalismus mit chinesischem Antlitz“, wie David Harvey behauptetvi, wird entschieden abgelehnt. Genauso wird die Charakterisierung Chinas als Imperialismus zurückgewiesen. „Chinas Globalisierung ist ein dezidiert antikoloniales, nicht-imperialistisches, völkerrechtskonformes Projekt; es stiftet Frieden und breiten Wohlstand.“vii
Die Argumentation dafür ist bezieht sich im Wesentlichen auf diverse Überbauphänomene: China sei kein Aggressor; seine Auslandsinvestitionen bzw. -kredite seien nicht an spezifische Spar- oder Reformprogramme gebunden, wie das bei IWF oder Weltbank üblich ist. China mische sich auch nicht oder zumindest viel weniger in die Innenpolitik der jeweiligen Länder ein; das Militär sei auch in erster Linie defensiv aufgestellt und wichtige strategische Projekte wie die neue Seidenstraße, die weiter unten noch detaillierter behandelt wird, seien auch nicht an eine militärische Strategie gebunden usw. Ob all diese Bewertungen so auch wirklich stimmen oder nicht, sei einmal dahingestellt. Zentral ist aber, dass sie nicht die determinierenden Faktoren für die Stellung eines Landes im imperialistischen Weltsystem ausmachen – für MarxistInnen.
Es ist zwar unter speziellen Umständen möglich, dass ein Land weder eine dominante Rolle als Großmacht (oder unterstützend als Juniorpartner) noch als dominierte Neokolonie spielt. China und Russland auf ihrem Weg zur Wiedereinführung des Kapitalismus wiesen bestimmte Eigenschaften dieser Zwischenkategorie auf. Doch zentral ist, dass in einem imperialistischen Weltsystem, das keine dauerhafte stabile Situation darstellt, sondern die internationale Konkurrenz auf höhere Stufenleiter hebt, die Länder entweder eine dominierende Position erobern oder in die Beherrschung durch andere zurückfallen müssen. Für das isw hingegen scheint China zumindest bis auf Weiteres außerhalb dieser Hierarchien stehen zu können und das, obwohl es, wie auch das isw zugesteht, als kapitalistisches Land vollkommen in den Weltmarkt integriert ist.
Kaum jemand beim isw würde wohl bestreiten, dass die USA nicht erst mit den Eintritt in den 2. Weltkrieg und der damit enorm geänderten Außenpolitik einen imperialistischen Charakter annahmen. In der Zwischenkriegszeit wiesen sie durchaus einige Ähnlichkeiten mit dem Verhalten Chinas der letzten beiden Jahrzehnte auf. Das Militär der USA nach dem 1. Weltkrieg und seine Einmischung in außeramerikanische Angelegenheiten waren äußerst beschränkt. Mit derselben Argumentation wie das isw hätte man in den 1920er Jahren das französische und britische Imperium den USA entgegenstellen können, um damit zu begründen, dass es sich bei letzteren unmöglich um eine imperialistische Großmacht handeln könne. Das isw begeht hier den gleichen Fehler wie Kautsky während des 1. Weltkriegs. Für ihn handelte es sich beim Imperialismus nicht um ein Stadium, eine Epoche der kapitalistischen Weltwirtschaft, sondern schlicht um Militarismus, Großmacht- und Kanonenbootpolitik.
Hier ist nicht der Ort, um eine ausführliche Analyse Chinas als neuer imperialistischer Großmacht anstellen zu können. Doch mit der letzten Krisenperiode, die mit dem Platzen der Immobilienblase in den USA 2008 ihren Anfang nahm und verschiedene Phasen durchmachte, konnte es seine Position auf dem Weltmarkt und im imperialistischen Weltsystem wesentlich stärken. Es profitierte dabei nicht nur von der krisengeschüttelten Europäischen Union, den sich spätestens sei 2015/16 abzeichnenden Tendenzen zum Rückzug auf den Nationalstaat einiger imperialistischer Länder wie Großbritanniens und der USA (Brexit, Wahl Donald Trumps, …) und den sich dadurch politisch auftuenden Räumen, sondern auch vom Umbau der eigenen Wirtschaft weg von einem Billiglohnland zu einem mit einer der weltweit größten kaufkräftigen „Mittelschichten“ und vermehrt von einem ausschließliches Billigwarenexporteur hin zu einem Kapitalexporteur. Die Rolle Xi Jinpings als neuer starker Mann (auf einer Ebene mit Mao oder Deng Xiaoping) ist dafür politischer Ausdruck.
