Arbeiter:innenmacht

Das „Prekariat“ – Klassenlage und Klassenkampf

Tobi Hansen, Revolutionärer Marxismus 44, November 2012

Die Begriffe „Prekariat“ oder „Prekarisierung“ sind vor einigen Jahren in den Sozialwissenschaften entwickelt worden. Mittlerweile haben sie Eingang in die bürgerliche Öffentlichkeit gefunden. Kein Wunder, denn die unter „Prekariat“ subsummierten Schichten der Bevölkerung sind spätestens im letzten Jahrzehnt auch in Deutschland zu einem Massenphänomen geworden, das schier unaufhaltsam weiter zunimmt.

Verwendung in der Soziologie

In der Soziologie wird „Prekariat“ auch mit „Unterschicht“ kombiniert oder zumindest festgestellt, dass „die Grenzen fließend sind“. In unserem Artikel wollen wir die soziologische Betrachtungsweise verlassen und das Prekariat einer Klassenanalyse unterziehen. Dabei untersuchen wir, welche Beschäftigungsgruppen und -verhältnisse unter „Prekariat“ zusammen gefasst werden, welche Interessen beim „Arbeitgeber“, dem Kapital, hinter diesem Prozess stehen. Wir stellen uns auch die Aufgabe, programmatische Antworten für diese Teile der Klasse zu entwickeln bzw. das Prekariat als Teil der Arbeiterklasse zu definieren.

Dabei fragen wir, welche Rolle die Gewerkschaften für diese Beschäftigten einnehmen können und wie die DGB-Gewerkschaften auf diese neuen Beschäftigungsverhältnisse reagieren sollten, welche Forderungen und welche Organisierung sinnvoll ist.

Erweitern wollen wir das „Prekariat“ auch um die Bereiche, welche nicht ausschließlich im Niedriglohnbereich zu finden sind. Auf die Gruppen, welche in die „Selbstständigkeit“ getrieben wurden, die entkoppelt worden vom „unbefristeten“ Arbeitsverhältnis. Dazu gehören auch die Veränderungen am Arbeitsmarkt, die Neustrukturierung des Kaufs der Ware Arbeitskraft durch das Kapital – sei es durch „Arbeitsverleiher“ oder Internetplattformen fürs Projektmanagement.

Schließlich müssen wir diese Prozesse auch einordnen in die aktuelle Krisenperiode des globalen Kapitalismus. Die Entwicklung eines „Prekariats“ in der BRD steht im internationalen Zusammenhang der kapitalistischen Arbeitsteilung und den Anforderungen an das globale Proletariat bzw. was sich der Kapitalismus darunter vorstellt.

Neben diesen Einordnungen wird es auch wichtig sein, einen Blick auf die Lebenswirklichkeit dieser Teile der Beschäftigten zu werfen, um anhand dessen die Möglichkeiten, aber auch die Einschränkungen für den politischen Kampf wahrzunehmen.

Über wen sprechen wir überhaupt?

Wir beginnen bei der Sprache. Bei Wikipedia lesen wir: „Prekariat ist ein Begriff aus der Soziologie und definiert „ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose“ als eine neue soziale Gruppierung. Der Begriff selbst ist ein Neologismus, der vom Adjektiv prekär (schwierig, misslich, bedenklich) analog zu Proletariat abgeleitet ist. Etymologisch stammt das Wort „Prekariat“ vom lat. precarium = ein bittweises, auf Widerruf gewährtes Besitzverhältnis (Prekarium).“ (1)

In dieser sprachlichen Herleitung finden wir einige Hinweise über die Beschäftigungsverhältnisse. Besonders das Prekarium bringt schon inhaltlich die heutige Form der Zeitarbeit auf den Punkt – das auf kurze Zeit befristete Verhältnis des Verkaufs der Ware Arbeitskraft.

Widersprüchlich ist sicher die Definition als „neue soziale Gruppierung“, da der „ungeschützte Arbeitende und Arbeitslose“ keine neue Entwicklung im Kapitalismus ist, sondern eine wichtige Grundlage des Aufstiegs des Kapitalismus als Weltsystem darstellt. Hinzu kommt, dass diese Lage für die Masse der Lohnabhängigen außerhalb der imperialistischen Zentren (und der degenerierten Arbeiterstaaten, solange sie existierten) immer ein durchaus „normales“ Verhältnis darstellte.

Wenn Soziologen von einer „neuen“ Gruppierung sprechen, dann meinen sie meist den Gegensatz zum „Normalarbeitsverhältnis“. Dieser Gegensatz ist natürlich vorhanden, wie auch die soziale Differenzierung innerhalb der Arbeiterklasse nicht neu ist. Im Gegenteil: die Geschichte des Kapitalismus ist immer von Differenzierungen in der Arbeiterklasse geprägt, die auch einem historischen Wandel unterworfen sind.

Die erste und wichtigste, treibende Veränderung ist dabei die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Diese hat z.B. eine permanente Tendenz zur Entwertung der Ware Arbeitskraft und eine permanente Tendenz, die Arbeiterklasse zum Verkauf der ihrer Arbeitskraft unter ihrem Wert zu treiben – durch die Herausbildung einer „industriellen Reservearmee“ und einer „relativen Überbevölkerung“. So spricht Marx im Kapital schon von der Entwicklung von Schichten des Subproletariats, vom Pauperismus bis hin zum Absinken ins Lumpenproletariat. (2)

Ende des 19. Jahrhunderts analysierte auch Engels, dass das britische Welthandelsmonopol zur Absonderung einer relativ privilegierten Schicht der Arbeiterklasse – der „Arbeiteraristokratie“ führt. (3) Lenin arbeitet später in seiner Analyse des Imperialismus heraus, dass die „Arbeiteraristokratie“ zu einem allgemeinen Phänomen aller imperialistischen Staaten und zu einer sozialen Hauptstütze des Reformismus, zur Basis bürgerlicher Arbeiterparteien – und damit zur Sicherung bürgerlicher und imperialistischer Herrschaft – wird. (4) Dieses Phänomen hat sich bis heute erhalten und lässt sich selbst in halb-kolonialen Ländern, insbesondere den industriell entwickelten finden, wenn auch als weitaus kleinere Schicht innerhalb der Arbeiterklasse.

Bildlich gesprochen: Der „Arbeiteraristokrat“ ist heute jener, dessen Haustarifvertrag höher ist als der Flächentarifvertrag der Branche, der, welcher nach zwei Nullrunden während der Rezession eine Prämie im fünfstelligen Bereich ausgeschüttet bekommt – in der BRD arbeitet dieser meist in der Exportindustrie.

Der „Subproletarier“ wäre heute dann wohl in der Zeitarbeit beschäftigt, wäre „saisonal“ arbeitslos und müsste den Zeitarbeitslohn von der ARGE „aufstocken“ lassen oder hätte am Wochenende noch einen Mini-Job.

Diese simple soziale Gegenüberstellung lässt Zweifel aufkommen, inwieweit der Begriff „Normalarbeitsverhältnis“ eine brauchbare Kategorie ist. Wenn die Soziologie damit die unbefristete Festanstellung mit überdurchschnittlichem Lohn und Sozialversicherung meint, so müssen wir – marxistisch betrachtet – feststellen, dass dieses im Kapitalismus nie „normal“ war, also nie für die Mehrheit der globalen Arbeiterklasse galt. Nur für einzelne Länder waren sie für einen begrenzten Zeitraum von 30-40 Jahren die Regel.

Hinzu kommt, dass das „Normalarbeitsverhältnis“ selbst nicht einfach vom Kapital zugestanden wurde, sondern meist erst nach Kämpfen der Lohnabhängigen.

Zunahme prekärer Verhältnisse

Der Prozess der „Prekarisierung“ von Beschäftigung lässt sich v.a. in der Zunahme der Zeit- und Leiharbeit in der BRD in den letzten 10 Jahren feststellen. Prekarisierung bedeutet dabei, dass Teile der vormaligen „Normal“arbeitsverhältnisse – grob gesagt unbefristete, tarifliche Beschäftigung – entrechtet wurden.

An erster Stelle steht dabei die zeitliche Befristung der Beschäftigung. Dem folgt zwangsläufig die Senkung des Lohns und die Auslagerung von Produktionsstätten und Sphären aus dem Kernbereich des Unternehmens.

Gleichzeitig werden vormals „volle“ Stellen in Teilzeitstellen umgewandelt. Unter dem Stichwort „Flexibilität“ ist vom 400-Euro-Minijob, über 630-Euro-Stellen und „Teilzeit“ oder Altersteilzeitmodelle ziemlich viel zu finden.

Diese Veränderung des Arbeitsmarktes war eine direkte Folge der „Hartz-Gesetz“ unter Rot/Grün, die Agenda 2010 war seit der  kapitalistischen Wiedervereinigung der heftigste Angriff in der BRD-Geschichte auf das Lohnniveau der Arbeiterklasse und der  Arbeitslosen.

Durch diese Angriffe explodierte der Leih- und Zeitarbeitssektor, ebenso wurde ein staatlicher Zwangsarbeitssektor durch die Ein-Euro-Jobs eingeführt. Für die Ausbreitung der Leiharbeit war das VW-Projekt „5.000 x 5.000“ der Startschuss, dabei bekamen die VW-internen LeiharbeiterInnen damals 5.000 DM brutto, ca. ein Drittel weniger als der damalige Haustarif bei VW. Inzwischen haben alle „Global Player“ des deutschen Kapitals ausgegliederte Beschäftigungsgruppen. Zumeist gehört den Konzernen auch die Leiharbeitsfirma, mit denen ganze Bereiche der Produktion niedriger bezahlt werden.

Auch die Einführung der „Ich -AG´s“ gehört zu dieser Neustrukturierung der Beschäftigungsverhältnisse, dort entstand ein Druck Richtung Selbstständigkeit inkl. günstiger Kredite, wodurch in Hochzeiten über 100.000 als „Ich AG“ geführt wurden.

