Arbeiter:innenmacht

Frankreichs Präsidentschaftswahlen: Nein zum Rassismus! Nein zum Imperialismus! Bereitet den Kampf vor!

Marc Lassalle, Neue Internationale 263, April 2022

Der Sieger der Präsidentschaftswahlen in Frankreich steht faktisch fest. Auch wenn Macron nach dem ersten Wahlgang am 10. April in die Stichwahl am 24. April gehen wird müssen, so wäre alles andere als eine Sieg des Amtsinhabers ein politisches Wunder.

Das sah nicht immer während der fünf Jahre der Präsidentschaft von Emmanuel Macron so aus, die selbst in zwei unterschiedliche Phasen zerfällt: zwei Jahre neoliberaler Angriffe (Kürzungen bei Renten, Arbeitslosenunterstützung, an Universitäten, in der Sekundarbildung usw.), gefolgt von zwei Jahren, die von der COVID-Pandemie geprägt wurden. In den letzten zwei Jahren hat die Politik des „Whatever it takes“ die Wirtschaft von den großen Unternehmen bis hin zu den kleinen Betrieben gestützt: Infolgedessen ist die Staatsverschuldung auf 115 % des BIP gestiegen (2019 waren es 97 %), aber das System wurde über Wasser gehalten.

Im Vergleich zu früheren Präsidentschaften ging keine größere soziale Bewegung auf die Straße, mit Ausnahme der „Gelbwesten“ im Jahr 2018 und in geringerem Maße des Protests gegen den Gesundheitspass und der Impfgegner:innen. In beiden Bewegungen hat das Kleinbürger:innentum die Führung über die Arbeiter:innenklasse übernommen, teilweise und vor allem bei der No-Vax-Bewegung mit einer ausgesprochen reaktionären Schlagseite.

Die entscheidende Frage für die Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften und die Linke wird daher lauten: Wie können wir den Angriffen in der zweiten Präsidentschaftsperiode Macrons wirksam entgegentreten, die darauf zielen, der Arbeiter:innenklasse die Kosten der Schulden, der Krise und des (Wirtschafts-)Krieges aufzuzwingen? Wie können wir eine soziale und politische Bewegung aufbauen? Wie können wir verhindern, dass der Unmut in der Bevölkerung nicht noch mehr von rechtspopulistischen, rassistischen und gar faschistischen Kräften zu einer kleinbürgerlich-reaktionären Pseudoopposition formiert wird? Wie kann der weitere Niedergang der Arbeiter:innenbewegung gestoppt und umgekehrt werden angesichts der zunehmenden Dominanz kleinbürgerlicher Kräfte bei sozialen und politischen Protesten? Und wie kann angesichts des Ukrainekrieges und der verschärften Blockkonfrontation der Kampf gegen den französischen Imperialismus und seine Verbündeten aufgenommen werden?

Bevor wir uns diesen Fragen zuwenden, müssen wir die Frage beantworten, warum sich Macron eigentlich behaupten konnte? Warum die französische Bourgeoisie und fast das gesamte politische Establishment in der aktuellen Situation auf ihn und seine Präsidialpartei als den zuverlässigsten Sachwalter ihrer Klasseninteressen setzen? Sicherlich spielt ihm unmittelbar der Krieg um die Ukraine dabei hin die Hände. Angesichts der Kriegsgefahr und der patriotischen Mobilisierung, der Beschwörung „westlicher“ und nationaler Einheit wird fast automatisch der Ruf nach einem „starken“ Präsidenten laut.

Krise des traditionellen Parteiensystems

Dass die anderen Kandidat:innen dafür nicht geeignet erscheinen, deren Parteien in schweren Krisen stecken oder nur eine Fraktion der herrschenden Klasse, des Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten repräsentieren, wird durch den Krieg nur noch sichtbarer. Die Ursachen dafür liegen jedoch schon Jahre zurück.

Macrons Wahlsieg vor fünf Jahren und die Bildung seiner Wahlpartei „La République en Marche!“ markierten auch das Ende der über Jahrzehnte von den bürgerlichen Rechten und der Sozialdemokratie geprägten Lagerbildung. Natürlich hatte dieses System auch schon davor durch den Aufstieg des FN oder Brüche in den Lagern (z. B. die Dauerkrise der Sozialistischen Partei) schwere Risse erhalten. Doch Macron brachte es faktisch zum Einsturz.