Aber sein Aufstieg und seine gestärkte Rolle sind nicht nur ein Ausdruck für die gestärkte Rolle Chinas in der Welt, sondern auch seiner inneren Dynamik. Das Land ist trotz seines unglaublichen Aufstiegs von riesigen inneren Widersprüchen gekennzeichnet: auf der einen Seite zwischen den durch den Staat und die Bürokratie organisierten staatskapitalistischen Unternehmen und Banken und auf der anderen Seite den oft dynamischeren privaten Unternehmen und mit ihnen verknüpften Privatinstitutionen. Insbesondere wichtig sind hier die sogenannten Schattenbanken, die in China ein riesiges Ausmaß der Finanzwirtschaft kontrollieren und ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor sind. Für Xi Jinping ist es in dieser Situation möglich, sich zwischen den unterschiedlichen Fraktionen des Kapitals und der Bürokratie eine besondere Position zu erobern. Dabei sind auch interne Spaltungslinien in der Partei relevant, insbesondere die unteren und mittleren Schichten der Bürokratie in den unterschiedlichen Provinzen und Städten sind dabei noch vermehrt mit den staatlichen Unternehmen verbunden, die höheren Führungskader hingegen stärker mit dem Interesse des Gesamtkapitals und insbesondere auch den dynamischen Privatunternehmen.
Wesentlich für die Bewertung der Rolle Chinas als neue imperialistische Großmacht ist, dass es hier nicht ausschließlich um die Anwendung der fünf Lenin’schen Merkmale des Imperialismus gehen kann. Diese sind wesentlich für die Feststellung des Imperialismus als Stadium des Kapitalismus, also der gesellschaftlichen globalen Gesamtheit, müssen aber nicht vollständig für jedes einzelne Land zutreffen, erfüllt sein, um eine imperialistische Großmacht zu verkörpern. Ausschlaggebend für seine Charakterisierung ist seine Stellung in der Weltmarkthierarchie. Für Lenin war z. B. auch klar, dass es bei der Kategorisierung als imperialistische Großmacht nicht darum geht, ausschließlich den ökonomischen Entwicklungsstand zu bewerten, wenn er auch eine wichtige Rolle spielt. Zum Beispiel bewertete er sowohl Japan als auch Russland als imperialistische Großmächte, die zu seiner Zeit ökonomisch nicht auf derselben Stufe wie die USA, Deutschland oder Großbritannien standen. Entscheidend war hier, dass sie wie diese Länder in einem imperialistischen Verhältnis zu anderen Staaten und Nationen standen. „In Japan und Rußland wird das Monopol des heutigen, modernen Finanzkapitals zum Teil ergänzt, zum Teil ersetzt durch das Monopol der militärischen Macht, des unermeßlichen Gebiets oder der besonders günstigen Gelegenheit, nationale Minderheiten, China usw. auszuplündern.“viii
Schließlich sei noch der Hinweis gestattet, dass China (im Gegensatz zu Russland, bei dem sich der imperialistische Charakter noch aus deutlich spezifischeren Umständen ergibt) mittlerweile auch viele der „klassischen“ Merkmale aufweist. Chinesische Banken gehören zu den größten der Welt; in Fragen des Kapitalexports steht China auf Augenhöhe mit den anderen imperialistischen Großmächten und hat mit Lenovo, ZTE, Huawei, Alibaba und anderen weltweit agierende Konzerne geschaffen. Dazu ist es vermehrt militärisch selbstbewusst mit den weltweit zweitgrößten Militärausgaben, unterhält mittlerweile schon mehrere Militärbasen in anderen Ländern (Tadschikistan, Dschibuti) und darüber hinaus ist auch die brutale nationale Unterdrückung der UigurInnen sowie eine stärker aufflammende nationalistische Rhetorik wesentlicher Bestandteil seines imperialistischen Charakters.