Alle heutigen Entwicklungen im „Prekariat“, im Niedriglohnbereich haben daher einen Ausgangspunkt in den Angriffen der Schröder/Fischer Regierung. Hier sollte der Arbeitsmarkt „fit für die Globalisierung“ gemacht werden, dies hieß v.a. Lohnsenkung im großen Stil, Kürzung der sozialen Transferleistungen inkl. der Zusammenlegung von ALG 2 und Sozialhilfe.

Als Folge davon konnte die offizielle Arbeitslosigkeit gesenkt werden, die Beschäftigungszahlen stiegen, während die Lohnstückkosten in den letzten 10 Jahren fielen und die Reallöhne sanken – insoweit war ein wichtiges Ziel des deutschen Kapitals erreicht.

Ausmaß prekärer Beschäftigung

Von den ca. 40 Millionen Beschäftigten, die in der BRD gezählt werden, sind 14 Millionen Stellen nicht oder nur eingeschränkt sozialversicherungspflichtig. Die Zahlen der voll sozialversicherungspflichtigen Jobs sinkt konstant und liegt derzeit bei ungefähr 26 Millionen.

Im Niedriglohnbereich arbeiten derzeit nach verschiedenen Zählungen zwischen 6-8 Millionen Beschäftigte. Dazu kommen die Beschäftigten im Teilzeitbereich mit halben oder „Drittel“-Stellen, Mini-Jobs und in Altersteilzeit.

Die ILO hat folgende Definition für prekär Beschäftigte: „ …die aufgrund ihres Erwerbsstatus nur geringe Arbeitsplatzsicherheit genießen, die wenig Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung ihrer Arbeitssituation haben, die nur partiell im arbeitsrechtlichen Schutzkreis stehen und deren Chancen auf materielle Existenzsicherung durch Arbeit in der Regel schlecht sind.“ (5)

In der BRD orientiert sich die Existenzsicherung am allgemeinen Durchschnittslohn. Dieser lag im 1. Quartal 2011 bei ca. 3.200 Euro brutto. 36% aller Beschäftigten verdienen weniger als 2/3 des Durchschnittslohns, mehr als die Hälfte von diesen verdient weniger als die Hälfte des Durchschnittslohns. Diese Lohngruppen stellen den Niedriglohnbereich bzw. die als „Working Poor“ bezeichneten Teile der Klasse dar.

Besonders die Zunahme der „Mini-Jobs“ von 1996-2006 um 163% (6) ist eine entscheidende Triebfeder der Prekarisierung. Hier werden immer mehr „Normalarbeitsverhältnisse“ in Teilzeit- oder Mini-Jobs verwandelt. Immer mehr Menschen müssen mehrere Jobs ausüben, wie auch gleichzeitig größere Bereiche der Klasse unbefristet und unsicher beschäftigt sind. Dabei steigt zwar die Gesamtzahl der Beschäftigten, aber nicht die Zahl der Arbeitsstunden, diese werden nur auf mehr Köpfe und Hände verteilt.

Generation prekär?

Es ist nicht verwunderlich, dass gerade die junge Generation einen Hauptteil der prekär Beschäftigten ausmacht. An dieser Generation werden die Neuerungen des Arbeitsmarkts direkt getestet. Somit ist die Jugend im Niedriglohnbereich führend, ebenso in der Erwerbslosigkeit (doppelt so hoch wie im Durchschnitt).

Laut einer Jugendstudie des DGB arbeiten nur 30% der unter 35jährigen in einem „Normalarbeitsverhältnis“, inkl. unbefristeter Anstellung und einem Lohn von mindestens 2.300 Euro brutto. Einen wichtigen Teilaspekt der „Generation Praktikum“ macht auch die Herausbildung eines wissenschaftlichen Prekariats aus. Zur „Generation Praktikum“ gab es eine Kampagne der DGB-Jugend. Bei den öffentlichen Kundgebungen und Aktionen liefen zumeist AktivistInnen mit weißen Masken, welche die „Gesichtslosen“ der Betriebe und Firmen darstellen sollten – gesichtslos sind diese zumeist auf den Lohnzetteln, aber nicht in den Abteilungen und gegenüber den anderen Beschäftigten.

So kennt fast jeder Azubi auf der Berufsschultour der DGB-Jugend Berlin-Brandenburg PraktikanntInnen im Betrieb und fast jeder kennt auch ein Hauptmerkmal – die PraktikantInnen arbeiten umsonst. Diese Sklaven-Praktika bestimmen den Markt und gelten oft als Voraussetzung für zukünftige Einstellungen oder für einen Ausbildungsplatz. Die Hälfte dieser Stellen wird nicht entlohnt – trotz Vollzeit und oft vergleichbarer Arbeit wie die Festangestellten. Wenn dann doch Lohn oder “Entschädigung“ gezahlt wird, dann werden 30% der Praktika mit weniger als 500 Euro entlohnt. Davon kann niemand leben. Dort müssen dann die Einkommen der Eltern oder Erspartes dran glauben.

Die Azubis wissen auch, dass diese PraktikantInnen KonkurrentInnen am Arbeitsplatz sind. Zwischen 16 und 18 müssen viele Jugendliche ein Praktikum machen, um überhaupt Chancen auf einen Ausbildungsplatz zu haben. Gerade für Jugendliche mit einem mittleren Schulabschluss (z.B. Realschule) oder mit Hauptschulabschluss ist das Praktikum meist die Einstiegserfahrung in den Arbeitsmarkt.

Dieser Einstieg wird mittlerweile aber auch für viele HochschulabsolventInnen zur ersten Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt. Inzwischen berichten auch bürgerliche Medien regelmäßig über die Praktika-Rotation von Uni-AbsolventInnen bei Großkonzernen. Es wird davon geredet, wie die Hoffnung auf eine Festanstellung beständig schwindet und das nächste Praktikum begonnen wird. Besonders die „Projektabteilungen“ der Konzerne, welche meist selber schon „outgesourct“ sind, beschäftigen so immer wieder dutzende PraktikantInnen – per Kooperation mit den jeweiligen Fachbereichen an den Unis wird so für steten Nachschub gesorgt.

Ideologisch verbrämt wird dieses Dilemma der kapitalistischen Arbeitswelt durch das Motto „einen Fuß in die Tür bekommen“. Damit wird seit Jahrzehnten das Umsonst-Praktikum beworben. So könne man sich am besten für eine feste Stelle präsentieren. Daraus haben die meisten Unternehmen eine Beschäftigungsnische geschaffen, in der den PraktikantInnen regelmäßig die Tür wieder zugeschlagen wird, was aber kein Problem ist, da die nächsten schon auf Abruf bereit stehen.

Sollte die Erwerbslosigkeit am Beginn stehen, dann sorgt die Arbeitsagentur für die Eingliederung in den Niedriglohnbereich. Wenn 18jährige nach der Schule Hartz IV beantragen, da sie keine Ausbildungsstelle bekommen haben, investiert die ARGE keine Mittel in die Ausbildung und Qualifizierung der Jugendlichen; sie werden vielmehr zu den Leih- und Zeitarbeitsfirmen gejagt. Nach der nun gültigen Eingliederungsvereinbarung darf der Jugendliche keinen Zeitarbeitsjob mehr ablehnen. Wenn er/sie das dennoch tut, droht sofort eine 20prozentige Kürzung und im nächsten Schritt die Streichung von Geldleistungen. Diese Jugendlichen landen zumeist in Hilfsarbeiterjobs, werden saisonal von Zeitarbeitsfirmen an die Großfirmen verschachert und bilden eine Kernschicht des Niedriglohnsektors in Deutschland.

Auf der anderen Seite finden wir die jungen AkademikerInnen, die seit der BA/MA-Reform einige akademische Privilegien verloren haben. Dort nimmt die Prekarisierung v.a. die Form der Befristung an, von Teilzeitarbeit und geringeren Aufstiegsmöglichkeiten. Während die Fachbereiche mit Drittmittelförderung durch Unternehmen neue Stellen schaffen können bzw. dortige Privilegien weiter Bestand haben, sind andere Fachbereiche von Kürzungen und Rationalisierungen betroffen, gerade dort tritt eine „Proletarisierung“ verschiedener akademischer Mittelschichten ein.

Prekariat, Arbeitslose, ArbeiterInnen

Während die Soziologie das Prekariat als „Grenzgänger des Arbeitsmarkts“ vom „normalen“ Proletariat trennt, muss eine Klassenanalyse tiefer greifen. Die soziologischen Trennungen beziehen sich auf Lebenswelten und Einstellungen, also eher Beobachtungen an der Oberfläche – wobei dann „grundlegende Unterschiede“ festgestellt werden und deswegen die Gruppen sozial getrennt werden. Solche Erscheinungen der Lebenswelt bzw. die Unterschiede sind natürlich wichtig, um das Prekariat gesellschaftlich zu verorten, um daraus eine Perspektive des sozialen und politischen Kampfes zu entwickeln und letztlich Forderungen für diese soziale „Schicht“ der Arbeiterklasse zu entwickeln, genau wie es für Arbeitslose, weibliche Beschäftigte, MigrantInnen und die Jugend ebenso nötig ist, spezifische Forderungen aufzustellen und Organisationsformen zu schaffen, die ihrer Benachteiligung innerhalb der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen entgegenwirken.

Gerade dort, wo die prekär Beschäftigten zwischen Beschäftigung und Arbeitslosigkeit pendeln, gehören diese „Grenzgänger“ natürlich zum Proletariat und teilen dessen Interessen, wie sie auch objektiv die Interessen der Arbeitslosen vertreten müssten, da auch sie mit Hartz, mit Aufstockung etc. ihre Erfahrungen haben. Natürlich werden diese Gruppen sozial und politisch gegeneinander in Stellung gebracht, die ideologische Spaltung der Arbeiterklasse will niemand bestreiten, ebenso wenig die massive Zunahme der Konkurrenz untereinander, welche die Spaltungen vertieft.

