Jürgen Roth, Neue Internationale 235, Februar 2019
Nahezu alle Teilnehmerstaaten des EU-Gipfels im Juni 2018 wollten hier die Zahlen der nach Europa kommenden MigrantInnen senken bzw. stärker kontrollieren. Einig waren sich die EU-Staats- und RegierungschefInnen in der engeren Kooperation mit „PartnerInnen“ wie dem ägyptischen Al-Sisi-Regime, der Aufrüstung der Grenzschutzagentur Frontex von 1.500 auf 10.000 Mitarbeiterinnen – Anfang Dezember 2018 erst einmal von Ende 2020 auf 2027 verschoben – und der Einrichtung „kontrollierter Zentren“, also Massenlagern für MigrantInnen. Der Streit mit den Visegrad-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien und Ungarn, die im Rahmen der Umverteilung innerhalb der EU keine Menschen aufnehmen wollen, schwelt indes weiter. Die angekündigte Reform der Dublin-Verordnung ist ebenfalls gescheitert.
Im Vergleich zu 2015 und 2016 ist die Zahl derjenigen, die es nach Europa schaffen, stark gesunken. Zudem haben sich die Migrationsrouten vom Balkan über Italien nach Spanien verschoben. Ein Grund dafür ist der im März 2016 unterzeichnete EU-Türkei-Deal, ein weiterer seit Juni mit Antritt der neuen italienischen Regierung die Kriminalisierung der privaten Seenotrettung. Im Südosten, so auf den griechischen Inseln und in Nordbosnien, leben immer noch etliche, die 2015 auf der „Balkanroute“ stecken geblieben sind. Gleichzeitig wurde/n in zahlreichen Mitgliedsstaaten der Union das Asylrecht geschliffen und restriktivere Regeln für Eingewanderte eingeführt.
28 EU-Mitgliedsstaaten trafen sich am 19.9.2018 in Salzburg und debattierten Wege zu einem einheitlichen Asylsystem. Im Mittelpunkt standen Debatten über Flüchtlingsdeals, Lager in Nordafrika, die Behinderung und Ausschaltung der zivilen Seenotrettung. Die österreichische EU-Präsidentschaft erneuerte ihren Vorschlag, Flüchtende außerhalb der EU-Grenzen in „Rückkehrzentren“ festzusetzen und auf europäischem Boden überhaupt keine Asylanträge mehr zu akzeptieren.
Bis Mitte September 2018 hatten 74.388 Schutzsuchende Europa übers Mittelmeer erreicht, 1.600 kamen dabei zu Tode. Ankünfte gingen zurück, die Todesrate stieg – das Ergebnis rigorosen Vorgehens staatlicher Behörden gegen die zivile Seenotrettung und ihrer Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache. Der Europäische Rat gewährte den libyschen „PartnerInnen“ im Juni 2018 völlige Handlungsfreiheit und forderte, im Mittelmeer verkehrende Schiffe dürften diese nicht stören. In libyschen Flüchtlingslagern hatte sich die Zahl der Schutzsuchenden von März bis Ende Juli von 4.400 auf über 10.000 mehr als verdoppelt – darunter 2.000 Frauen und Kinder. Folterungen, Vergewaltigungen und Morde sind hier an der Tagesordnung.
Seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals herrscht Ausnahmezustand auf den griechischen-Ägäis-Inseln. Allein auf Lesbos saßen ca. 10.000 Flüchtende fest. 60 % der Ankommenden sind Frauen und Kinder, die aufgrund restriktiver Familiennachzugsregeln wieder auf Schlepperboote zurückverwiesen sind. Von den 55.000 in Libyen beim UNHCR (UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge) Registrierten wurden zwischen November 2017 und Ende Juli 2018 1.536 nach Niger im Rahmen des Emergency Transit Mechanism (Notüberführungsmechanismus) evakuiert. Nur 339 Schutzsuchende fanden Aufnahme in Europa und Nordamerika.
Schaffen es trotz der von der EU vorangetriebenen Pläne zur Schließung der Mittelmeerroute doch Flüchtlinge nach Europa, gilt das Motto: Festsetzung, Sortierung, Abschiebung. Das bedeutet Lager, Haft und entweder vermehrte Abschiebung in die Heimat oder die „Auslagerung“ in Drittstaaten. Die EU-Kommission legte am 28.7.2018 ein Konzept für die Einrichtung von „Kontrollierten Zentren“ innerhalb und „Regionalen Ausschiffungsplattformen“ außerhalb der EU-Grenzen vor. In ersteren sollen gerettete Bootsflüchtige bis zu 8 Wochen untergebracht werden, „Asyl-Screening“ und Verteilung stattfinden. Ein Schnellverfahren soll binnen 72 Stunden über Anerkennung, Ablehnung oder Unzulässigkeit der Anträge entscheiden. Letztere unterscheiden sich davon nur dadurch, dass die EU die Verantwortung und die Plattformen auf Nordafrika abwälzt. Die österreichische Hardcorevariante dessen sind „Rückkehrzentren“. Hier sollen alle Asylanträge gestellt werden, in Europa keine mehr. Dort sollen auch alle Personen untergebracht werden, die um Bleiberecht ersuchen bzw. abgewiesene AusländerInnen, die aus in ihrer Person liegenden Gründen (subsidiäre Schutzbedürftigkeit) oder mangels Aufnamebereitschaft ihrer Herkunftsstaaten nicht wieder in die Heimat geschickt werden können.
Mehr Geld und Einsatzkräfte für Frontex stand ebenfalls in der Brüsseler Vorlage vom 12.9.2018. Hier herrschte einhellige Akzeptanz. Der Beginn dieser Maßnahmen verzögert sich indes (s. o.). Die Verhandlungen über eine umfassende Reform des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS), v. a. die Dublin-IV-Verordnung, verliefen dagegen zäh und erzielten kein Ergebnis. PRO ASYL hatte die GEAS-Vorlage aus dem Jahre 2016 als Orbánisierung der europäischen Flüchtlingspolitik bezeichnet: kollektive Aushebelung des Zugangs zum Asylverfahren und Auslagerung der Verantwortung auf Drittstaaten v. a. Nordafrikas, Unterbindung der Weiterwanderung von Asylsuchenden und Geflüchteten innerhalb der EU. Die Organisation spricht von einem Paradigmenwandel im europäischen Flüchtlingsschutz, der das individuelle Asylrecht in der Union infrage stelle. Dass das EU-Parlament am 12.9.2018 mit deutlicher Mehrheit für die Einleitung eines Strafverfahrens nach Artikel 7 des EU-Vertrages gegen Ungarn gestimmt hat, dürfte ein schwacher Trost für diese Orbánisierungsgegnerin bleiben.
Die rassistischen Gesetzesverschärfungen in der EU und der Vormarsch rechtsextremer Kräfte verdeutlichen die Dringlichkeit des Aufbaus einer europaweiten anti-rassistischen Bewegung. Nur so können Klassensolidarität mit den Geflüchteten, der Kampf gegen die Abschottung und Militarisierung der EU-Außengrenzen sowie gegen Angriffe der RassistInnen, der KapitalistInnen und der Regierung nachhaltig und erfolgreich werden. Wir schlagen daher eine Aktions- und Strategiekonferenz vor, die folgende Forderungen diskutieren sollte: