Jonathan Frühling, Infomail 1108, 24. Juni 2020
Gesellschaftliche Unterdrückung ist nahezu allgegenwärtig und auch als AktivistInnen in linken Organisationen sind wir nicht frei davon, weil wir durch eben diese Gesellschaft geprägt werden. Wir alle sind durch das Schulsystem gegangen, welches bekanntermaßen neben Bildung auch die Funktion hat, ein bürgerliches Bewusstsein zu vermitteln. Rassistische und sexistische LehrerInnen, Konkurrenzkampf und Mobbing sind hier einige Schlagworte, die den meisten Menschen bekannt sind. Doch auch die Hetze gegen Geflüchtete in den Zeitungen, die Darstellung von Frauen in untergeordneten Rollen in Filmen und Serien oder ein sexistischer Kommentar durch ArbeitskollegInnen hinterlassen in unserem Denken ihre Spur. Diese Prozesse finden praktisch ständig und überall um uns herum statt. Zwar kann man linke Tageszeitungen lesen, explizit sexistische Filme vermeiden und dem Arbeitskollegen seine Meinung sagen, aber ganz entziehen kann man sich der Gesellschaft natürlich nicht.
Natürlich bestehen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse grundlegend unabhängig vom subjektiven Verhalten einzelner Menschen oder erst recht der Mitglieder linker politischer Gruppen. Sie lassen sich daher auch nur durch den gemeinsamen Kampf und letztlich nur durch den Sturz des kapitalistischen Systems selbst überwinden und die Errichtung einer Gesellschaftsordnung, die der Unterdrückung nicht mehr bedarf. Letzteres deutet nicht, dass die Unterdrückungsverhältnisse wie auch Unterschiede innerhalb der ArbeiterInnenklasse – z. B. zwischen Hand- und Kopfarbeit – mit einer sozialistischen Revolution automatisch verschwinden, aber die Enteignung des Kapitals und die bewusste gesellschaftliche Planung stellt eine notwendige Voraussetzung für ihre Überwindung dar.
Der Kampf gegen die Reproduktion unterdrückerischen Verhaltens in der ArbeiterInnenbewegung schafft also nicht die Wurzeln der gesellschaftlichen Unterdrückung aus der Welt, ist aber unerlässlich, um diesen überhaupt bewusst führen zu können.
Es versteht sich deshalb von selbst, dass es auch innerhalb linker Organisationen Probleme mit Unterdrückungsmechanismen gibt, die durch die eigenen Mitglieder ausgeübt werden.
Dies nicht zu leugnen, ist kein Eingeständnis des eigenen Scheiterns, sondern nur ehrlich und öffnet den Weg für notwendige Diskussionen: Es stellt überhaupt erst die Frage, wie entsprechende Unterdrückungsmechanismen in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung bekämpft werden können und müssen. Ansonsten werden unterdrückerisches Verhalten und entsprechende Bewusstseinsformen unwillkürlich reproduziert.
Wir wollen daher im Folgenden einige Formen darstellen, die wir bei uns, aber auch in der ArbeiterInnenbewegung selbst für notwendig im Kampf gegen soziale Unterdrückung erachten.
Als Grundlage sollte es ein Caucusrecht für alle sozial Unterdrückten, wie z. B. Frauen oder People of Colour, geben. Das bedeutet, dass diesen Personen das Recht eingeräumt wird, sich innerhalb der Organisationen gesondert zu treffen. Das gibt ihnen die Möglichkeit, geschützt vor potenziellen UnterdrückerInnen zu diskutieren. Es soll so ein Schutzraum geboten werden, indem Betroffene ungehemmt Hilfe und Beistand bei individuellen und kollektiven Unterdrückungserfahrungen außerhalb und innerhalb der Organisation erhalten können. Wichtiger ist jedoch der Aspekt, dass die Betroffenen dort selbst (politische) Vorschläge erarbeiten, wie die Unterdrückung innerhalb und außerhalb der Organisation bekämpft werden soll. Solche innerorganisatorischen Strukturen sind keine Selbsthilfegruppen für Betroffene, sondern solche, die den Finger auf mögliche Wunden legen können. Daher räumen wir nicht nur unseren GenossInnen intern das Recht ein, bei Bedarf einen Caucus ins Leben zu rufen, sondern stellen dies auch als Forderung auf. Das Recht zur Caucusbildung sollte unterdrückten Schichten der Gesellschaft in allen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung ermöglicht werden. So können unsere Organisationen einerseits von eigenem Fehlverhalten lernen wie auch das Ziel ermöglichen, die ArbeiterInnenklasse in ihrer Gesamtheit zu organisieren.
Auch sexuelle Grenzüberschreitungen können in linken Organisationen vorkommen. Es ist daher wichtig, dass sich die Organisation bei der Klärung und Sanktionierung entsprechender Vorfälle an ein im Vorhinein demokratisch abgestimmtes Verfahren hält. Dabei sollte festgehalten werden, welche Personen oder Gremien damit beauftragt sind, solche Vorwürfe aufzuklären, oder wann und in welcher Form die Mitgliedschaft darüber informiert wird. Welche Personen Sanktionen aussprechen dürfen (zumeist sind dies Schiedskommissionen oder die Leitungen), sollte auch festgelegt werden. Natürlich müssen alle an diesem Prozess beteiligten Personen der Organisation in ihrer Gesamtheit rechenschaftspflichtig sein.