Aber im Gegensatz zur Soziologie muss es das Ziel einer marxistischen Analyse sein, die Interessen der Gesamtklasse zu formulieren und alle „neuen“ Entwicklungen darin zu integrieren. Wir fixieren uns eben nicht nur auf die soziotopischen Unterschiede, sondern richten unseren Blick auf die gemeinsamen Interessen im Klassenkampf gegen Kapital und bürgerlichen Staat – und da gibt es sehr viele Überschneidungen. Daher müssen hier die Entwicklungen bei den Erwerbslosen, den Beschäftigten und darunter und dazwischen dem Prekariat stets als Ganzes verstanden und analysiert werden – nur so wird ein gesamtgesellschaftlicher Kontext deutlich.

Die Arbeiterklasse verändert sich in ihrer Zusammensetzung, die Bedingungen der Ausbeutung werden derzeit neu bestimmt, die Prekarisierung ist ein Hauptmittel dabei. Wenn dort soziologische „Schnitte“ angebracht werden, dient dies meist einer ausführlichen Einzelbetrachtung der jeweiligen Existenz, was sicherlich auch interessant ist – allerdings entwickelt es eben keine wissenschaftliche Antwort auf das „Warum“, sondern bleibt beim „Wie“ stehen. So bleibt die Kapitalismus-Analyse meist auf ein „Ende des Postfordismus“ beschränkt, seitdem verändern sich die Arbeitsprozesse und deswegen auch die sozialen Verhältnisse.

Natürlich müssen wir bei der Klassenanalyse auch die neuen Formen der Selbstständigkeit berücksichtigen. Dort werden Viele ins Kleinbürgertum gedrängt, meist unfreiwillig, sei es nun als selbstständige/r KurierfahrerIn, AltenpflegerIn oder als „Freelancer“ in der IT Branche. Während dort Teile der Arbeiterklasse ausgesondert werden, für die es dann meist keine „normalen“ Festanstellungsverhältnisse mehr gibt, gibt es auch eine verschärfte Konkurrenz im Kleinbürgertum selbst. Zuletzt wurde dies v.a. beim „wissenschaftlichen Prekariat“ untersucht. Dort befindet sich v.a. das „Bildungsbürgertum“ in einer gewissen „Prekarisierung“, heißt konkret Verlust von festen Stellen und Privilegien – was auch mit „Proletarisierung“ bezeichnet werden könnte.

Internationale Arbeitsteilung im Imperialismus

Die Aussonderung bestimmter Teile der Arbeiterklasse ist kein neues Phänomen, es liegt in der Natur des Kapitalismus selbst, stets „überflüssige Arme“ (Arbeitskräfte) zu reproduzieren. Seit Beginn des industriellen Kapitalismus ist die Entstehung der Erwerbslosigkeit eine Konstante, wie auch zyklische Veränderungen der Höhe der Erwerbslosigkeit, immer auftreten.

Marx zitiert im Kapital den Professor für politische Ökonomie H. Merivale: „gesetzt, bei Gelegenheit einer Krise raffte die Nation sich zu einer Kraftanstrengung auf, um durch Emigration einige 100.000 überflüssige Arme loszuwerden, was würde die Folge sein? Dass bei der ersten Wiederkehr der Arbeitsnachfrage ein Mangel vorhanden wäre. Wie rasch auch immer die Reproduktion von Menschen sein mag, sie braucht jedenfalls den Zwischenraum einer Generation zum Ersatz erwachsener Arbeiter. Nun hängen die Profite unserer Fabrikanten hauptsächlich von der Macht ab, den günstigen Moment lebhafter Nachfrage zu exploitieren und sich so für die Periode der Erlahmung schadlos zu halten. Diese Macht ist ihnen nur gesichert durch Kommando über Maschinerie und Handarbeit. Sie müssen disponible Hände vorfinden; sie müssen fähig sein, die Aktivität ihrer Operationen wenn nötig höher zu spannen oder abzuspannen, je nach Stand des Markts, oder sie können platterdings nicht in der Hetzjagd der Konkurrenz das Übergewicht behaupten, auf das der Reichtum dieses Landes gegründet ist.“ (7)

Hier wird recht deutlich, welche Funktion die „industrielle Reservearmee“ im Kapitalismus hat – als disponible Ware Arbeitskraft, als Masse, welche den konjunkturellen Anforderungen des Kapitals gehorcht, je nach den Bedingungen der Konkurrenz.

Der Begriff und die arbeitsrechtliche Stellung des „Tagelöhners“ bringt diese abstrakte Beschreibung recht konkret auf den Punkt. Dieses Phänomen ist in der BRD mit Hartz IV auch wieder Realität. In bestimmten „Arbeitsagenturen“ können Erwerbslose ab 4 Uhr morgens im Wartezimmer Platz nehmen und ab dieser Zeit gebucht werden. Auf „erweiterter Stufenleiter“ vollstrecken dann die Zeit- und Leiharbeitsunternehmen dieses Prinzip, in dem diese Unternehmen die konjunkturell zusätzlich erforderliche Arbeit organisieren und auch die „konjunkturunabhängigen“ Arbeitsplätze der „Kernbelegschaften“ angreifen bzw. in die Zeit- und Leiharbeit integrieren.

Der entscheidende Faktor der „Flexibilität“ ist neben der zeitlichen Befristung v.a. die Lohnhöhe. Der „Tagelöhner“ oder Zeit- und Leiharbeiter kostet zwischen 25-50% weniger Lohn und Sozialabgaben (also indirekte Lohnbestandteile). Somit stellt der gesamte Niedriglohnbereich einen Übergang zwischen Erwerbslosigkeit und Beschäftigung dar, konkret zu bemessen an arbeitsrechtlichen Bedingungen und Lohnhöhen – quasi eine „Pufferzone“, durch die das Kapital den Wert der Ware Arbeitskraft beständig senkt, mit direkten Auswirkungen auch auf die Sektoren der Beschäftigten und der Erwerbslosen.

Die Leiharbeit bedroht direkt die Arbeitsbedingungen der Tarifbeschäftigten. Die KollegInnen arbeiten für ein Drittel weniger im gleichen Betrieb, oft werden sogar ganze Produktionszweige oder Abteilungen auf diese Art ausgegliedert. Diese Ausgliederungen weg vom branchenüblichen Tarifvertrag werden meist vom Kapital mit konjunkturellen Erfordernissen begründet. Als hauptsächliche Drohung, welche dann auch meist von den Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten akzeptiert wird, ist die Drohung der Verlagerung bzw. dass andere Standorte diese Arbeit zu günstigeren Konditionen übernehmen könnten. Angefangen mit dem VW-Modell „5.000 x 5.000“ haben alle Großkonzerne, Zulieferer, Mittelstand und Handwerk dieses Modell der Aufsplittung der Beschäftigungsstruktur übernommen.

Damit einhergehend wurden in der BRD mit der Agenda 2010 die größten Sozialkürzungen vorgenommen. Der ominöse „Lohnabstand“ zwischen Beschäftigten und „Arbeitslosen“ wurde angepasst – speziell zwischen Niedriglohn und Sozialleistung.  Diese Sozialleistung wurde auf das „Existenzminimum“ gesenkt, inklusive des Niedriglohnbereichs ist ein gutes Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung beim Einkommen unter 70% des Durchschnittslohns angekommen und somit, je nach statistischer oder soziologischer Erklärung, armutsgefährdet bzw. „Working Poor“.

Das Kapital hält die „Pauper“ chronisch an der Existenzgrenze. Somit steht diese Gruppe stets in Konkurrenz zu zwei Seiten – zu den „Tarifbeschäftigten“ und den Erwerbslosen, allerdings meist mit der Gefahr, in die Erwerbslosigkeit zu rutschen und weniger mit der Aussicht, eine tarifliche Entlohnung zu erreichen.

Solidarität in der Arbeiterklasse begann oft mit Solidarität am Arbeitsplatz, im Betrieb. Sich nicht nach Abteilungen, nach Standorten und Berufsgruppen spalten zu lassen, gehörte zu den Grundlagen gewerkschaftlicher Entwicklung und Entstehung. Dieses Prinzip wird durch Niedriglohn und Prekariat aufgeweicht bzw. hier schlägt das Kapital offen zu.

Diese Entwicklungen und Zusammenhänge innerhalb der Arbeiterklasse machen einen marxistischen Ansatz der Analyse und Methode dringend notwendig. Beschäftigte, Erwerbslose und das Prekariat sind nur verschiedene Formen der Ausbeutung im Kapitalismus, sind nur verschiedene Abteilungen der Arbeiterklasse. Für diese Gruppen muss eine gemeinsame Klassenpolitik praktiziert werden. Nur wenn wir die Zusammenhänge zwischen Beschäftigten, Erwerbslosen und dem zahlenmäßig steigenden Prekariat analysieren und ihre gemeinsamen Interessen gegenüber dem Kapital formulieren können, ist es möglich, die soziologische und politische Spaltung innerhalb der Klasse zu überwinden.

Prekäre Situation in den Mittelschichten

In der soziologischen Forschung, hauptsächlich bei Dörre und Castel (8) wird die Kategorie „Prekarisierung“ von verschiedenen Standpunkten aus untersucht. Aus der Sicht einer Klassenanalyse sind die Auswirkungen der Prekarisierung auf die lohnabhängigen „Mittelschichten“, die Arbeiteraristokratie und in Teilen des Kleinbürgertums interessant, auch wenn in der Soziologie diese klassenmäßig unterschiedlichen Schichten oft irrtümlich unter „Mittelschicht“ zusammengefasst werden.

Die soziologische Forschung stellt in diesen Schichten eine „gefühlte Unsicherheit“ fest, welche auf zunehmende Prekarisierung zurückzuführen ist, gerade bei den Teilen, die (noch) nicht davon betroffen sind.

Speziell die „Unsicherheit“ und die Entwicklungen in den Mittelschichten müssen politisch-ökonomisch analysiert werden – in welchen Klassenzusammenhängen gibt es Veränderungen? In der Soziologie wird die Prekarisierung dieser Gruppen oft getrennt vom Prekariat untersucht, speziell aufgrund milieu-typischer psychosozialer Entwicklungen in den Mittelschichten.

