Erklärung der Revolutionary Socialist Movement, Pakistan, 10. August 2019, Infomail 1064, 11. August 2019
Am 5. August präsentierte Amit Shah, Indiens Innenminister und gleichzeitig Präsident der regierenden Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei, BJP), im Rajya Sabha (Staatenversammlung; zweite Kammer), dem Oberhaus des indischen Parlaments, einen Präsidentenbefehl zur Aufhebung von Artikel 370, einer Verfassungsbestimmung, die dem Staat Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus einräumte. Nach einer kurzen Debatte wurde die Resolution im Oberhaus mit einer Mehrheit von 125 Stimmen gegen 61 angenommen.
Im Unterhaus (Lok Sabha; Volksversammlung; erste Kammer) wurde der Beschluss mit einer Mehrheit von 367 Stimmen gegen 67 Stimmen gefasst. Artikel 370 gab der gesetzgebenden Versammlung Jammus und Kaschmirs die Befugnis, eigene Gesetze in allen Bereichen zu erlassen, mit Ausnahme von Fragen der Außenpolitik, der Verteidigung und der Kommunikation, die bei Delhi blieben. Außerdem hatte der Staat Jammu und Kaschmir das Recht auf eine eigene Verfassung und eine eigene Flagge. Diese Verfassungsbestimmungen verpflichteten den indischen Staat, diese Bestimmungen nicht ohne die volle Zustimmung beider Seiten zu ändern.
Mit der Aufhebung von Artikel 370 wurde all dies jedoch beendet. Der Staat Jammu und Kaschmir wurde seines Status der begrenzten Autonomie innerhalb Indiens beraubt. Die von der BJP ausgearbeitete Resolution schlägt ferner vor, den Staat in zwei Unionsterritorien aufzuteilen: erstens Jammu und Kaschmir und zweitens Ladakh. Das bedeutet, dass die erstere ihre eigene gesetzgebende Versammlung beibehalten und die indische Zentralregierung einen (weisungsgebundenen) Gouverneurstatthalter ernennen wird, während Ladakh direkt von Delhi aus regiert wird, d. h. es wird dort keine eigene gesetzgebende Versammlung geben.
Darüber hinaus wurde unter der Präsidialverordnung auch Artikel 35-A aufgehoben. Diese Verfassungsbestimmung erlaubte es der Legislative des Staates Jammu und Kaschmir zu definieren, wer die ständigen BewohnerInnen des Staates sind, d. h. seine BürgerInnen. Dies war ein Gesetz aus der Zeit der Maharadscha-Herrschaft vor 1947, nach dem einE Nicht-Kaschmiri nicht in den Genuss der Bestimmungen für den Kauf von Land in Kaschmir und den Eintritt in den Staatsdienst kommen konnte (Maharadscha: großer Herrscher/Fürst/König). Nun, da Kaschmir keine eigene Verfassung mehr haben wird, muss es sich wie jeder andere Staat an die indische Verfassung halten. Das bedeutet auch, dass alle indischen Gesetze automatisch auf Kaschmiris anwendbar sind und Menschen von außerhalb des Staates dort Immobilien kaufen können. Kurz gesagt, der Staat Jammu und Kaschmir wurde zu einem Teil Indiens gemacht, indem man ihm seinen Sonderstatus entzogen hat.
Bereits viele Tage vor der Aufhebung von Artikel 370 war eine Situation ähnlich einem Ausnahmezustand geschaffen worden, in der alle Nichtansässigen, TouristInnen, StudentInnen und ArbeitsmigrantInnen in Kaschmir zur Ausreise gezwungen wurden. In einer der ohnehin schon am stärksten militarisierten Zonen der Welt wurde der Einsatz von Truppen erhöht. Die örtliche Polizei wurde aller Autorität beraubt und entwaffnet, während alle Bildungseinrichtungen geschlossen und die BewohnerInnen von Jugendherbergen vertrieben wurden. Darüber hinaus wurden Internet-, Mobilfunk- und sogar Festnetztelefondienste eingestellt. Außerdem wurde sogar die kaschmirische Führung im Dienste der indischen Staatsinteressen unter Hausarrest gestellt, während die Führung der FreiheitskämpferInnen hinter Gittern landete. Mehr als 500 Menschen sitzen in Haft, und es gab Berichte, dass 50 DemonstrantInnenen getötet wurden, als sie versuchten, zu mobilisieren und der Ausgangssperre zu trotzen.
