Wilhelm Schulz, Neue Internationale 237, Mai 2019
Von der Krisengewinnerin Deutschland spricht keiner mehr. Konnte die BRD in der Eurokrise dem europäischen Süden noch den Stempel aufdrücken und das Exportkapital satte Gewinne einfahren, kann heute von einer solchen Stabilität nicht mehr die Rede sein. Nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene geraten Sektoren wie die Automobilindustrie ins Wanken und kündigen Massenentlassungen an. Auch die Zerfaserung in der Parteienlandschaft und das Auslaufmodell „Große“ Koalition stehen für eine fehlende Gesamtstrategie des Kapitals und des deutschen Imperialismus.
Deutschland samt seiner Exportorientierung wankt, der Koloss steht auf tönernen Füßen. Die Krise der EU ist vor allem auch seine eigene. Die zunehmende internationale Unsicherheit und Konkurrenz gehen mit riesigen Drohgebärden einher, die die Ungewissheit ihrerseits verschärfen. Angesichts dieser Ausgangslage werden internationale Bündnisse (bspw. NATO) und Abkommen (WTO, Klimaschutz) in Frage gestellt, konkurriert Deutschland mit traditionellen Verbündeten wie den USA und neuen imperialistische Nationen wie China. Diese begreifen den EU-Binnenmarkt als Austragungsort der Konkurrenz und machen dort durch Firmenkäufe und Abkommen mit Staaten wie Italien ihre Ansprüche geltend. In solch einer Situation wird die Stellung Deutschlands wackelig.
Die Konjunkturprognosen machen die Sache nicht leichter. Die Wachstumserwartungen für 2019 wurden in etwa halbiert – von 1,5 % auf 0,8 %. Schuld hieran sind vor allem (zu erwartende) Markteinbrüche in der Automobil- und Chemieindustrie, zwei Standbeinen der deutschen Wirtschaft. Auch die Fusionsdiskussionen von Deutscher Bank und Commerzbank gehen mit drohenden Entlassungswellen einher – beide Konzerne sind zusätzlich schwach aufgestellt. Geplant sind bei VW, allein in Deutschland, etwa 23.000 Stellenstreichungen, der Chemiekonzern Bayer plant nach der Fusion mit Monsanto davon 4.500. Zeitungen wie das Handelsblatt rechnen mit Entlassungen in ähnlichen Größendimensionen bei den 30 DAX-Konzernen aufgrund geringer Absatzzahlen. Die hochgelobte Konjunktur, die wir im letzten Jahr erlebten, scheint somit einen nur kurzfristigen Aufwärtstrend darzustellen.
Das Bundeswirtschaftsministerium versucht, hier noch mit „Optimismus“ gegenzuhalten, und verspricht nach einer Delle für 2020 eine rasche Erholung. 2020 solle das Bruttoinlandsprodukt wieder um 1,5 % wachsen – auch nicht gerade üppig. Aber selbst diese Hoffnung ist angesichts des Abschwungs der Weltwirtschaft, enormer Risiken und geringer Möglichkeiten zur konzertierten Gegenaktion zweifelhaft. Auch Altmaiers „Wirtschaftsprogramm“ – die Errichtung neuer europäischer „Champions“, also von Monopolkonzernen wie Airbus unter der Führung des deutschen Kapitals – und in Aussicht gestellte Steuerentlassungen für Reiche und Mittelschichten werden kaum zu einer raschen Belebung der Wirtschaft führen.
Das Ziel eines kapitalkonformen Anti-Krisenprogramms, wie es Altmaier vorschwebt, ist natürlich klar: wieder auf gleicher Stufe wie die außereuropäische Konkurrenz zu stehen. Die Kosten dafür müssen freilich andere tragen – schwächere Nationen, das KleinbürgerInnentum und „natürlich“ die Masse der Lohnabhängigen. Der BDI (Bundesverband der deutschen Industrie) hat gegen Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse sicher nichts einzuwenden, sieht aber seine mittelständischen Unternehmen gefährdet und hadert mit Altmaiers Vorhaben. Der Spaß geht soweit, dass der BDI das Wirtschaftsministerium nicht zu seiner 70-Jahr-Feier einlud.