Diese „Mittelschichten“ erreichen meist den Einkommensdurchschnitt bzw. übertreffen ihn. Teile der deutschen Arbeiteraristokratie gehören dazu, auch die höheren Angestellten und Beamten des Öffentlichen Dienstes, bis zu den klassisch kleinbürgerlichen Gruppen wie Apotheker, Kaufmann, Selbstständige und Freiberufler wie Architekten, Anwälte etc.

Getrennt davon sind die Angehörigen des „Mittelstandes“ zu betrachten. Dieser ist in Deutschland besonders stark ausgeprägt und gehört eigentlich zur Kapitalistenklasse, dazu zählen Unternehmen mit einigen tausend Beschäftigten. Viele von diesen Unternehmen sind direkt an die deutsche Exportindustrie, also an das Monopolkapital, gekoppelt.

In unserer Betrachtung wollen wir die Beschäftigten untersuchen und weniger die Produktionsmittel-Besitzer im industriellen Mittelstand, obwohl diese natürlich auch in der Krise neuem Druck von Seiten des Großkapitals ausgesetzt sind.

Die Prozesse der Prekarisierung bringen Unsicherheit in diese lohnabhängigen Mittelschichten. Verstärkt tritt diese Unsicherheit in den Krisenperioden des Kapitalismus auf – was für das Proletariat gilt, trifft auch auf die Mittelschichten zu. Das Großkapital verstärkt die Konkurrenz untereinander. Um dem Fall der Profitrate und v.a. der Profitmasse entgegenzuwirken, verschärft das Großkapital den sozial-ökonomischen Druck.

Diesen Druck bekommen auch kleinere Kapitale zu spüren, z.B. als Zulieferer – so wie diese beiden Kapitalfraktionen ihrerseits den Druck auf das Handwerk erhöhen. Sei es das Aufweichen der deutschen Handwerksordnung, inkl. des Meisterzwangs und der -gebühr oder der Zugang von Internet-Apotheken auf dem deutschen Markt – hier geraten auch Überreste des ständischen deutschen Kleinbürgertums unter Beschuss, die zuvor noch Jahrhunderte überdauert hatten.

Beispiel IT-Branche

Diese Branche galt bis zum Platzen der „New Economy“-Blase 2000/01 als potentieller Hochlohnsektor, die Firmen hatten eigene Fachleute beschäftigt, um ihre Unternehmen fit für das Internet zu machen. Dementsprechend explodierten auch die Ausbildungsquoten Jahr für Jahr. In Indien werden pro Jahr mehrere hunderttausend IT-Fachkräfte ausgebildet – die Ware Arbeitskraft erscheint in Hülle und Fülle.

Bald fingen die Unternehmen jedoch damit an, ihre IT-Abteilungen auszugliedern bzw. an selbstständige Dienstleister zu vergeben. Zur Konfiguration eines Programms oder zur Erstellung einer Software braucht die IT-Fachkraft keine Produktionshalle und auch keine feste Beschäftigung – daraus entwickeln diese Firmen eine völlig neue Beschäftigungsstruktur.

Während die ausgebildeten IT-Fachkräfte oft nur in Dienstleistungsunternehmen überhaupt feste Stellen finden, beginnen die Großkonzerne eine grundlegende Umstrukturierung hin zum „freien Mitarbeiter“. „Frei“ bedeutet in diesem Zusammenhang v.a. die Freiheit des Unternehmens, frei von Sozialabgaben zu sein und keine unbefristeten Stellen zu haben.

Eine andere, oft damit verbundene Form besteht darin, Konkurrenz zwischen Beschäftigten und Abteilungen ins Unternehmen zu verlagern. So haben Firmen wie IBM angefangen, mittels des Internets einen neuen Arbeitsmarkt aufzubauen. Mit Plattformen wie „Topcoder“ oder „Liquid“ werden Auftragsarbeiten des Konzern virtuell angeboten und die „freien“ Mitarbeiter können dann ihre Angebote abgeben und treten in Konkurrenz zu den (noch) fest Beschäftigten.

Diese Auftragsarbeiten können dazu führen, dass verschiedene Projektgruppen als „freelancer“ für das Unternehmen einen Auftrag erledigen – unabhängig voneinander und ohne die Möglichkeit, gemeinsame Interessen (wie Lohn, Honorare) gegenüber dem Unternehmen zu vertreten. Die Ware Arbeitskraft wird über das „Werkzeug“ der IT-Fachkraft ausgegliedert – mit dem Laptop, so ist die bestechende Logik, kann ja jeder zu jeder Zeit an jedem Ort diese Arbeit machen. Damit ist dem Kapital fast etwas Historisches gelungen: es hat die Arbeitskraft aus ihren sozialen, kulturellen und örtlichen Zusammenhängen heraus gebrochen, in der „Cloud-Plattform“ treten alle „Anbieter“ in Konkurrenz zueinander, nach dem Ebay-Versteigerungsprinzip entscheidet das Unternehmen, welche Konditionen die günstigsten sind.

Natürlich klappt Gleiches nicht mit der Reinigungskraft, diese wird nie per Laptop reinigen können. Auch in den Konzernen erzeugt das keineswegs immer die gewünschten Ergebnisse. Aber diese Art von Ausgliederung funktioniert insofern, als sie in einem Hochlohnbereich erfolgreich zur Preissenkung der Ware Arbeitskraft führt.

Wenn vormals relativ privilegierte Teile der Beschäftigten unter Druck geraten und ihre soziale Stellung gefährdet ist, dann hat dies stets auch politische Implikationen. Der Statusverlust kann in der Krise zum Verlust der „Klassenzugehörigkeit“ führen, Teile der Mittelschichten werden proletarisiert, verlieren vormals bestehende soziale Errungenschaften.

Andere fallen noch tiefer, werden nicht durch schlechtere feste Beschäftigungsverhältnisse „aufgefangen“, sondern in die Selbstständigkeit getrieben und/oder verlieren komplett ihre soziale Existenz. Diese Situation lässt soziale Angst in den Mittelschichten aufkommen. Diese Angst kann sich leicht zu reaktionären Antworten auf die Krise verdichten, wenn es keine kämpferische Antwort der Arbeiterklasse gibt.

In den Niederlanden oder in Finnland sind derzeit Rechtspopulisten sehr erfolgreich in den kleinbürgerlichen Schichten unterwegs, während der FPÖ in Österreich meistens Ausländer- und EU-Hetze reichten, spielen diese Formationen auch die „soziale“ Karte. Die „Freiheit“ aus den Niederlanden und die „Wahren Finnen“ verweigern die Hilfen für südeuropäische Länder, wollen stattdessen die nationalen „Leistungsträger“ unterstützen – hier werden dem Kleinbürgertum und den Mittelschichten rechte und autoritäre Krisenlösungen vorgeschlagen. In Griechenland, das derzeit am schärfsten von der Krise geschüttelt ist, sehen wir diese Zuspitzung auch am Zulauf für die Faschistenpartei „Goldene Morgendämmerung“.

In der Krise ist das Kleinbürgertum gewissermaßen orientierungslos, etablierte Parteien können das Kleinbürgertum nicht mehr genügend schützen, die verschärften Konkurrenzbedingungen – losgetreten vom Großkapital – unterwerfen diese Mittelschichten einer Zäsur. Auf diese Veränderungen müssen die Organisationen der Arbeiterklasse, Gewerkschaften und Parteien reagieren, müssen Lösungen anbieten – ansonsten ist sind diese Schichten ein gefundenes Fressen für Rechtspopulisten, Faschisten oder rassistische Hetzer a la Sarrazin.

Ein Beispiel. Genügend Selbstständige sind finanziell nicht in der Lage, alle Versicherungsleistungen als Selbstständige auch zu bezahlen, eine mögliche Pflichtzahlung an die staatliche Rentenversicherung kann das Ende von manch „Ich-Unternehmen“ sein. Wenn ein IT-Selbstständiger eine Initiative gegen die Pflichtzahlung zur Rentenversicherung startet, so startet dieser eine Initiative gegen die objektiven Interessen seiner „Schicht“.

Als Antwort brauchen wir keine neoliberale Aktion gegen die Pflichtversicherung; wir brauchen eine gesetzliche, aus der Besteuerung der Reichen – also der Kapital- und Vermögensbesitzer – finanzierte Mindestrente, welche die Reproduktionskosten deckt. Solange dies nicht politisch-gewerkschaftlich vertreten wird, ist die Abgleitfläche für solche Initiativen sehr groß – diese Initiative orientiert sich vom Staatsverständnis eher an der stockreaktionären „Tea Party“-Bewegung in den USA. Dies bietet keine Perspektive zur sozialen Absicherung.

Frauen und Prekarisierung

Die weibliche Beschäftigung trägt strukturell prekäre Merkmale. 45% aller beschäftigten Frauen arbeiten in Teilzeitverhältnissen mit einer Spannbreite vom 400-Euro-Job bis zur 27,5-Stunden-Woche. Besonders im Einzelhandel wurden Festangestellte abgebaut, in jedem Konsum-Center in der Republik finden wir höchst vielfältige, niedrig entlohnte Teilzeitjobs. 49% der Teilzeit arbeitenden Frauen verdienen weniger als 800 Euro im Monat.

Bei der Prekarisierung und Entrechtung von Arbeitsverhältnissen sind speziell „weibliche“ Beschäftigungsfelder schon immer ein Experimentierfeld im Kapitalismus gewesen. In kapitalistischen Staaten gab es häufig die „Zuverdienerin“ als weibliche Beschäftigungsform, im Verkauf, der Pflege, der Reinigung u.ä. Sektoren sollte die Frau den Hauptverdiener ergänzen, aber gleichzeitig auch den „häuslichen Pflichten“ nachkommen können. Idealerweise trat die Frau dann wieder ins Berufsleben, wenn die Kinder groß waren. Dies war in der alten BRD ein typisches Procedere, während bei den ostdeutschen Frauen heute noch andere Strukturen vorzufinden sind. (9)

Bei weiblichen Vollzeitbeschäftigten können wir eine weitere Gruppe dem Prekariat zuordnen. Dieses Drittel ist im Niedriglohnbereich beschäftigt. So lässt sich sagen, dass gut zwei Drittel aller weiblichen Beschäftigten prekären Zuständen ausgesetzt sind.