Kein Wunder also, dass die Kandidatinnen der Sozialistischen Partei, Anne Hidalgo, und Les Républicains (Die Republikaner; LR), der Partei des traditionellen bürgerlichen Lagers, Valérie Pécresse, im Wahlkampf nur eine Nebenrolle spielen.

Der Grund dafür ist einfach: Macron zieht weiterhin viele ehemalige Wähler:innen der Sozialistischen Partei und von Les Républicains an und erscheint als der „glaubwürdigste“ Kandidat, um das System aufrechtzuerhalten. Und zweifellos ist er das aus Sicht der Bourgeoisie auch. Während der Pandemie und jetzt im russisch-ukrainischen Krieg erscheint er als der beste Steuermann, um die Interessen des französischen Imperialismus zu schützen. Seine Regierung, die sich aus Ex-PS- und Ex-LR-Führungspersönlichkeiten zusammensetzt, ist repräsentativ für diese weit verbreitete Meinung und integriert faktisch große Teile der ehemaligen Gefolgschaft der Konservativen und der Sozialistischen Partei. Für viele sozialistische Sympathisant:innen ist er im Vergleich zur radikalen Rechten das geringere Übel. Das geht so weit, dass Anne Hidalgo, die Präsidentschaftskandidatin der PS, mit 3 % in den Umfragen hinter dem Kandidaten der Kommunistischen Partei (4 %) liegt. Am ehesten erscheint noch der linke Populist Jean-Luc Mélenchon, der mit einer Mischung aus sozialen Versprechen und Sozialchauvinismus auf Stimmenfang geht, als Alternative zu Macron. Auch der gemäßigtere Teil der Rechten unterstützt Macron, während ein Teil sich zur extremen Rechten hingezogen fühlt. Dies erklärt, warum Valérie Pécresse in den Umfragen sowohl hinter Macron als auch hinter der extremen Rechten steht.

Rechte Gefahr

Kein Wunder also, dass die Kandidatin des Rassemblement National (RN), Marine Le Pen, in den Umfragen als aussichtsreichste Herausforderin von Macron wirkt. Die Erbin des Front National, der völlig reaktionären Schöpfung von Jean-Marie Le Pen, versucht sich ein „weicheres“ Image zu geben als in früheren Kampagnen. Während ihr Vater, ein ehemaliger Armeeoffizier während des Algerienkriegs, von Zeit zu Zeit antisemitische Provokationen von sich gab, hat sich seine Tochter strikt auf Rassismus und Islamophobie konzentriert. Sie versucht, „gemäßigtere“ bürgerliche oder auch rückständige proletarische Wähler:innen anzusprechen, indem sie die Töne abmildert (z. B. in Bezug auf Abtreibung und gleichgeschlechtliche Ehe), dabei aber denselben rassistischen Inhalt beibehält. Selbst in wirtschaftlichen Fragen ist das Versprechen, aus der Eurozone auszutreten, verschwunden.

Éric Zemmour, seit langem Journalist bei Le Figaro (konservative, wirtschaftsliberale Zeitung) und ein beliebter Gast in Talkshows, ist der Überraschungskandidat dieser Wahl, auch wenn in letzter Zeit seine Umfragewerte sinken. Stark unterstützt von Vincent Bolloré, einem Medienmagnaten, dem mehrere Fernsehsender gehören, hat Zemmour eine sehr aggressive Kampagne gestartet, die auf dem obsessiven Anpreisen einer nationalistischen und fremdenfeindlichen Ideologie beruht. Sein wichtigstes Wahlkampfthema ist die drohende Gefahr des „großen Austauschs“, dem zufolge die echten Französ:innen durch Migrant:innen, hauptsächlich islamischer Religion, ersetzt werden, die fremde Werte ins Land bringen. Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Terrorismus, wirtschaftlicher und politischer Niedergang Frankreichs werden ihnen in die Schuhe geschoben. Während diese völkische „Theorie“ bis vor kurzem das Markenzeichen einer winzigen faschistischen Minderheit war, hat sie sich schnell zu einem weit verbreiteten politischen Konzept entwickelt, das sogar die traditionelle Rechtspartei LR beeinflusst. Obwohl der ideologische Abstand zwischen Le Pen und Zemmour gering ist, verfolgen sie unterschiedliche Strategien. Marine Le Pen versucht, rückständige Schichten der Arbeiter:innenklasse anzusprechen. So versprach sie am Beginn des Wahlkampfs, die Rentenansprüche mit 60 Jahren wiederherzustellen. Sie verspricht eine Lohnerhöhung, eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Energie und einen umfassenden Plan für das Krankenhaus. Der Kern ihres Programms hat sich jedoch nicht verändert: „Stopp der unkontrollierten Einwanderung“, „Ausrottung der islamischen Ideologie“, „Sicherheit überall und für alle“ sind die ersten und wichtigsten Maßnahmen darin.