Seit einigen Jahren ist Chinas „One Belt, One Road“-Initiative sein zentrales außenpolitisches Projekt. Ziel ist es – angelegt an die antike Seidenstraße –, sowohl über den indischen Ozean (Belt; Meerenge) als auch über Zentralasien (Road; Landweg) den eurasisch-afrikanischen Raum für den internationalen Warenverkehr zu erschließen. Ein enormer Ausbau der Infrastruktur soll Chinas Exportrouten diversifizieren, geopolitischen Einfluss in den beteiligten Ländern erlangen und letztlich einen Ausweg aus seinem wohl größten geostrategischen Problem schaffen. China ist für die absolute Mehrheit seiner Exporte, aber auch seiner Rohstoffimporte, auf den Seeweg – insbesondere auf die Straße von Malakka – angewiesen. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass – falls es zu einer militärischen Auseinandersetzung mit den USA kommt – eine Seeblockade Chinas für seine Wirtschaft tödlich wäre. Deshalb sollen Land-, sowie kombinierte Land- und Seerouten (mit Häfen in Pakistan) die Versorgung des Landes mit Rohstoffen sowie den Export sicherstellen.
„Die Neue Seidenstraße ist nicht nur das größte Globalisierungsprojekt der bisherigen Menschheitsgeschichte, sondern vor allem: Es kommt zum ersten Mal in der neueren Geschichte ohne militärische Begleitung aus.“ix Doch so einfach ist die Sache nicht, denn schon jetzt gibt es an zwei neuralgischen Punkten – in Dschibuti am Horn von Afrika und in Tadschikistan in Zentralasien – chinesische Militärbasen. Auch der Ausbau bzw. Aufbau militärischer Anlagen im südchinesischen Meer (Spratly- und Paracel-Inseln im Südchinesischen Meer) ist in diesen Kontext einzuordnen. China möchte sich aus der militärischen Umklammerung durch die USA befreien, denn diese unterhalten unzählige Militär- und Marinebasen im Westpazifik, aber auch im indischen Ozean und Zentralasien. Auch in anderen Häfen, wie in Sri Lanka (Hambantota) oder in Pakistan (Gwadar), gab und gibt es Spekulationen über den möglichen raschen Ausbau zur chinesischenMarinebasis, obwohl der in nächster Zukunft wohl nicht zu erwarten ist.
Zusätzlich wird China vom isw dafür gepriesen, dass es mit den riesigen Krediten für die am Projekt der Neuen Seidenstraße beteiligten Länder keine politischen Absichten verfolge, also nicht wie IWF oder Weltbank auf Umstrukturierungs- oder Reformmaßnahmen dränge. Das ist zwar durchaus richtig, aber China macht es auch nicht einfach aus einer altruistischen Perspektive heraus, sondern mit dem Motiv, bei einer möglichen Zahlungsunfähigkeit einfach Eigner oder Pächter der Infrastruktur zu werden. So bekam nach der Zahlungsunfähigkeit Sri Lankas China den Hafen von Hambantota für 99 Jahre verpachtet. Solche Kreditausfälle mit anschließender Übernahme von Infrastruktur werden sich in den nächsten Monaten und Jahren vermutlich häufen, wenn die Auswirkungen der Wirtschaftskrise voll durchschlagen werden.
Im Kontext der Neuen Seidenstraße ist auch die Politik der chinesischen Regierung gegenüber den UigurInnen zu verstehen. Strategisch verläuft durch die Provinz Xinjiang, in der nahezu alle UigurInnen in China leben, ein essentieller Zugang zum zentralasiatischen Raum. Ihre Unterwerfung und Auslöschung als Nation (worauf die Politik der chinesischen Regierung, insbesondere der „Umerziehung“ und Ansiedlung ethnischer Han-ChinesInnen abzielt) ist hierbei essentiell, um diese strategische Rolle der Region zu sichern. Dazu kommt noch, dass Xinjiang reich an Rohstoffen ist, insbesondere an Öl, Gas und diversen Metallen, und eine mögliche uigurische Unabhängigkeitsbewegung oder allgemeiner Widerstand gegen die Politik der Zentrale für diese nicht in Kauf genommen werden können. Auch hier ist das Agieren der chinesischen Regierung ein Musterbeispiel für imperialistische Politik.