Allerdings müssen wir hier auch unterscheiden – „prekäre Zustände“ sagt nicht alles über die sozio-ökonomische Situation der Frauen aus. Wenn sie als Zuverdienerin einen 400-Euro-Job ausübt, so ist dieser Job wahrscheinlich schlecht bezahlt und sie kann wenig Einfluss nehmen – ihr Beschäftigungsverhältnis ist somit prekär, ihre soziale Lage muss es aber nicht sein, wenn denn ein anderes „Ernährereinkommen“ vorhanden ist.

So war in der alten BRD weibliche Arbeit stark auf Teilzeit, auf Zuverdienst orientiert. Dies nimmt aber nun in den Reproduktionsverhältnissen eine immer größere Rolle ein. Der Zuverdienst wird natürlich umso wichtiger, je geringer das (männliche) Vollzeiteinkommen ausfällt, aus Mini-Job wird Teilzeit oder eine Zwei-Drittel-Stelle, je mehr Vollzeitstellen abgebaut werden, desto mehr Teilzeitjobs können geschaffen werden.

Ost/West-Unterschiede und Geschlechterverhältnis (10)

Auch zwanzig Jahre nach der kapitalistischen Wiedervereinigung finden wir noch Besonderheiten in den Beschäftigungsverhältnissen von Frauen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Diese Frauen sind weiterhin überdurchschnittlich Vollzeit beschäftigt, während die „klassische“ Hausfrauenehe im Osten eher wenig zu finden ist (6% aller Haushalte). Weiterhin vorherrschend ist der Unterschied bei den Paaren mit zwei Vollverdienern. Im Osten trifft dies auf 41% aller Paare zu, im Westen auf 23%, hier befinden sich aber auch 25% der Frauen noch in der Hausfrauenehe. Im Gegensatz dazu ist in Ostdeutschland auch ein eher neues “Ernährerinnen-Modell“ aufgetaucht: in 25% aller Haushalte ist die Frau AlleinverdienerIn geworden, davon sind die Hälfte Alleinerziehende.

Hier ist in vielen Bereichen die „männliche“ Beschäftigung verschwunden. Die massive  Deindustrialisierung am Beginn der 90er Jahren hat v.a. männliche Erwerbsbiographien ruiniert. Auch heute pendeln zwischen 350.000 und 400.000 v.a. männliche ostdeutsche „Wanderarbeiter“ in die industriellen Zentren in Süddeutschland, was auch Ausdruck der fehlenden Arbeitsplätze in Ostdeutschland ist.

Speziell die weibliche Alleinverdienerin ist das Resultat dieser Entwicklung. Hier müssen Teilzeitjobs die Hauptlast der Reproduktion tragen können; wenn die 27,5 Stunden-Stelle (höchste Teilzeitform) im Niedriglohnbereich nicht ausreicht, um den vergleichbaren Hartz IV-Satz zu erreichen, dann muss „aufgestockt“ werden. Diese Teile der Klasse stellen in der wiedervereinigten BRD einen Teil der Armutsschicht der Gesellschaft, ihre Lohnarbeit deckt nicht die Reproduktionskosten, ohne Sozialleistungen sind sie nicht lebensfähig.

Dies trifft besonders auf allein erziehende Frauen zu. Hier sind alle soziologischen Risiken geballt. Wenn dann noch schlechte Ausbildung oder Migrationshintergrund dazu kommen, ist der Weg in die Armut vorprogrammiert. Ausdruck dieser Sozialpolitik des letzten Jahrzehnts war ein Gerichtsurteil aus Hamburg, bei dem festgelegt wurde, dass eine erwerbslose alleinerziehende Frau, sobald das Kind 3 Jahre alt ist, dem Arbeitsmarkt „teilweise“ wieder zur Verfügung stehen müsste. Dies würde den jungen Müttern den „Wiedereinstieg“ ins Berufsleben erleichtern, meinte die Richterin. Im Klartext heißt das, dass die Kürzung der Bezüge ab dem 3. Lebensjahr rechtens sind, wenn die Mutter sich nicht wieder „eingliedern“ möchte – von möglichen Kita-Plätzen und Gebühren stand natürlich nichts im Urteil. Somit zwingt der Staat die Alleinerziehenden in die Teilzeit und nutzt somit die prekäre soziale Situation aus.

Die Rolle der Gewerkschaften – wie organisieren, was nicht organisiert werden soll?

Bei der Frage wie Gewerkschaften mit Niedriglohn, Erwerbslosigkeit, Prekariat umgehen, muss zunächst eine politische Analyse der DGB-Politik erfolgen, um anhand dieser dann die massiven Probleme der Gewerkschaften in diesem Bereich erklären zu können.

Zu Anfang eine Anekdote: Zur Einführung von Hartz IV lud die Kasseler Erwerbslosen-Initiative KEI im Frühjahr 2004 ins regionale DGB-Haus zur Diskussionsveranstaltung ein. Anwesend waren auch einige lokale Gewerkschaftsbosse. Die Initiative legte diesen Fragen vor, wie denn die DGB-Gewerkschaften die Proteste unterstützen könnten bzw. wie in ihrer Mitgliedschaft Aufklärung gegen die massive staatliche und mediale Hetze zu organisieren wäre.

Während einige um warme Worte für die Initiative bemüht waren, brachte der Ortsvorsteher der IG Metall und spätere SPD-Bundestagsabgeordnete seine Position, wie folgt auf den Punkt: Ich vertrete in erster Linie die Beschäftigten, die Arbeit haben. Um die Arbeitslosen können wir uns nicht auch noch kümmern und schließlich muss ja auch irgendwas verändert werden.

Diese Episode illustriert die gängige Praxis der heutigen DGB-Gewerkschaften. Die eigenen Erwerbslosenstrukturen verfügen über „Jahresetats“, für die manch ein Vollzeitfunktionär keine 14 Tage arbeiten muss. Konkret hieß dies z.B. 2.000 Euro für die registrierten knapp 900 erwerbslosen ver.di-Mitglieder der Region Nordhessen. Die Aktivitäten des Erwerbslosen-Ausschusses waren dementsprechend begrenzt. Es reichte für die Teilnahme von mehreren Personen an verschiedenen Konferenzen in diesem Jahr und einen Flyer.

Diese Schilderung zeigt den mühseligen Kampf von Erwerbslosen um gewerkschaftliche Organisierung. Zumeist bleibt die Sozialberatung als einzige reale Unterstützung übrig, von einem „Nischen-Dasein“ zu sprechen ist fast schon eine Übertreibung.

Dementsprechend waren dann auch die Proteste des DGB gegen die Einführung von Hartz IV. Aus den „Montagsdemo“ gegen Hartz IV zogen sich die Gewerkschaften mit höchst fadenscheinigen Begründungen zurück. Angeblich würden Rechte die Demos in einigen ostdeutschen Städten unterlaufen und andernorts würden die PDS und Linksradikale alles in gefährliche Bahnen lenken, so dass sich der DGB zurückziehen müsse.

Diese obskure Mischung aus Verleumdungen und politischer Feigheit hatte nur einen Zweck – der DGB wollte nicht gegen „ihre GenossInnen“ in der Regierung demonstrieren. Im November 2003 war es zu einer Großdemo gegen die Agenda 2010 gekommen. Ca. 100.000 aus Gewerkschaften und sozialen Bewegungen protestierten – „natürlich“ ohne die DGB-Spitze. Danach sabotierte der DGB den Widerstand. Als das nichts half, musste die Bewegung von der Spitze gebrochen werden. 2004 mobilisierten  die Gewerkschaften mehrere Hunderttausend – dann war der Protest am Ende. DGB-Vorsitzender Sommer kündigte zwar öfter „heiße“ Jahreszeiten an, das SPD-Mitglied Sommer blieb aber seiner Regierungspartei treu.

Reformistische Gewerkschaftspolitik und daraus resultierende Widersprüche

Durch die Konkurrenz zwischen Erwerbslosen und Beschäftigten ist eine der tiefsten Spaltungen der Arbeiterklasse begründet und damit einhergehend auch das Versagen der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften im letzten Jahrhundert. In allgemeinen Deklarationen setzen sich natürlich auch heute noch Gewerkschaftsbosse für die Erwerbslosen ein. Zumindest wird Hartz IV „irgendwie“ abgelehnt, während gleichzeitig kein Kampf dagegen geführt wurde und auch bis heute kein Kampf des DGB z.B. gegen Hartz IV und für die Rechte der Erwerbslosen erkennbar ist.

Die sozioökonomische Spaltung zwischen Beschäftigen und Erwerbslosen ist aber einer der Pfeiler der verschärften Ausbeutung der Arbeiterklasse insgesamt – abgesichert durch die „Interessenvertreter“ der Beschäftigten.

In den Gewerkschaften bildet die Politik für die „normal“ Beschäftigten, die „Kernbelegschaften“, die FacharbeiterInnen, letztlich für die Arbeiteraristokratie die soziale Grundlage für die Bürokratie, den Apparat und deren Kontrolle über die Organisation. Rein fiskalisch ist der Apparat darauf angewiesen, besonders die Hochlohngruppen zu organisieren. Diese sichern organisch die Existenz ihrer Interessenvertretung. Es ist heute auch nicht verwunderlich, in welchen Bereichen eine  Organisationsquote von über 80, 90, 95% erreicht wird: in der Automobilbranche, im Stahlbereich, im Maschinen- und Anlagenbau, in der Chemie, in der Energiesparte – sprich in den industriellen Kernsektoren des deutschen Imperialismus.