Zemmour appelliert hingegen an andere reaktionäre Schichten. Er wird stark vom fundamentalistischen Katholizismus (einschließlich Opus Dei und der Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe), offen faschistischen und identitätspolitischen Gruppen unterstützt. Er hält Verbindungen zum eher rechtsgerichteten Sektor von LR und wird von mehreren führenden Persönlichkeiten des RN unterstützt. Er hofft, diese Kräfte in einer neuen Partei zu bündeln, falls Marine Le Pen nicht gewählt wird.

Sowohl Le Pen als auch Zemmour leiden im Moment unter dem Krieg in der Ukraine. Beide bewundern Putin als starken Führer, Autokraten und für seine Verteidigung der westlichen Zivilisation. Marine Le Pen hat bei einer früheren Wahl von russischen Geldern profitiert. In den letzten Tagen musste sie 1,2 Millionen Flugblätter mit einem Bild von ihr beim Händeschütteln mit Putin verwerfen. Zemmour versicherte ein paar Tage vor der Invasion in die Ukraine, dass Russland niemals einmarschieren werde. Auch wenn das Macron in die Hände spielt und seine Wiederwahl erleichtert, so werden seine Präsidentschaft und die kommenden Angriffe jedoch weiter einen fruchtbaren Boden für rechte Demagogie, Hetze und deren Erstarken als angeblich Systemopposition bieten.

Die „Linke“ und die Arbeiter:innenklasse

Dass der Sieg Macrons feststeht und er sich wohl auch bei den Parlamentswahlen im Juni einer satten parlamentarischen Mehrheit erfreuen wird können – sei es durch die Deputierten seine Partei, sei es durch die Einbindung der bürgerlichen „Mitte“ von Konservativen, Sozialdemokratie und Grünen – und die Rechte als einzige „Opposition“ zu erscheinen vermag, liegt jedoch nicht an der inneren Stärke Macrons und seiner Bewegung, sondern vor allem auch an der historischen politischen Schwäche der Arbeiter:innenklasse.

Natürlich fanden auch den letzten Jahren wichtige Kämpfe statt, so vor allem unter den Krankenhausbeschäftigten und den Lehrer:innen wegen der chaotischen, widersprüchlichen und mangelhaften Gesundheitsmaßnahmen, eine starke, aber kurzlebige Serie von antirassistischen Demonstrationen zur Zeit der Black Lives Matter und in jüngster Zeit eine Reihe von Arbeitskämpfen um Löhne. Letztere dauern in einer beeindruckenden Anzahl von Unternehmen noch an: RATP (Pariser Busse und Straßenbahnen), Lustucru (Lebensmittel), Alstom (Züge), Dassault (Kampfflugzeuge), BioMérieux (Pharmazeutika).

Die steigenden Lebenshaltungskosten vor dem Hintergrund einer zunehmenden Inflation und die Tatsache, dass die Löhne seit Jahrzehnten auf einem niedrigen Niveau festgeschrieben sind, erklären leicht die Welle der Kämpfe, während gleichzeitig die Gewinne der großen französischen Unternehmen Rekordhöhen erreichen. Einige Streiks sind erfolgreich und in anderen Sektoren sind die Bosse zu Lohnerhöhungen bereit, aber die wichtigsten Gewerkschaften waren bisher nicht in der Lage oder nicht willens, eine landesweite Kampagne zu dieser Frage zu starten. Während Lohnerhöhungen und die Umwelt an erster Stelle der Themen von allgemeinem Interesse stehen, wird die politische Szene seit Monaten von den rechtsextremen Parteien und ihrer rassistischen Propaganda gegen die Einwanderung beherrscht.