In dieser Situation kursieren alle möglichen Gerüchte, die eine Atmosphäre von Angst und Chaos erzeugen.
All dies geschieht natürlich im Rahmen der Hindutva-Politik von Narendra Modi. Hindutva ist das neue Gesicht des indischen Kapitals, das versucht, sich China als Wirtschafts- und Militärmacht anzugleichen. Die Modi-Regierung will die Kriegshysterie fördern, damit einerseits jeder Widerstand und jede Meinungsverschiedenheit im Namen des Vorwurfs der „Feindschaft gegenüber Indien“ zerschlagen werden kann. Andererseits zielen solche Maßnahmen darauf ab, indischen KapitalanlegerInnen die Möglichkeit zu geben, Kaschmir auszubeuten und zu plündern. Sofort nachdem Kaschmir seines Sonderstatus beraubt wurde, hat die KapitalistInnenklasse auf beiden Seiten der Grenze Gefühle von Hass und Kriegshysterie verbreitet.
Auf der einen Seite der Grenze wird die aktuelle Entwicklung als Sieg für die Modi-Regierung wahrgenommen. In Pakistan hingegen sieht die KapitalistInnenklasse, die mit einer schweren Wirtschaftskrise konfrontiert ist, ihren einzigen Ausweg ebenfalls im Schüren von Kriegshysterie. Die aktuelle Entwicklung hat die beiden Atommächte in Konfliktstellung gebracht. Sollte jedoch tatsächlich ein Krieg stattfinden, würde der größte Preis dafür von der einfachen Bevölkerung getragen werden, insbesondere von Kaschmiris, die seit 70 Jahren die Hauptlast der Politik der beiden Länder getragen haben.
Dennoch hat die aktuelle Situation auch die Chancen für einen neuen Kampf geschaffen. Dieser neue Kampf würde einerseits der barbarischen Besetzung kaschmirischer Länder und der Massaker durch Indien entgegenstehen und andererseits auch die Rolle des pakistanischen Staates, der seine eigene Hegemonie in der Region haben will, in Verbindung mit der Politik des pakistanischen Staates in seinen besetzten Gebieten, den so genannten Asad Kaschmir (teilautonomes pakistanisches Gebiet) und Gilgit-Baltistan (Nordregion; pakistanisches Sonderterritorium unter Bundesverwaltung), die die Region in zwei Teile zerrissen hat, deutlich machen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine neue Bewegung entstehen wird, die die Selbstbestimmung Kaschmirs zum Ziel hat und alle Nationen im Staat Jammu und Kaschmir zu einer Unabhängigkeitsbewegung zusammenführt. In diesem Zusammenhang sind einige Dinge zu berücksichtigen, sollte eine solche Bewegung ausbrechen. Die Grundlage dieser Bewegung muss dringend säkular sein, um die Spaltungen zu überwinden, die durch hinduistische versus muslimische politische Ideologien hervorgerufen werden, und zweitens sollte die Bewegung keine Illusionen in irgendeinen der umliegenden Staaten oder in die imperialistischen Mächte wie die USA oder China haben. Alle diese Mächte hegen ihre eigenen egoistischen Interessen und jede Zusammenarbeit mit ihnen im Namen der Lösung des Konflikts in Kaschmir kann verheerende Folgen für die dortige Bevölkerung haben.