Dahinter stehen reale Gegensätze innerhalb der herrschenden Klasse. Die kommenden Jahre werden wenig Spielraum für einen „harmonischen“ Ausgleich bieten. Schließlich sind die Grundprobleme der Weltwirtschaft, fallende Profitraten und gigantische Überakkumulation von Kapital, die zur Finanzkrise und zur globalen Rezession führten, bis heute ungelöst.
Die Sorgen von Regierung und Unternehmen hätten die Gewerkschaften eigentlich noch verstärken können. Bei den Tarifauseinandersetzungen der letzten beiden Jahre demonstrierten hunderttausende Lohnabhängige ihre Bereitschaft zur härteren Auseinandersetzung. Doch letztlich folgten die Verhandlungen und Abschlüsse immer demselben Schema. Zwar wurden nominell höhere Abschlüsse erzielt, zugleich wurde jedoch eine lange Laufzeit und damit Friedenspflicht der „Tarifparteien“ vereinbart.
Hinzu kommt, dass diese Auseinandersetzungen zum Großteil die Kernschichten der deutschen ArbeiterInnenklasse betreffen. Zwei Aspekte hat dies. Zum einen präsentiert sich die Große Koalition als auf den „sozialen Ausgleich“ bedacht, während sie vor zugespitzten Arbeitskämpfen durch die Gewerkschaftsführungen geschützt wird, die ihrerseits an der Koalition und einer SPD-Regierungsbeteiligung eisern festhalten. Dies stellt für die Regierung zwar keine Bestandsgarantie dar, aber doch einen gewissen Schutz.
Zum anderen kann bei Teilentlassungen von Belegschaften oder Betriebsstilllegungen das Kampfpotential verringert werden, weil lange Laufzeiten auch eine lange Friedenspflicht bedeuten. Schließlich haben für einen stets anwachsenden Teil der Bevölkerung dieses Landes die Tarifverhandlungen schon seit langem keine direkten Auswirkungen. 39,6 % der Vollzeitbeschäftigten arbeiten mittlerweile in sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Hier verlieren die Gewerkschaften zunehmend ihre Stellung.
Dies hat System: namentlich die Politik des Co-Managements. Die sozialdemokratische Flankendeckung hat in den letzten Jahren vor allem eines erreicht – die Einheit der Klasse der Lohnabhängigen zu schwächen. Diese klassenversöhnlerische Politik bietet uns keinerlei Schutz vor den drohenden sozialen Angriffen. Sie antwortet, wenn überhaupt, auf Entlassungen mit Sozialplänen und nicht mit Widerstand. In der Krise stellen sich jene Kräfte als treueste Stützen des Systems zur Verfügung, selbst wenn ihre Errungenschaften ins Visier genommen werden.
Angesichts der kommenden Angriffe und des Rechtsrucks der letzten Jahre – insbesondere, aber nicht nur, des Aufstiegs der AfD – wird sich die Politik der Sozialpartnerschaft und des Co-Managements als hilflos, ja oft sogar als verlängerter Arm von Unternehmens- und Regierungsinteressen in der ArbeiterInnenklasse erweisen. Damit spaltet sie nicht nur. Co-Management, Standort-Zusammenarbeit mit dem Kapital bei der Verfolgung seiner Weltmarktambitionen bereiten ihrerseits den Boden für Nationalismus und Rassismus in der ArbeiterInnenklasse. AfD und FaschistInnen radikalisieren gewissermaßen die Zusammenarbeit mit „unseren“ Betrieben gegen die „ausländische“ Konkurrenz.
Wer solche FreundInnen hat, braucht eigentlich keine FeindInnen mehr.