Das liegt vor allem daran, dass die Arbeiter:innenbewegung selbst nicht als politischer Faktor, als führende Kraft auf nationaler Ebene in Erscheinung tritt. Die PS befindet sich in einer wohlverdienten Todeskrise. Die KP dümpelt seit Jahren vor sich hin und ordnete sich faktisch Mélenchon unter. Dessen immer offenere Wende weg von einer reformistischen bürgerlichen Arbeiter:innenpolitik zum Linkspopulismus führte zwar zum Bruch mit der KP (PCF), deren Politik wurde freilich dadurch nicht besser.

Der Spitzenkandidat der Linken ist Jean-Luc Mélenchon mit einer neuen Bewegung namens Union Populaire. Trotz des Namens vereint die „Union“ nur ihn und seine Freund:innen. Das bisherige Wahlbündnis Front de Gauche mit PCF und anderen Kräften ist unrühmlich untergegangen.

Sein Programm ist ein sozialchauvinistisches, proimperialistisches Manifest. Nebeneinander stehen fortschrittliche Reformen und eine starke Restauration des französischen Imperialismus, der angeblich durch EU und NATO behindert werde. Auf der einen Seite: Erhöhung des Mindestlohns, Senkung des Rentenalters, Besteuerung der Reichen, ökologische Planung. Auf der anderen Seite kann man in seinem Programm lesen: „Lasst uns eine große Nation sein“, „Industrielle und gesundheitliche Souveränität“, „Für ein unabhängiges Frankreich“, „Frankreich ist eine Seemacht, die sich selbst ignoriert“ – eine Anspielung auf seine Überseegebiete, in Wirklichkeit Kolonialbesitz. Und weiter: „Seine Wirtschaft, seine militärische Souveränität, seine Geographie und vor allem seine wissenschaftliche und kulturelle Ausstrahlung machen Frankreich zu einer Weltmacht“. „Wir müssen den Wettlauf mit den Weltraumwaffen bekämpfen und gleichzeitig die Souveränität Frankreichs sicherstellen.“

Verschwunden sind zugleich alle Verweise auf die Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften, die sozialen Bewegungen, eine Transformation des Systems. Mélenchon verspricht, ein neuer linker Bonaparte zu sein, der über eine unbestimmte Masse von „Menschen“ regiert.

Auch wenn er in den Umfragen der weitaus bestplatzierte „linke“ Kandidat ist, so ist er keiner, der sich auf die organisierte Arbeiter:innenbewegung stützt. Seine Mutation zum Populismus, zu einer angeblich klassenübergreifenden „Volks“-Politik und sein immer offenerer Nationalismus und Sozialchauvinismus verdeutlichen die politische und ideologische Krise der Arbeiter:innenklasse und der Linken, wie sie in den Wahlumfragen zum Ausdruck kommt.

Radikale Linke

Nach 5 Jahren Macron hat sich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen zuungunsten der Arbeiter:innenklasse, rassistisch Unterdrückten, der sozialen Bewegungen und der Linken verschoben. Das betrifft auch die  „radikale“ Linke.

Drei verschiedene Strömungen versuchten, mit einer/m Kandidat:in bei den Wahlen anzutreten. Zwei schafften es: Natalie Arthaud von Lutte Ouvrière und Philippe Poutou von der NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste). Anasse Kazib von Révolution Permanente scheiterte klar an der undemokratischen Hürde für die Teilnahme an den Wahlen, die darin besteht, mindestens 500 Unterstützungsunterschriften von Bürgermeister:innen zu erlangen.

Es ist leicht abzusehen, dass der nächste Präsident die Arbeiter:innenklasse angreifen wird. Frankreich verliert auf wirtschaftlicher und vor allem industrieller Ebene gegenüber Deutschland, aber auch Italien an Boden. Seine Staatsverschuldung ist hoch, seine Handelsbilanz stark im Minus. Die einzige Möglichkeit, seinen Status als mittelgroße imperialistische Macht zu behalten, besteht darin, die Schuldenlast auf die Schultern der Lohnabhängigen abzuwälzen, mit Angriffen auf Renten, Schulen, Krankenhäuser, Löhne usw. Die kommenden wirtschaftlichen Turbulenzen und der Anstieg der Energiekosten werden noch schärfere Angriffe erfordern.