Das isw lobt auch den chinesischen Entwicklungsweg als nachahmenswert für zurückgebliebene Volkswirtschaften:
„Für Schwellenländer hat der chinesische Weg aber durchaus einen gewissen Vorbildcharakter. Er zeigt, dass eine erfolgreiche nachholende Entwicklung möglich ist, bei gleichzeitiger Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung und Überwindung der Armut. Notwendig sind dazu ein „proaktiver Entwicklungsstaat“ (UNDP) sowie staatliche Planung, zumindest staatliche Rahmen- und Schwerpunktplanung […].“xAn anderen Stelle bei Fred Schmidxi wird China nicht nur als Beweis für die erfolgreiche nachholende Entwicklung für Schwellenländer, sondern auch für Entwicklungsländer dargestellt. Es sei der Beweis dafür, dass man ohne westliche Hilfe, wie es die sogenannten Tigerstaaten gebraucht hätten, um eine erfolgreiche Entwicklung zu nehmen, auch den Aufstieg aus der Armut schaffen könne.
China ist in der Tat eines der seltenen Beispiele von Ländern, die es nicht nur geschafft haben, sich zu industrialisieren und das allgemeine Lebensniveau der Massen zu heben, sondern auch zu einer imperialistischen Großmacht aufzusteigen. Doch es muss klar sein, dass das nicht die Regel, sondern nur die Ausnahme ist. China hat unter ganz spezifischen Umständen, die nicht ohne Weiteres kopiert werden können, eine erfolgreiche nachholende Entwicklung zustande gebracht.
Zuerst einmal kann man China nicht aus der Gegenwartsperspektive betrachten und dann die essentiellen Faktoren ableiten, die es von anderen Staaten unterscheiden. Es ist vielmehr notwendig, die lebendige Entwicklung zu untersuchen und die historischen Besonderheiten abzuleiten, die es zu dem gemacht haben, was es heute ist. Der wohl wesentlichste Unterschied Chinas zu „herkömmlichen“ unterentwickelten Staaten ist, dass dort – als von Beginn an bürokratisch degenerierter oder deformierter ArbeiterInnenstaatxii – mehrere Jahrzehnte lang kein Kapitalismus existierte. Dazu kam, dass vor allem seit dem Bruch mit der Sowjetunion, der Ende der 1950er Jahre einsetzte, China auch noch einmal besonders auf eine eigenständige Entwicklung angewiesen war. Dadurch entwickelte sich eine stark abgeschlossene Wirtschaft, die frei von jeglichem ausländischen Kapital war.
Die Entwicklung Chinas hin zur Einführung des Kapitalismus haben wir in „Von Mao zum Markt“ von Peter Main (Revolutionärer Marxismus 39) ausführlich nachgezeichnet. Von den ehemals degenerierten ArbeiterInnenstaaten ist nur die DDR (als Teil Deutschlands) sowie Russland die Entwicklung zu einem imperialistischen Staat gelungen. In Ostdeutschland geschah dies durch den Anschluss an die imperialistische BRD, auch wenn diese Region ähnlich dem italienischen Süden nur die zweite Geige im Land spielt. Die größten Konzerne Deutschlands sind ausschließlich westdeutschen Ursprungs, in der herrschenden Klasse dominiert westdeutsches Kapital. Darüber hinaus sind auch das Lohnniveau und andere Indikatoren des Lebensstandards auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch signifikant niedriger. Für Russland hat es sehr spezifische Umstände gebraucht, um sich zu einer imperialistischen Macht zu entwickeln. In den 1990er Jahren nach dem Kollaps der sowjetischen Wirtschaft sah es lange Zeit danach aus, als ob es auch den Weg in den neokolonialen Status einschlagen würde. Doch auch Russland hat es unter sehr spezifischen Umständen – vor allem durch die alten Verbindungen der Sowjetunion, sein militärisches Gewicht sowie bis zu einem gewissen Grad auch durch seine Monopolstellung als Rohstoffexporteur gegenüber Europa – vermocht, eine prekäre Stellung als imperialistische Großmacht zu erringen. Bezüglich der Betrachtung Russlands sei auf „Die Auferstehung des russischen Imperialismus“ von Frederik Haber (Revolutionärer Marxismus 46) verwiesen.