In den letzten Monaten entstanden jedoch auch eine Reihe sozialer Bewegungen und Proteste. Ob die Seebrücken-Bewegung, #Unteilbar, die Proteste zum Erhalt des Hambacher Forstes, der Frauen*streik, Fridays for Future oder die aufkommenden MieterInnenproteste. Sie zeigen ein Potential des Widerstandes auf, jedoch ebenfalls seine Flüchtigkeit, sofern er nicht auch offen ein klassenkämpferisches Programm diskutiert und die Mobilisierung mit Selbstorganisation in Schule, Büro und Betrieb kombiniert.
Eine Verbindung des Kampfes gegen die Auswirkungen der Krise, gegen kommende Entlassungen, aufsteigenden Rassismus, Aufrüstung, Militarismus, Sexismus und drohende Zerstörung unserer Umwelt böte dabei gigantische Möglichkeiten. Sie trüge in die unterschiedlichen Bewegungen die Frage des Klassenwiderspruchs hinein, somit den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital.
Zur Zeit haben die meisten sozialen Bewegungen, die in den letzten Monaten entstanden sind, jedoch einen klassenübergreifenden Charakter und werden von klein-bürgerlichen, reformistischen oder links-bürgerlichen Kräften wie den Grünen dominiert. Dies liegt natürlich in erster Linie an der staatstragenden Politik von SPD und Gewerkschaftsführungen und dem Unvermögen der Linkspartei, eine sichtbare Alternative zu entwickeln.
Die Stärke kleinbürgerlicher Ideologie in diesen Bewegungen äußert sich auch in einem bemerkenswerten Widerspruch. Einerseits wird der bestehende bürgerliche Staat immer repressiver, verabschiedet rassistische Gesetze, schränkt bürgerlich-demokratische Rechte ein und verstärkt die Überwachung der Bevölkerung. Zugleich appellieren die Führungen und SprecherInnen dieser Bewegungen an den Staat als Träger von Veränderung und „Verantwortung“, als ob er keine Klasseninteressen repräsentieren und verfolgen würde.
Andersherum bieten die Mobilisierungen jedoch auch die Möglichkeit, ihre Kampfkraft auf die Straße und auch dorthin zu tragen, wo es wehtut: in die Betriebe. Dazu braucht es jedoch das bewusste und organisierte Eintreten für eine klassenkämpferische Ausrichtung dieser Bewegungen.
Hierfür ist eine gemeinsame Initiative der Organisationen und Parteien der ArbeiterInnenbewegung nötig – ob Kräfte der Gewerkschaftslinken, der Partei DIE LINKE, oppositionelle Teile der SPD oder der radikalen Linken. Was wir brauchen ist somit eine Aktionskonferenz des Widerstandes. Eine Konferenz, die nicht einfach nur ein Zusammenkommen unterschiedlicher Kräfte bedeutet, sondern die verbindliche, gemeinsame Forderungen festlegt, Aktionen und einen Mobilisierungsplan beschließt, offen und kontrovers über die Ziele spricht und streitet. Nur im gemeinsamen Kampf können wir die kommenden Angriffe abwehren – und nur im Kampf wird sich erweisen, welche Politik, welche Strategie, welche Taktik und Kampfmethoden dazu nötig sind.
Ebenso wie die Angriffe darf auch der Widerstand nicht an nationalen Grenzen haltmachen! Unser Feind ist global aufgestellt – wir müssen es auch sein. Und wir können dabei auch noch effektiv sein. Als im Januar ArbeiterInnen von Audi in Ungarn für die Angleichung des Lohnniveaus an westeuropäische Verhältnisse streikten, konnten schon Mitte der Woche bei Audi in Ingolstadt keine Autos mehr vom Band laufen. Gerade in Zeiten nationalistischer Abschottung muss eine internationale ArbeiterInnenbewegung ein starker Ausdruck von Solidarität sein.
Deshalb heißt für uns Klassenpolitik, nicht nur am Ersten Mai gemeinsam auf die Straße zu gehen. Es ist vielmehr unsere Pflicht, den Kampf für den Sozialismus mit den Herausforderungen im Hier und Jetzt 365 Tage im Jahr zu verbinden.