Bei der Behandlung sexueller Grenzüberschreitungen sollten Untersuchungskommissionen eingerichtet werden, die mehrheitlich aus gesellschaftlich Unterdrückten bestehen. Sollte das z. B. in einer kleinen Ortsgruppe nicht möglich sein, so kann diese auch aus GenossInnen aus anderen Städten zusammengesetzt werden. Wir lehnen zwar das Prinzip der Definitionsmacht über einen Vorwurf durch die betroffene Person ab, aber die beschuldigten GenossInnen sind zur aktiven Mitarbeit an der Aufklärung eines Vorwurfs verpflichtet. Schließlich sind Mitglieder für die Zeit der Untersuchung eines Vorwurfs suspendiert (d. h. sie verlieren in diesem Zeitraum ihre Mitgliederrechte).
In den meisten politischen Organisationen (auch linken) sind sozial unterdrückte Menschen wie z. B. Frauen, Jugendliche, People of Color und Menschen aus der LGBTQIA+-Bewegung unterrepräsentiert, was auch mit ihrer gesellschaftlichen Unterdrückung zusammenhängt. Es ist deshalb wichtig, dass sich Unterdrückte in besonderem Maße zu politischen AktivistInnen entwickeln können und der Reproduktion gesellschaftsspezifischer Arbeitsteilung aktiv entgegengesteuert wird. So sollten technische Aufgaben (wie z. B. das Drucken eines Flyers), wann immer möglich, nicht an Frauen delegiert werden. So können sie sich mehr auf ihre politische Entwicklung konzentrieren und aktiv nach außen hin auftreten – und die Organisation sollte diese Entwicklung auch bewusst vorantreiben.
Sie sollten dabei von den anderen Mitgliedern bestärkt werden und Unterstützung erhalten, wenn sie dies wünschen. Politische Schulungen, die ausschließlich von und für sich als weibliche verstehende Mitglieder offen sind, können für Frauen ein zusätzliches Schulungsmoment sein. Die Organisierung von Kinderbetreuung, damit Mütter (und Väter) an Ortsgruppentreffen, Veranstaltungen oder Schulungen teilnehmen können, sollte vor allem durch die männlichen Teile einer linken Organisationen sichergestellt werden.
Aber auch die relativ privilegierten Teile der Gruppe, die nicht selten auch als Unterdrücker oder Träger rückständiger Bewusstseinsformen in Erscheinung treten, müssen natürlich in die Verantwortung genommen werden. Dabei reicht es im Kampf gegen Sexismus beispielsweise nicht aus, sich mit feministischer Theorie auszukennen. Sexistische Verhaltensmuster spiegeln sich nämlich trotzdem in dem Handeln linker Männer allzu oft wider. Deshalb müssen sich Männer über ihr eigenes unterdrückerisches Verhalten bewusst werden und aktiv dagegen ankämpfen. Deshalb haben wir damit begonnen, antisexistische Männertreffen abzuhalten. Auf diesen Treffen sollen Männer ihre Sozialisierung und ihr eigenes Verhalten kritisch analysieren. So kann z. B. das Bewusstsein geschärft werden, inwiefern Blicke bereits als sexuelle Belästigung wahrgenommen, ob Frauen häufiger unterbrochen oder ob die Vorschläge von Frauen und anderen unterdrückten Schichten genauso ernst genommen werden wie die der Männer. Diesen Prozess können Frauen natürlich aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit dieser Unterdrückung, wenn nötig, kritisch unterstützen. Vor allem aber geht es auch darum, nicht nur Bewusstsein für eigenes Verhalten zu schärfen, sondern vor allem die eigene Praxis in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, im Kampf gegen Sexismus und andere Formen der Unterdrückung im Betrieb, an der Uni, an der Schule zu entwickeln.
Der Kampf gegen Unterdrückung in der eigenen Organisation sollte einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Erstens wollen wir eine Welt schaffen, die frei von Unterdrückung ist. Das bedeutet aber auch, dass RevolutionärInnen zu bewussten VorkämpferInnen gegen alle Formen der Unterdrückung erzogen werden. Das ist zwar in erste Linie eine politische Frage, aber es gehört auch dazu, selbst zu lernen, die Anliegen, die Sprache von Unterdrückten aufzunehmen und zu unterstützen. Wenn eine Organisation ihre Mitglieder nicht aktiv und immer wieder darauf vorbereitet, wird sie auch unfähig sein, die ArbeiterInnenbewegung und die Gesellschaft insgesamt zu verändern. Zweitens können wir nur so den unterdrückten Schichten in der kapitalistischen Gesellschaft eine politische Organisation bieten, in der ihre Unterdrückung, wenn auch nicht aufgehoben, so zumindest gemindert ist und aktiv bekämpft wird.
Drittens kann und muss jedoch eine revolutionäre Organisation besonders Unterdrückten die Möglichkeit geben, sich zu politischen AktivistInnen zu entwickeln und den Klassenkampf in ihrem Sinne mitzuprägen. Nur so werden RevolutionärInnen Zugang zu diesen Schichten erhalten, von ihnen lernen und gemeinsam unterdrückerische Verhaltensweisen und die Verhältnisse, die sie hervorbringen, bekämpfen können. Mithilfe der GenossInnen aus verschiedenen unterdrückten Schichten kann das revolutionäre Programm weiter ausgearbeitet, bereichert und konkretisiert werden, so dass sichergestellt wird, dass es der gesamten ArbeiterInnenklasse entspricht (und nicht unbewusst an deren privilegierte Teile angepasst wird).