Chinas besondere Umstände, nämlich, dass es aufgrund seiner Geschichte als von Beginn an degenerierter ArbeiterInnenstaat frei von der Durchdringung mit ausländischem Kapital war, lässt sich für den durchschnittlichen neokolonialen Staat nicht einfach wiederholen. Die Ausgangsbedingungen sind nämlich komplett andere. Ein wesentlicher Umstand für die spezielle Lage, in der sich China befand, war die chinesische Auslandsbourgeoisie, die aus spezifischen historischen Gründen nicht nur in Taiwan, sondern auch in Hongkong sowie überhaupt in einigen südostasiatischen Staaten eine besondere Stellung eingenommen hatte und bei der Öffnung des Landes für ausländisches Kapital kräftig im Land investierte.
Ein weiterer wichtiger Vorteil für China war, dass im Gegensatz zu fast allen anderen ehemaligen stalinistischen Staaten in Osteuropa während der Wiedereinführung des Kapitalismus durch das Regime der KPCh weiterhin sehr stabile Machtverhältnisse im Land herrschten. Dafür war die Niederschlagung der Oppositionsbewegung 1989 essentiell. Die Herrschaft der kommunistischen Partei übernahm dabei ähnliche Rollen wie der preußisch-deutsche, russische oder italienische Staat am Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung und die Entwicklung des Kapitalismus wesentliches staatliches Projekt waren und aktiv gefördert wurden und nicht einfach organisch entstanden. Das durchschnittliche neokoloniale Land kann nicht einfach so die Dominanz des ausländischen Kapitals abschütteln, dafür wäre letztlich eine soziale Revolution notwendig. Eine unabhängige nationale Entwicklung des Kapitalismus ist nicht möglich. Beispiele wie Venezuela zeigen deutlich, zu welche Methoden der Konfrontation insbesondere der Imperialismus anwandte, um diesen Weg zu verbarrikadieren.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass China kein Modell für andere Staaten sein kann. Im imperialistischen Weltsystem ist es nicht einfach möglich, durch geschickte staatliche Politik die Fessel zu durchbrechen und die Entwicklung hin zu einem eigenständigen und unabhängigen Kapitalismus anzutreten. Für China mussten neben der generellen Größe des Landes und der Bevölkerung eine Reihe an spezifischen historischen Umständen zusammenkommen, um dies zu ermöglichen. Das lässt sich auch darin erkennen, wie schwer es Indien fällt, einen ähnlichen Weg zu beschreiten.
Die lang andauernde Herrschaft der KPCh ist ein zentrales Merkmal für den chinesischen Kapitalismus, vergleichbar nur mit der der KP Vietnams. Doch die Frage, ist wie diese Herrschaft bewertet wird. Für die chinesischen FunktionärInnen ist sie klar positiv beantwortet:
„Zusammenfassend kann man sagen, dass die sozialistische Marktwirtschaft über moderne wirtschaftspolitische Steuerungsmöglichkeiten verfügt. Zuallererst ist die Führung der Partei ein wichtiges Merkmal des sozialistischen Marktwirtschaftssystems und ein wichtiger Garant für moderne Governance-Kompetenz wirtschaftspolitischer Steuerung. Das sozialistische Marktwirtschaftssystem steht unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas und steht fest auf sozialistischem Boden. Wir müssen uns auf unser theoriegeleitetes Selbstbewusstsein, unsere aufrichtigen Institutionen und die Führung der Partei verlassen, um diesen großartigen Prozess zum sozialistischen Marktwirtschaftssystem zu vollenden.“ xiiiAber nicht nur in den von direkten VertreterInnen des chinesischen Systems, denen im isw Platz geboten wird, wird diese Ansicht geteilt. Auch bei Fred Schmidxiv gibt es viele lobende Worte für die Partei, insbesondere die Anti-Korruptionskampagnen und die Stärkung ihrer Zellen und Grundeinheiten unter Xi Jinping.