Diese Teile der BRD-Arbeiterklasse sind beispielhaft für die Arbeiteraristokratie. Diese Kernsektoren des deutschen Imperialismus sind „Global Player“ der internationalen Konkurrenz. Hier wird der Extraprofit für die deutsche Bourgeoisie erzielt. Die dort Beschäftigten sind die soziale Elite der Arbeiterklasse – in Deutschland ein Zustand, der schon länger als 100 Jahre andauert und sich heute in hohen Haustarifverträgen (zumeist höher als der Flächen/Manteltarif), höheren Prämienzahlungen etc. äußert. Für die Lohnzurückhaltung der IG Metall während der schärfsten Krise 2009 wurden im Aufschwung-Jahr 2011 fast fünfstellige Prämien in den Exportsektionen ausgeschüttet.

Ökonomischer Kern der Arbeiteraristokratie ist ihre enorme Produktivität, diese ist quasi das Herzstück des deutschen Imperialismus, diese steigt jährlich (in manchen Branchen tw. zweistellig) und die Beschäftigten werden konsequent und extrem ausgebeutet. In diesen Bereichen findet die stärkste Verdichtung und Rationalisierung von menschlicher Arbeit statt, dies ist der oft bemühte „Standortvorteil“.

Direkt daran gekettet sind die betrieblichen und gewerkschaftlichen Apparate. Diese hatten in der Geschichte auch schon höchst kämpferische und revolutionäre Ausrichtungen, wie beim Berliner Metallarbeiterverband im 1. Weltkrieg, als von der „aristokratischen“ Berufsgruppe der Dreher die Initiativen für Streiks und später auch für politische Streiks ausgingen, allerdings ist hier auch der Einfluss des „Trade Unionismus“, der reformistischen Standortpolitik, am stärksten ausgeprägt.

Doch die Politik der Bürokratie hat mit einem gewaltigen inneren Widerspruch zu kämpfen. Ihre stetigen Zugeständnisse an das Kapital lassen nicht nur die „unteren“ Schichten der Klasse, ja zunehmend deren Mehrheit im Regen stehen – sie unterminieren sogar die Positionen der Arbeiteraristokratie.

Es ist Teil der inneren Widersprüchlichkeit der Bürokratie, dass es diese Kernsektoren der gewerkschaftlichen Organisierung waren, in denen die Einführung von Leih- und Zeitarbeit als erstes durchgedrückt wurde. Mit diesen Ausgliederungen wurde das Fundament für die Entstehung des Niedriglohnbereichs gelegt, welcher seitdem die Löhne der Kernbelegschaften ständig bedroht. Als Erpressung von Bourgeoisie und Staat zog am meisten die Angst vor der Verlagerung (Osteuropa, China) und dass die BRD nicht mehr konkurrenzfähig sein würde – seitdem hat die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Imperialismus bedrohlich zugenommen, siehe auch die aktuelle EU-Krise und die stärkere Position des BRD-Imperialismus in Europa.

Die „Standort-Partnerschaft“ und das „Co-Management“, als politisch-ökonomische Strategie der aktuellen Gewerkschaftspolitik greifen entgegen der Intentionen der Bürokraten die Grundlagen der Gewerkschaften jedoch stetig an. Die voll- sozialversicherungspflichtigen Stellen wurden in den letzten 10 Jahren abgebaut und somit auch die Kernbelegschaften angegriffen und unterhöhlt.

Innerhalb eines Jahrzehnts entstand ein riesiger Niedriglohnbereich, auf den die Gewerkschaften wenig Zugriff und die dort Beschäftigten kaum Zugang zu Gewerkschaften haben. In diesen Sektoren ist ein nahezu gewerkschaftsfreier Raum entstanden, in dem das Ansprechen des Betriebsrat zur Kündigung führen kann, die Beschäftigten der Willkür der Geschäftsleitung ausgeliefert sind und viele der erkämpften Arbeitsrechte mit Füßen getreten werden.

Während die gewerkschaftlichen AktivistInnen im Einzelhandel mit Schikanen, Gerichten und Entlassungen rechnen müssen, betreibt die Spitze fortgesetzte „Burgfriedenspolitik“ mit Bourgeoisie und Staat, aktuell besonders devot gegenüber einer schwarz/gelben Regierung. Wie diese Gewerkschaften unter dieser Führung und mit dieser Politik für Mindestlohn, für ein Ende der Rente mit 67 o.a. unmittelbare Kampfziele real kämpfen könnten und wollten, ist heute schwer vorstellbar.

Das gilt v.a. für die Gruppen, die dem Prekariat angehören. Für sie sind Gewerkschaften kaum auffindbar, die Forderungen kaum bekannt – sie kennen oft nur die Konkurrenzstellung gegenüber tariflich entlohnten Beschäftigten. Objektiv wären sie aber genau jene Gruppen, um die die Gewerkschaften kämpfen müssten, hier sind die schlimmsten Auswüchse des Lohnarbeitsverhältbnisses zu finden – aber leider kein entschlossener gewerkschaftlicher Kampf.

Für Erwerbslose, Niedriglohn- und TeilzeitarbeiterInnen, (Schein)Selbstständige, Mini-JobberInnen stellen die heutigen Gewerkschaften keine Interessenvertretung dar. Das Prekariat ist sozioökonomisch nicht organisiert – im Gegensatz zu den „Kernbelegschaften“ des Exportkapitals oder zum Öffentlichen Dienst. Mit der aktuellen Politik verschärft die DGB-Spitze die Spaltung zwischen diesen Teilen der Klasse und passt sich somit auch den Anforderungen von Kapital und Staat an die Lohnarbeit von heute an.

Was ist prekär-selbstständig?

Besonders schwierig gestalten sich gewerkschaftliche Organisierungsprozesse, wenn es um „Selbstständige“ geht. Zwischen „Freiberuflern“, Ich-AGs, Schein-Selbstständigen und den „gezwungenen“ Selbstständigen, gibt es viele Formen, die analytisch geklärt werden müssen.

Architekten, Anwälte, Notare u.a. Dienstleister am Kapital waren historisch immer bestens beraten, sich „ständisch“, d.h. als Berufsgruppe zu organisieren und so die eigenen Gebühren festsetzen zu können – dies ist die Sahnehaube der „Mittelschicht“, des gut verdienenden Kleinbürgertums. Sie sind selbstständig, weil sie historisch und funktional eng an die Kapitalistenklasse gebunden sind, ja manche sogar zu kapitalistischen Unternehmen wurden (große Kanzleien, große Architekturbüros).

Auf der Spiegelseite der Selbstständigkeit finden wir „freischaffende“ PaketfahrerInnen, den zuletzt auch von Günter Wallraff dargestellten Logistik-Kleinunternehmer, die selbstständige mobile Altenpflegerin oder Reinigungskraft, die Werbedesignerin oder den IT-Entwickler – dieser sehr vielfältige Bereich ist nicht freiwillig selbstständig, kann keine eigenen Gebühren und Honorare festsetzen, sondern kann über diesen Weg allein die Ware Arbeitskraft verkaufen.

Für diese Teile der Arbeiterklasse ist das „Normalarbeitsverhältnis“ in den letzten 10 Jahren systematisch abgeschafft worden, was früher als „Schein-Selbstständigkeit“ galt, ist heute Normalität geworden. Oft sind diese Selbstständigen nur für einen „Arbeitgeber“ tätig. Was früher als Schein galt und verboten war, ist heute die Grundlage dutzender Beschäftigungsstrukturen in verschiedensten Bereichen. Während „klassische“ kleinbürgerlich-selbstständige Sektoren wie VersicherungsvertreterIn oder Gastgewerbe in den letzten 10 Jahren eher abgenommen haben, ist insgesamt die Zahl der Selbstständigen um 500.000 gestiegen, allein mehr als 300.000 im Bereich der privaten Dienstleistungen. Soweit die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, wobei wir berücksichtigen müssen, was das Bundesamt nicht erfasst: diejenigen, die einen Minijob haben und gleichzeitig selbstständig auf Auftragsbasis arbeiten, oder Leute, die es „illegal“ mit Hartz IV tun oder nirgends „arbeitsrechtlich“ gemeldet sind.

Im Bereich Erziehung und Unterricht stieg die Zahl von 84.000 im Jahr 2000 auf 140.000 im Jahr 2009, hier finden wir die prozentual größte Steigerung. Die nächstgrößte findet sich im angesprochenen Dienstleistungsbereich von 764.000 im Jahr 2000 auf 1.068.000 im Jahr 2009, es folgt das Gesundheits- und Sozialwesen. Hier stieg die Zahl der Selbstständigen von 320.000 (2000) auf 442.000 (2009).

Die Ausgliederung spart dem Kapital Sozialabgaben, während gleichzeitig den neuen Selbstständigen auch zusätzliche Pflichten und Hindernisse (Krankenversicherung, Sozialkassen) aufgebürdet werden.

Ideologisch wird das alte Selbstständigenmotto (lieber 16 Stunden für mich arbeiten, als 8 Stunden für einen anderen) heute mit den „neuen Anforderungen“ des Arbeitsmarktes, der Globalisierung, der Flexibilität begründet, inklusive aller möglichen Freiheits- und Unabhängigkeitsversprechungen. Der selbstständige Traumjob wird zumeist per Laptop oder Tablet ausgeführt – zu angeblich selbstbestimmten Arbeitszeiten und Orten. Alles ist flexibel und erfolgreich – Arbeit, Freizeit und Urlaub gehen fließend ineinander über – das „alte“ Beschäftigungsverhältnis scheint überholt zu sein, alle können ihre eigenen Unternehmer sein. Dazu sprießen seit einigen Jahren die „Selfmade“-Rezepte am Büchermarkt. Promis, die während der Wirtschaftskrise reich wurden, lassen auch noch darüber schreiben – nach dem Motto „Wie windig komme ich zu meiner ersten Million?“

Über die Kehrseite dieses Unternehmertums berichtet inzwischen sogar RTL. Die Zustände beim Logistik-Riesen GLS werden derzeit einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Dort wurden die „angestellten Sub-Unternehmer“ in Schulden und Pleite getrieben – diese „Unternehmer“ waren nicht mehr in der Lage, Miete oder Stromrechnungen zu bezahlen und sind oft genug insolvent.