Die Vereinten Nationen sind in Wirklichkeit auch eine Institution, die über ihren Sicherheitsrat stets die imperialistischen Interessen schützt, wo immer diese DiebInnen sich einigen können. Andernfalls ist dieses Gremium gelähmt und tut nichts. Das kaschmirische Volk ist sich bewusst, dass die UNO in den letzten 72 Jahren der Besetzung und Teilung des Landes durch Indien und Pakistan praktisch akzeptiert hat, anstatt den Konflikt zu lösen und ein Referendum abzuhalten, wie 1948 versprochen wurde. Stattdessen müssen die Bewegung und ihre Führung direkt an die Massen der ArbeiterInnenklasse in Indien und Pakistan appellieren, sich für Klassensolidarität einzusetzen.
Im Gegensatz zu dem, was in den pakistanischen Mainstream-Medien präsentiert wird, genießt die Hindutva-Ideologie nicht in allen Bereichen der indischen Gesellschaft Anerkennung. Stattdessen haben sich Organisationen von StudentInnen, Frauen und ArbeiterInnen gegen diese Politik der BJP-geführten Regierung gestellt. Anstatt das Recht auf Selbstbestimmung für Kaschmir und den Abzug der indischen Truppen aus dem Staat zu fordern, haben sich die Hauptströmungen der indischen Linken weitgehend gegen die Aufhebung von Artikel 370 ausgesprochen, weil sie die Entwicklung als Bedrohung für die indische Verfassung und den Säkularismus sehen.
Anstatt sich der indischen Besatzung und Kolonisierung der Region als Verletzung des Grundsatzes des Rechts auf Selbstbestimmung zu widersetzen, verteidigt die Linke de facto diese Kolonisierung, indem sie sich auf Kaschmir als einen integralen Bestandteil des indischen Staates bezieht. Und das, obwohl die indischen Streitkräfte seit Jahrzehnten die schlimmsten Gräueltaten gegen das kaschmirische Volk verüben, lange bevor Artikel 370 widerrufen wurde.
In den von Indien besetzten Gebieten Jammu und Kaschmir sind durch die Auferlegung einer Gouverneursherrschaft durch Narendra Modi trotz Medienberichterstattungsverbot und Ausgangssperre Proteste junger Menschen ausgebrochen. Einige DemonstrantInnen wurden getötet und jede Art von demokratischer Aktivität wird durch den Einsatz von nackter Gewalt und Angst unterdrückt. Die Zahl der Proteste wird in den nächsten Tagen wahrscheinlich zunehmen und der indische Staat wird jede erdenkliche Methode anwenden, um die Bewegung zu zerschlagen. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, wie Delhi zu Massenverhaftungen, Folter, Massakern und Vergewaltigungen gegriffen hat, um viele Arten von Kämpfen zu zerschlagen. Die kaschmirische Bewegung muss auf solche Repressionen vorbereitet sein und sich bewaffnen, um die Bewegung gegen militärische Barbarei und Unterdrückung zu verteidigen.
Alle wirklich demokratischen und arbeitenden Kräfte müssen verlangen:
Die Bildung von Nachbarschafts- und Betriebskomitees ist eine wichtige Aufgabe, sowohl um den Widerstand zu mobilisieren als auch, sobald die Bedingungen es zulassen, um Wahlen zu einer souveränen verfassunggebenden Versammlung durchzuführen, die über die Zukunft des Staates Jammu und Kaschmir nach den Wünschen der Bevölkerung der Region entscheiden soll. Darüber hinaus muss der Kampf für ein sozialistisches Kaschmir Teil eines Kampfes für ein sozialistisches Südasien werden. Auf dem Weg zu diesem Ziel ist es die Pflicht und im Interesse aller unterdrückten Nationen und der ArbeiterInnenklasse, in voller Solidarität mit dem Kampf für die Freiheit Kaschmirs zu stehen. Hier ist die Rolle der indischen ArbeiterInnenklasse, die im Januar einen 150 Millionen starken eintägigen Generalstreik durchgeführt hat, entscheidend.