Dass die Kommunistische Partei spätestens seit Anfang der 1990er Jahre klar die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse verteidigt und ausbaut, sollte wohl auch den naivsten KommentatorInnen aufgefallen sein. Zwar wird die „Sozialistische Marktwirtschaft“ weiterhin als Anfangsphase des Sozialismus bezeichnetxv, doch wenn man einmal von der Rhetorik absieht und sich die Fakten vor Augen führt, kann man erkennen, dass sich die Bourgeoisie in China immer mehr als Klasse formiert. Seit 2001 dürfen auch PrivatunternehmerInnen Mitglied der Kommunistischen Partei werden. Im isw Report Nr. 119 finden sich auch interessante Zahlen dazu – natürlich mit der Argumentation verbunden, wie gut es gelingen würde, die neuen Eliten „aufzunehmen und zu lenken“xvi. Von den verantwortlichen Personen der größten 100 chinesischen Privatunternehmen sind „19 % […] Abgeordnete des Nationalen Volkskongresses, 15 % Abgeordnete der Provinz- und Kommunalkongresse, 27 % Mitglieder der Föderation von Industrie und Handel sowie der Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes. 39 % sind Leiter von Handelskammern, Jugend-, Handels-, und Unternehmensverbänden.“ Die langwierige Entwicklung von Chinas Bourgeoisie von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich ist in den letzten Jahren also ein gutes Stück vorangekommen.
Lange Zeit spekulierte der Westen darauf, dass sich mit der Öffnung Chinas hin zum Markt eine selbstständige Bourgeoisie herausbilden würde, die dann in weiterer Folge in einen Konflikt mit der KPCh-Bürokratie geriete, was dann in weiterer Folge die Herrschaft der Partei untergraben und eine „Öffnung“ beschleunigen würde. Ob das dabei durch friedlichen Druck passieren würde, der die KPCh zwingen würde, einen Weg der demokratischen Reformen und die Einführung eines Mehrparteiensystems zu beschreiten, oder sie andernfalls auch à la UdSSR/Ostblock gestürzt würde, war dabei zweitrangig.
Diese Erwartungen haben sich im letzten Jahrzehnt als Fehleinschätzung herausgestellt. Insbesondere seit der Ära Xi Jinpings, seiner Antikorruptionskampagnen und der Stärkung der Partei wurde der chinesischen Bourgeoisie gezeigt, dass der Weg innerhalb der Partei um einiges besser ist. Gut wird das in einem Artikel Hu Lemingsxvii umrissen: „Institutioneller Wandel ist nicht nur Prozess der rationalen Konstruktion, sondern auch ein Prozess der spontanen Veränderung. Es ist nicht nur ein von der Politik geförderter Top-down-Prozess, sondern auch ein von privaten Unternehmern geförderter Bottom-up-Prozess. Es ist ein Prozess der Interaktion zwischen Politikern und Unternehmern.“
Der chinesische Staat und seine herrschende Bürokratie schaffen es trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) der jüngeren Vergangenheit als von Geburt an degenerierter ArbeiterInnenstaat besonders gut, die Rolle als ideelle/r GesamtkapitalistIn zu übernehmen. Ein wesentliches Merkmal des Abstiegs des US-amerikanischen Imperialismus dagegen ist, dass sich die unterschiedlichen Interessen der Fraktionen der herrschenden Klassen immer mehr aufsplittern. In den USA ist eine langfristige Strategie der Bourgeoisie immer weniger möglich. Die Widersprüche zwischen Demokratischer und Republikanischer Partei, zwischen Protektionismus und Freihandel, zwischen Silicon Valley, Wall Street und den verbliebenen Industrien und heute zwischen VertreterInnen von „Herdenimmunität“ und „Social Distancing“ machen die Verteidigung der Stellung als imperialistische Großmacht Nr. 1 schwer.