Nicht anders läuft es bei anderen Logistik-Konzernen, besonders DHL/Post vergibt immer mehr Aufträge an Subunternehmen. Diese bekommen dann meist eine Strecke/Gebiet/Region, haben dafür 10-50 FahrerInnen und müssen Zeiten/Quoten erfüllen und werden danach bezahlt. Diese Unternehmen bekämpfen jede  gewerkschaftliche Organisierung am schärfsten – wohl wissend, dass mit tariflicher Bezahlung der Beschäftigten „ihr“ Unternehmen sofort pleite wäre, da sie dann die Anforderungen des Großkonzerns, der diesen Geschäftszweig vorsorglich ausgegliedert hat, nicht erfüllen könnten.

Die Gewerkschaften müssen gerade in den Betrieben mit starker Verankerung dafür sorgen, dass es keine Ausgliederung gibt, dass keine (Schein)Selbstständigen zur Spaltung der Beschäftigten beitragen und dass jegliche Arbeit des Unternehmens unter tariflichen Bedingungen stattfindet. In der aktuellen Situation ist diese Spaltung für das Kapital nützlich, es gibt keine Solidaritätsaktionen oder gar Streiks der „Normalarbeitsverhältnisse“ für die ausgegliederten, prekarisierten Beschäftigten – stattdessen herrschen Konkurrenz und Zwietracht, wobei beide Gruppen immer wieder gegenseitig in Stellung gebracht werden.

Wenn dieser Kampf nicht geführt wird, entstehen immer mehr „gewerkschaftsfreie Zonen“, dies führt zu einer weiteren Schwächung der Gewerkschaften und dazu, dass die ausgegliederten Gruppen keinen Zugang zur organisierten Arbeiterschaft bekommen. Von einer formalen Selbstständigkeit sollte sich dabei die gewerkschaftliche Arbeit nicht täuschen lassen bzw. dieses (Schein)Argument überall scharf bekämpfen. Die Gewerkschaften müssen dafür eintreten, dass diese Selbstständigen, die für den Großkonzern arbeiten, die gleichen Konditionen haben wie die Beschäftigten; dass keine Aufträge an Subunternehmen vergeben werden, die Konzerne auch keine eigenen gründen dürfen und somit ein wichtiger Schritt zur Überwindung der Spaltung gemacht werden kann.

Eine wichtige Frage wird also sein: Wie organisieren die Gewerkschaften das Prekariat, wie entwickeln sie gemeinsame Forderungen und Kampfformen und wie können aktive GewerkschafterInnen dafür in den Gewerkschaften kämpfen?

Gewerkschaftliche Versuche

Auch in den Apparaten der Einzelgewerkschaften ist diese Entwicklung angekommen (auch bei deren Beschäftigungsstruktur, speziell in der Jugend) und es gibt erste Anläufe gewerkschaftlicher Aktivität. Ganz allgemein gibt es natürlich eine Kampagne gegen die Leiharbeit, gegen den Niedriglohnbereich und für einen Mindestlohn – also durchaus wichtige Fragen für Teile des Prekariats. Andere Teile, wie die „Selbstständigen“ werden nicht angesprochen bzw. es fehlen den Gewerkschaften passende Konzepte für diese neuen Beschäftigungsgruppen.

Als ver.di einmal zu einer Konferenz der offiziell 90.000 „selbstständigen“ KollegInnen in der Gewerkschaft aufrief, waren eher die Hochlohngruppen unter den ca. 60 anwesenden Selbstständigen vertreten, die Prekarisierten fanden keine Zeit für Konferenzen.

Bei ver.di und GEW gibt es Arbeitsgruppen und Arbeitskreise, welche sich mit prekären Beschäftigungsverhältnissen befassen und gewerkschaftliche Strategien zu entwickeln suchen, aber dies steckt noch in den „Kinderschuhen“ – während der „prekarisierte“ Arbeitsmarkt inzwischen 36% der Beschäftigten umfasst!

Als beispielhaft für eine gewerkschaftliche Organisierung im Bereich des Prekariats gelten die italienischen Gewerkschaften, von denen alle größeren Verbände inzwischen eigene Gliederungen aufgebaut haben. Deren größte ist die NIDiL (Neue Identität der Arbeit), welche zum größten Dachverband CGIL gehört und mehrere Zehntausend organisiert. Im Gegensatz zu den sonst üblichen Entwicklungen in Branchengewerkschaften sind 54% der Mitglieder von NIDiL jünger als 40, mehr als die Hälfte weiblich und es herrscht eine höhere Fluktuation in der Mitgliedschaft.

Zweifellos geht auch die Politik in Italien nicht über einen beschränkten reformistischen Rahmen hinaus. Das Beispiel widerlegt jedoch das Märchen, dass diese Schichten „prinzipiell“ unorganisierbar wären. Es verdeutlicht vielmehr, dass selbst „traditionelle“ Gewerkschaften durchaus in der Lage sind, prekarisierte Schichten der Klasse zu organisieren und eine Perspektive des gewerkschaftlichen Kampfes aufzuzeigen.

Für die DGB-Gewerkschaften liegt eine Gefahr in der bürokratischen Zuständigkeit und zuerst am fehlenden politischen Willen. Während gleichzeitig gleicher Lohn für gleiche Arbeit gefordert wird, tun sich die Branchengewerkschaften bislang schwer, die LeiharbeiterInnen und weiteres Prekariat ihrer Branche zu organisieren.

Nicht selten haben die Apparate genau den Ausgliederungen im Betrieb zugestimmt, in denen jetzt keine Tariflöhne mehr gezahlt und gewerkschaftliche Strukturen auf Schärfste bekämpft werden. Dies ist für deutsche Gewerkschaften ein neues Terrain. Natürlich gab es im BRD-Kapitalismus nach 1945 immer wichtige Bereiche, die gewerkschaftlich nicht oder nur wenig erfasst wurden. Diese waren aber nicht nur kleiner im Verhältnis zu den organisierten Bereichen. Jahrelang war es auch üblich, dass tarifliche Regelungen Allgemeingültigkeit für eine ganze Branche hatten – nämlich immer dann, wenn dominierende Kapitalverbände ein Interesse an der Verhinderung von „Schmutz“konkurrenz hatten und so ihre Monopolstellung sichern wollten.

Diese Zeiten sind vorbei. Jetzt müssen auch die „Shops“ erobert werden, dass taten DGB-Gewerkschaften einige Jahrzehnte nicht mehr, nicht umsonst gilt „Organizing“ als Lösung des Problems bzw. als erste Antwort.

Organizing soll v.a. in nicht-organisierten Sektoren/Betrieben stattfinden, dort soll gewerkschaftliche Basisarbeit über den Betrieb hinausgehen, die letzten bekannten Beispiele gab es im Bereich der Reinigungskräfte 2009 von der IG BAU. Nach diesem  Konzept bekommen immer einige schwer motivierte junge AktivistInnen, meist zuvor durch Akademien, Stipendien und Trainee-Programmen gejagt, den Auftrag, Mitglieder zu werben, Strukturen aufzubauen und Öffentlichkeit herzustellen.

Als eine der ersten Kampagnen rund um das Prekariat arbeitete die DGB-Jugend unter dem Motto „Generation Praktikum“ und versuchte speziell an den Universitäten, Aktive für das Thema zu gewinnen. Ein Problem war, dass die unbezahlten PraktikantInnen meistens eben nicht nebenher studieren, sie haben meist ein abgeschlossenes Studium und dementsprechend konnte die DGB-Jugend kaum „Betroffene“ organisieren. Schwierig ist es auch, wenn die Praktika bei Großkonzernen angeboten werden, die sonst Tariflohn zahlen und die betriebliche Gewerkschaft nicht wirksam für die Interessen der PraktikantInnen kämpft – die Kampagne zum Thema schuf durchaus etwas Aufklärung, konnte aber keinen Kampf organisieren, geschweige denn etwas am Zustand ändern.

Andererseits konnte die IG Metall auch einen tarifrechtlichen Sieg zur Leiharbeit einfahren. Seit dem Abschluss 2010 ist in der Stahlbranche das Ende der Leih- und Zeitarbeit geregelt, alle damaligen Stellen gingen in Vollzeit und Tarif über (auch wenn es „nur“ 3.3% der Beschäftigten betraf). Daraus entwickelte sich aber keine gemeinsame Kampagne aller Branchengewerkschaften gegen Leih- und Zeitarbeit, stattdessen gibt es gültige Tarifverträge mit Zeitarbeitsunternehmen in Höhe von 7,30 Euro.

Diese Beispiele zeigen, dass die deutschen Gewerkschaften schlecht aufgestellt sind, wenn es darum geht, auf neue Beschäftigungsstrukturen politische Antworten zu finden und gemeinsame Taktiken gegen die Interessen von Kapital und Staat umzusetzen.

Das zentrale politische Hindernis dabei ist die vorherrschende Politik des Apparats selbst, die die bornierten, kurzfristigen (und oft nicht minder kurzsichtigen) Einzelinteressen der privilegierten Schichten der Klasse zum Ausdruck bringt wie auch das Selbsterhaltungsinteresse der Bürokratie als Vermittler zwischen Lohnarbeit und Kapital.

Selbst dort, wo zentrale Themen der zunehmende Prekarisierung aufgenommen werden, so tauchen die unteren Schichten der Arbeiterklasse nicht als gewerkschaftliches und politisches Subjekt des Kampfes, sondern als Masse auf, die „organisiert“ und „für die“ etwas „geregelt“ werden soll. Sie gilt als Objekt für „Betreuung“ durch die Gewerkschaft und ihre Stellvertreterpolitik.

Der Apparat nimmt die zunehmende Prekarisierung nämlich nicht als notwendige Folge des niedergehenden Kapitalismus wahr, als zutiefst politische Frage, sondern v.a. als organisatorisches Problem.