Im Grunde erkennen das Arthaud wie auch Poutou (und Kabiz) an. So heißt es bei Nathalie Arthaud: „Ich trete nicht an, um Wahlversprechen zu machen, sondern um einen Kampfplan vorzulegen und die entscheidenden Forderungen für den Kampf von morgen zu popularisieren.“

Leider gibt es im Programm von Lutte Ouvrière, ganz ähnlich wie bei den früheren LO-Kampagnen, nichts, was einem Kampfplan ähnelt. Vielmehr handelt es sich um eine hölzerne Auflistung grundlegender marxistischer Lehren, die an sich absolut richtig sind, aber nicht ausreichen, um die Massen zu mobilisieren und einen Weg für ihre Kämpfe aufzuzeigen. Stattdessen verschiebt LO dies in die Zukunft: „Ja, die Zukunft hängt von der nächsten Revolution der Arbeiter:innen ab, ihrer Fähigkeit, den Kapitalismus zu stürzen, ihn zu enteignen und die Macht zu übernehmen.“ In der Zwischenzeit kann man nichts anderes tun, als LO zu wählen und sich in ihre Reihen einzureihen.

Doch auch das Programm von Poutou geht nur sehr bedingt darüber hinaus. Es erhebt eine Reihe durchaus richtiger sozialer und politischer Forderungen, um die die Klasse mobilisiert werden soll – aber ihre Verbindung zur aktuellen Lage, zur gegenwärtigen Situation fehlt. Das Programm liest sich so, als hätte es auch vor fünf oder zehn Jahren vorgelegt werden können.

Das Programm von Kazib formuliert zwar viele Punkte in einer deutlicheren Sprache, es leidet aber ebenso wie jenes von Poutou und Arthaud an einer entscheidenden Schwäche: Es umschifft die Frage, wie die Arbeiter:innenklasse, die Gewerkschaften überhaupt aus der aktuellen Defensive herauskommen können – sprich der Einheitsfront gegen die Angriffe. Forderungen an die aktuellen gewerkschaftlichen Führungen der Klasse fehlen fast vollständig.

Dies hängt mit einem zweiten Problem der „radikalen Linken“ zusammen. Die Verschlechterung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, das sich auch darin ausdrückt, dass sämtliche Kandidat:innen, die sich auch nur im weiteren Sinn auf die Arbeiter:innenklasse stützen (also auch jene von KP und PS) sowie die radikale Linke zusammen unter 10 % liegen, wird nicht angesprochen, ja eigentlich beschönigt. Das zeigt sich einerseits darin, dass eine Analyse des Klassencharakters der Gelbwesten fehlt. Diese Bewegung wird vielmehr als reiner Hoffnungsschimmer präsentiert. Dabei spiegeln der Populismus wie auch die elektorale Stärke der Rechten bei deren Anhänger:innen den kleinbürgerlichen Charakter dieser Bewegung wider. Noch deutlicher wird dieser bei der direkt reaktionären Bewegung der Impfgegner:innen.

Während über Jahre die Gewerkschaften viele soziale Bewegungen in Frankreich prägten, so ist dies heute nicht mehr der Fall. Die Arbeiter:innenklasse hat als soziale Kraft dem Kleinbürger:innentum und damit zahlreichen reaktionären, klassenübergreifenden politischen Konzepten das Feld überlassen.

Daher ist ein klarer Bruch mit dieser Anpassung an den Populismus notwendig – nicht nur hinsichtlich Mélenchons, sondern auch hinsichtlich des Bewegungspopulismus. Ansonsten steht der Kampf gegen die rechte Gefahr und deren Einfluss auf tönernen Füßen.

Schließlich hat auch der Einmarsch Russlands in die Ukraine in Frankreich eine gewaltige Welle imperialistischer Propaganda ausgelöst, auch weil das Land und Macron eine besondere Rolle innerhalb der EU (es ist die einzige Atommacht in der EU) und in den diplomatischen Beziehungen zu Putin spielen.