Das bedeutet aber nicht, dass in China die gesamte Bourgeoisie mit der Partei zu einer Einheit verschmolzen wäre. Einerseits ist die chinesische Auslandsbourgeoisie nicht wirklich in diese Strukturen eingebunden, andererseits ist es auch kein widerspruchsfreier Prozess. Es ist durchaus möglich, dass sich durch innere wie äußere Faktoren eine eigenständige von der KP-Bürokratie unabhängige Kraft der Bourgeoisie wird versuchen zu etablieren. Wenn es beispielsweise zu einer größeren landesweiten Bewegung gegen das Regime kommt, würde es vermutlich die Spaltungstendenzen innerhalb der Bürokratie selbst vergrößern und ein Teil der Bourgeoisie würde zweifelsfrei versuchen, sich außerhalb des Staats und der Kommunistischen Partei in einer eigenen Partei zu organisieren. Doch auch eine längere Dauer des obrigkeitsstaatlich gelenkten Kapitalismus wie in Preußen und im frühen Deutschen Reich, Russland, Japan oder in seiner parlamentarisch-demokratischen Variante in Frankreich nach dem 2. Weltkrieg oder in Großbritannien unter Attlee ist als Möglichkeit nicht auszuschließen.
China ist ein Beispiel für das Gesetz der ungleichen und kombinierten Entwicklung. Der chinesische Staat trägt starke Züge einer zuvor existierenden Gesellschaftsformation (der gleichen und kaum von der Chinas zu unterscheidenden wie in Vietnam) ähnlich wie einige andere Staaten mit schwächeren (Großbritannien) oder stärkeren (Saudi-Arabien) monarchistischen Elementen in der Exekutive. Die weitere Existenz der KPCh als herrschende Partei kann deshalb kein Argument für einen grundlegend anderen Klassencharakter Chinas sein.
Bei allen Lobeshymnen auf die Volksrepublik China muss sich das isw doch immer mal wieder eingestehen, dass es vielleicht doch dort auch noch irgendwie ein paar demokratische Defizite gibt. „Dennoch bleibt die Frage nach der demokratischen, insbesondere produktionsdemokratischen, Teilhabe (!) der Menschen in China.“xviii2010 wurden im isw Report Nr. 83/84 noch zwei Möglichkeiten aufgezeigt. Auf der eine Seite gäbe es die der „Herausbildung einer gewerkschaftlichen Gegenmacht und ihre Formierung zur Arbeiterbewegung“xix, auf der anderen Seite für – eine vermutlich durch graduelle Reformen eingeführte – „vertikale Demokratie“. In ihr „werden die Visionen und Ziele des Landes in einem interaktiven Prozess von Spitze und Basis gleichermaßen geformt.“xxWas genau das konkret bedeuten soll, wird weder ausgeführt noch klar definiert.
Acht Jahre später in isw Report Nr. 115 ist dann von der Formierung einer Gegenmacht, geschweige denn politischer und ökonomischer Etablierung der ArbeiterInnenklasse als herrschendes und planendes Subjekt keine Rede mehr. „Ein echter demokratischer Ansatz“ ist jetzt nur mehr „die Weiterentwicklung der „vertikalen Demokratie““xxi. Ein unabhängiger Klassenstandpunkt ist jetzt offenbar weder realistisch noch gewünscht. Hier zeigt sich schließlich am klarsten die endgültige Kapitulation vor dem chinesischen Kapitalismus. Die Rolle von MarxistInnen geht beim isw offenbar kaum mehr ein bisschen über Beifall für eine „vertikale Demokratie“ hinaus.
Aus Chinas besonderer Geschichte ergibt sich für das isw offenbar, dass auf es keinerlei marxistische Kategorien oder Analysen mehr anwendbar seien. Es wird zwar zugestanden, dass es sich auch in dort um eine Kapitalismus handelt, aber dieser sei durch die Rolle der Partei im Staat, die sich noch immer kommunistisch nennt, und des Staates in der Wirtschaft so besonders, dass er eigentlich nicht mehr wirklich des Klassenkampfes, einer eigenständigen Organisation des Proletariats (nur mehr knapp über 7 % der Parteimitgliedschaft sind IndustriearbeiterInnenxxii) oder überhaupt einer proletarischen Revolution für die Abschaffung des Kapitalismus und für eine ArbeiterInnendemokratie bedürfe. Dabei ist China doch mit der weltweit größten Bevölkerung und der größten ArbeiterInnenklasse eines der Schlüsselländer im imperialistischen Weltsystem!
Die aktuelle Situation in Wirtschaftskrise und Corona-Pandemie sind für China genauso wie die ganze Welt von entscheidender Bedeutung. In China ist es durch die sehr starke Position des Staates gelungen, die Ausbreitung der Krankheit relativ rasch unter Kontrolle zu bringen und auch die Produktion wieder anzuwerfen, doch es steht vor dem Problem, dass es trotz aller Stärkung des Binnenmarktes immer noch sehr zentral auf den Exportsektor angewiesen ist. Wie in vielen anderen Staaten hat es in der Krise der aktuellen Regierung gegenüber, falls diese nicht vollkommen absurde Maßnahmen durchführte, einen großen Vertrauensvorschuss gegeben. Doch die ökonomischen Widersprüche (insbesondere die Frage, wie lange die Industrieproduktion alleine auf staatlicher Stimulanz basieren kann), die sich aus dem weiteren Verlauf der Wirtschaftsentwicklung ergeben werden, werden unweigerlich ihren politischen Ausdruck finden. Ob sich dieser „nur“ in der Partei und dem Staat abspielen oder auch einen gesamtgesellschaftlichen Ausdruck finden wird, ist noch nicht abzusehen.
Aber zentral für das Verständnis Chinas ist, seine Stellung im imperialistischen Weltsystems zu verstehen. Die Charakterisierung als neue imperialistische Großmacht hat eben nicht nur akademischen Charakter, sondern ist wesentlich zum Verständnis und zur Einordnung eines der wichtigsten Länder für den globalen Klassenkampf. Der imperialistische Hauptkonflikt – zwischen China und den USA – wird sich in den nächsten Jahren nur zuspitzen und in der einen oder anderen Form gelöst werden. Dabei ist es von größter Bedeutung, eine antimilitaristische, antiimperialistische und internationalistische Position in die ArbeiterInnenklassen sowohl in China als auch im Westen zu tragen. Wenn dies nicht gelingt, können die kommenden Konflikte für die ArbeiterInnenklasse und die gesamte Menschheit nur in der Katastrophe enden. Der Hauptfeind steht – auch in der VR China – dabei im eigenen Land!
iInstitut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e. V. mit Sitz in München. Es wurde 1990 von linken SozialwissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen gegründet.
ii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report 119, S. 25
iii„Trumps ,America first’ – der Versuch, die USA zur unumschränkten globalen Supermacht zu machen“, Conrad Schuhler in isw Report 115, S. 11
iv„Warum muss die sozialistische Linke über die VR China diskutieren?“, Walter Baier in isw Report Nr. 119, S. 36
v„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 61
viebenda
vii„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26
viii„Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, Lenin in Werke Band 23, S. 113
ix„Der neue Systemkonflikt zwischen dem US-geführten Westen und der Volksrepublik China“, Werner Rügemer in isw Report Nr. 119, S. 26
x„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36
xi„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 60
xiiDie VR China war wie Kuba, Nordkorea, Nordvietnam, Jugoslawien und Osteuropa ein ArbeiterInnenstaat, der von Beginn seiner Existenz an bürokratisch entstellt war und wo die Arbeiterinnenklasse von der unmittelbaren Ausübung ihrer Diktatur ausgeschlossen blieb. Das unterscheidet ihren degenerierten Charakter vom frühen Sowjetrussland, in dem die stalinistische politische Konterrevolution ab 1924 die Oberhand gewann. Sie unterlag einem Prozess der Degeneration und startete ihre Existenz nicht mit diesem Zustand.
xiii„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 5
xiv„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36
xv„Die Risiken von Sozialistischer Marktwirtschaft und neoliberalem Kapitalismus“, Ding Xiaoqin in isw Report Nr. 119, S. 4
xvi„Das chinesische Modell aus der Perspektive staatlicher Handlungsfähigkeit“, Yang Hutao in isw Report Nr. 119, S. 15
xvii„Chinesische Erfahrungen bei Reform und Entwicklung“ Hu Leming in isw Report Nr. 119, S. 10
xviii„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 36
xix„China – Krise als Chance?“, Fred Schmid in isw Report Nr. 83/84, S. 62
xxebenda
xxi„Trumps Wirtschaftskrieg gegen China“, Fred Schmid in isw Report Nr. 115, S. 37
xxii„Number of Chinese Communist Party (CCP) members in China in 2019, by employment“ in https://www.statista.com/statistics/249968/number-of-chinese-communist-party-ccp-members-in-china-by-employment/