Lutte Ouvrière verurteilt richtigerweise die Rolle der NATO in der Region wie auch jene Frankreichs. Sie lehnt jedes Bündnis mit Macron ab. Weit weniger klar ist die NPA. Auch wenn sie NATO und Imperialismus ablehnt, so betrachtet sie den Kampf um die Ukraine nicht in erster Linie als einen um die Neuaufteilung der Welt zwischen den Großmächten.

Die NPA folgt hier der Erklärung der Vierten Internationale (ehemaliges Vereinigtes Sekretariat) und verliert kein Wort über die Rolle der extremen Rechten in der Ukraine, über die Rolle, die Selenskyj und seine Regierung im Dienste der NATO spielen, über die großen Oligarchen, die hinter ihm stehen, oder über die reaktionäre Politik gegen den Donbass und die Russophonen. Die NPA geht sogar so weit, die Sanktionen zu unterstützen. „Die gegen Putin verhängten Sanktionen werden wahrscheinlich wenig Wirkung zeigen. Aber wir haben keinen Grund, uns dagegen zu wehren, solange sie nicht zu einer Waffe gegen das russische Volk werden.“

Diese Position ist gleich in mehrfacher Hinsicht falsch und gefährlich. Erstens müssen die  Sanktionen, die nicht auch zur Waffe gegen russische Volk werden, noch erfunden werden. Zweitens treffen die verhängten Sanktionen natürlich die russische Wirtschaft und drittens spitzen sie die Blockkonfrontation dramatisch zu. Diese Schwäche der NPA, gegen den eigenen Imperialismus offen Position zu beziehen, muss von ihrem linken Flügel und von all jenen, die Hoffnungen in die durchaus lebendige und, für die Größe der NPA, mobilisierende Kampagne von Poutou hegen, offen kritisiert werden.

Im Vorwahl- und Wahlkampf war die NPA bzw. ihr Kandidat in der Lage, nicht nur in Großstädten, sondern landesweit recht große Versammlungen abzuhalten und in mittelgroßen Städten auch regelmäßig hunderte Menschen zu mobilisieren. Natürlich wird das am Ergebnis insgesamt wenig ändern, aber anders als Arthaud repräsentiert Poutou Teile der sozialen Bewegungen und Kämpfe der letzten Jahre. Daher rufen wir zu seiner Wahl auf, ohne die Kritik an seinem Programm, das zwischen revolutionären und reformistischen Positionen schwankt, zu verheimlichen.

Die entscheidende Frage ist allerdings, wozu Poutou (und auch Arthaud) ihre Wähler:innen über die Wahlen hinaus mobilisieren. Die Versammlungen und Agitation müssen zum Aufbau einer Bewegung gegen die zukünftige Macron-Regierung, den französischen Imperialismus, die laufenden und kommenden sozialen Angriffe, den staatlichen Rassismus und die rechten Bewegungen genutzt werden. Dazu brauchen die NPA und die gesamte radikale Linke nicht nur ein konkretes, zugespitztes Aktionsprogramm. Sie sollten zugleich jetzt die Initiative ergreifen, auf lokaler Ebene, in den Betrieben, an Schulen und Unis Versammlungen zur Organisierung von Aktionsausschüssen gegen die drohenden Angriffe, den Krieg, rassistische Attacken aufzurufen, und dies von den Gewerkschaften und allen Organisationen der Arbeiter:innenbewegung einfordern.

Zweitens verdeutlichen die Wahlen auch, dass es für die getrennte Kandidatur von Poutou und Arthaud (und auch für den Antritt von Kabiz) auf unterschiedlichen zentristischen Programmen eigentlich keine politische Rechtfertigung gibt. Sie mögen in einzelnen Punkten radikaler oder angepasster sein. Im Grunde fehlt jedoch allen ein Verständnis des aktuellen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen und eine korrekte Anwendung einer Einheitsfrontpolitik gegenüber den Gewerkschaften und Massenbewegungen.

Daher müsste die NPA ihren Wahlkampf auch nutzen, um alle Kräfte zusammenzuführen, die die Notwendigkeit einer revolutionären politischen Alternative zum Linkspopulismus und Reformismus der PS und KP proklamieren, um offen über die Grundlagen einer größeren, revolutionären Partei und einen Plan zum Aufbau eine Bewegung gegen die Regierung zu diskutieren.

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