Eine solche Politik ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Der Kampf um die Organisierung des Prekariats ist daher auch untrennbar mit dem Kampf um die Umwandlung der Gewerkschaften zu Organisationen des Klassenkampfes, mit dem Kampf gegen die Bürokratie und für eine revolutionäre Führung verbunden. Diese grundsätzliche Schlussfolgerung bedeutet keineswegs, die subjektiven Schwierigkeiten zu ignorieren, wenn es gilt, diese „neuen“ Beschäftigungsgruppen zu organisieren. Aber sie sind Voraussetzung dafür, dass diese Organisierungsversuche nicht selbst in den Strudel bürokratische Bevormundung oder quasi-sozialarbeiterischer Betreuung geraten.

Es darf eben nichts dazwischen kommen …

Dieses Motto finden wir oft bei soziologischen Untersuchungen, eine Veröffentlichung sogar per Titel, diese Aussage bringt prekäre Zustände auf den Punkt. Wenn wir zuvor von schlecht bezahlten, befristeten und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen geschrieben haben, so wollen wir hier anschauen, was das genau heißt. Wie ist die Lage dieser Teile der Klasse heute?

Der Kampf ums Existenzminimum und soziale Teilhabe prägt den Alltag der prekären Schichten. Allein die Trennung zwischen Existenzminimum und sozialer Teilhabe zeigt die Abstufung gesellschaftlicher Realität. Der Hartz IV-Satz reicht zur Nahrungsversorgung, möglicherweise auch inkl. Internet und Stromversorgung, dann wird es langsam knapp mit weiteren Anschaffungen.

Die Kategorie „soziale Teilhabe“ soll eine gesicherte Reproduktion beschreiben, die über das unmittelbar Lebensnotwendige hinausgeht und auch eine gewisse Dauerhaftigkeit und Sicherheit einschließt – wie z.B. Jahresurlaub, regelmäßiger Besuch von Kino, Konzert oder Theater, Essen im Restaurant, Klassenfahrten für die Kinder usw.

Die prekären Schichten kämpfen stets um diese für andere (noch) selbstverständlichen Konsumbedürfnisse. Sie sind stets bemüht, das Existenzminimum zu übertreffen, in bestimmten Gruppen gibt es auch Aufstiegsillusionen – Hauptsache der Gang zum Arbeitsamt kann verhindert werden.

Aufstiegsillusionen können wir v.a. bei Jüngeren beobachten. Junge ZeitarbeiterInnen oder die „Generation Praktikum“ hoffen natürlich, durch Fleiß und Tempo eine Festanstellung zu bekommen. Der selbstständige Webdesigner hofft auf den „Durchbruch“, den Top-Auftrag etc. Neben diesen Hoffnungen gibt es auch stetigen Druck, stetige Angst vor Statusverlust. Natürlich wissen die ZeitarbeiterInnen, dass ihre Stelle jederzeit gekündigt werden kann. Die PraktikantInnen haben auch schon mehrere Stellen gehabt und auch die Neu-Selbstständigen wissen, ab welchem Monat sie die Fixkosten nicht mehr bezahlen können.

Haben sich die verschiedenen Existenzformen des Prekariats einmal an den Status quo „gewöhnt“, gilt das Motto der Zwischenüberschrift. Sicherheit ist nicht planbar, die Unsicherheit ständiger Begleiter.

Gewisse Gruppen des Prekariats erfahren eine soziale Isolation, v.a. gegenüber den eigentlichen „KollegInnen“. Eine selbstständige Altenpflegerin sieht ihre KollegIn eben nicht auf Station oder im Heim wieder, sie hat keinen Kontakt – genau wie die IT-ProgrammiererInnen, die andere Projektgruppen der Firma auch nicht zu Gesicht bekommen. In diesen Arbeitsbereichen wurden kollektive Strukturen beseitigt, die Ware Arbeitskraft komplett individualisiert und somit eine gewerkschaftliche Organisierung erschwert.

Bei allgemeinen Untersuchungen über das Prekariat fällt auf, dass vielfältige soziale und psychische Grenzsituationen auftreten, bislang gab es solche Forschungen meist nur zu den Erwerbslosen. Soziale Unsicherheit, ständiger Druck und Angstzustände führen auch im Prekariat zu einer höheren psychischen Belastung, die sich in Depressionen, Manien und zunehmenden suizidalen Tendenzen ausdrücken. Diese Teile der Klasse erleben eine ständige soziale Bedrohung, sie haben wenig Möglichkeiten zur Regeneration und Reproduktion und verfügen kaum über soziale Schutzmechanismen.

All das ist Folge der Tatsache, dass das Prekatariat jener wachsende Teil der Arbeiterklasse ist, dessen Lohn unter die Reproduktionskosten gedrückt wird.

Einige programmatische Schlussfolgerungen

Der Ausgangspunkt für den Kampf gegen diese Zustände muss daher darin liegen, gemeinsam für die Sicherung der Reproduktionskosten dieses Teils der Klasse und für die Erwerbslosen zu kämpfen. Das kann aber nicht nur durch „Tarifpolitik“, durch das klassische Arsenal der bundesdeutschen Gewerkschaftspolitik, also durch rein ökonomischen Kampf erreicht werden. Es darf vielmehr von Beginn an eines politischen Kampfes.

Alle Formen von Zeit- und Leiharbeit ließen sich einfach mit einem erkämpften gesetzlichen Mindestlohn und der Abschaffung der Befristung von Arbeitsverträgen beenden. Solch ein Mindestlohn sollte die „soziale Teilhabe“ garantieren. Wir fordern daher 1.600 Euro Mindestlohn – damit gäbe es keinen Niedriglohnbereich mehr in Deutschland.

Damit einhergehend brauchen wir eine deutliche Erhöhung der Sozialleistungen. Nur wenn der Arbeitslose oder RentnerInnen ein Mindesteinkommen in der Höhe des Mindestlohnes erhalten, entfällt auch der Druck, jederzeit jede Billigarbeit anzunehmen.

Wenn der Abstand zwischen sozialen Leistungen und Löhnen auf diese Weise abgeschafft wird, können wir auch eine historische Spaltungslinie innerhalb der Arbeiterklasse – die zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen – entschärfen, die Konkurrenz mildern.

Die auftretende Zersplitterung bestimmter Arbeitswelten muss mit und durch die Gewerkschaften bekämpft werden. Die Modelle aus Italien oder den USA mit eigenen Gliederungen der Branchengewerkschaften für das Prekariat können dem Teil der Klasse eine eigene Plattform bieten, dies ist schon mal ein großer Fortschritt.

Ebenso müssen die Gewerkschaften und politischen Gruppen auch Lösungen für das „selbstständige Prekariat“ entwickeln. Eine zentrale Forderung wäre dabei garantierte Gesundheitsversorgung und Mindestrente für alle.

Zum anderen geht es darum, diese „selbstständigen Gruppen“ in tarifliche Arbeitsverhältnisse einzugliedern.

Durch Prekarisierung verschiedenster Formen (Praktika, Leih- oder Zeitarbeit, Selbstständigkeit) drückt sich das Kapital vor den Sozialabgaben, senkt also praktisch den Arbeitslohn. Wo sich Unternehmen gegen eine Eingliederung der „freien MitarbeiterInnen“ oder von LeiharbeiterInnen wehren, müssen sie dazu gezwungen werden – bis hin zur entschädigungslosen Enteignung der Unternehmen unter Arbeiterkontrolle.

Wo diese „freien MitarbeiterInnen“ nicht eindeutig einem Betrieb zuzuordnen sind, die sie praktisch als Scheinselbständige ausbeuten, sollen sie im Rahmen eines Programms gesellschaftlich nützlicher öffentlicher Arbeiten zu tariflichen Bedingungen beschäftigt werden.

Ein solches Programm wird – dazu braucht es wenig Phantasie – auf den erbitterten Widerstand der herrschenden Klasse, von Regierungen, Unternehmen, Gerichten stoßen. Schließlich geht es „nur“ darum, die Einkommen und Arbeitsbedingungen von rund einem Drittel der Arbeiterklasse so anzuheben, dass sie wenigstens ihre Arbeitskraft dauerhaft erneuern, reproduzieren können.

Doch in der gegenwärtigen Periode des Kapitalismus erscheint es als Utopie, als Zumutung erster Ordnung, dass für immer größere Teile der LohnarbeiterInnen, die Lohnsklaverei nicht einmal mehr ihre Existenz sichert. Selbst in einem der reichsten imperialistischen Länder ist die Bourgeoisie offenbar nicht willens und fähig, für eine Millionenmasse von Lohnabhängigen wenigstens Löhne zu bezahlen, die dem Wert der Ware Arbeitskraft entsprechen. Hier offenbart sich eine grundlegende Tendenz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die nicht nur ihren ausbeuterischen Charakter, sondern letztlich auch ihre historische Überholtheit offenbart.

„Es tritt offen hiermit offen hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb der Bedingungen der Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“ (11)

Daraus geht hervor, dass eine revolutionäre, realistische Arbeiterpolitik klar vor Augen haben muss, dass der Kampf gegen die Prekarisierung zu keiner dauerhaften, stabilen Lösung im heutigen Kapitalismus führen kann. Sie ist vielmehr eng verbunden und nur dann wirklich Erfolg versprechend, wenn sie mit dem Kampf für den Sturz des Kapitalismus, der Eroberung der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse und der Etablierung einer demokratischen Planwirtschaft verbunden wird. Es ist ein schlagendes Beispiel für die Aktualität der Methode des Übergangsprogramms Leo Trotzkis:

„Die Vierte Internationale verwirft die Forderungen des alten Minimalprogramms nicht, soweit sie sich noch einige Lebenskraft bewahrt haben. Sie verteidigt unermüdlich die demokratischen Rechte und sozialen Errungenschaften der Arbeiter. Aber sie leistet diese Alltagsarbeit im Rahmen einer richtigen, realen, das heißt revolutionären Perspektive. Sofern die alten ‚minimalen‘ Teilforderungen der Massen mit den zerstörerischen und entwürdigenden Tendenzen des verfallenden Kapitalismus zusammenstoßen – und dies geschieht auf Schritt und Tritt – stellt die Vierte Internationale ein System von Übergangsforderungen auf, deren Sinn darin besteht, dass sie sich immer offener und entschiedener gegen die Grundlagen der bürgerlichen Herrschaft selbst richten. Das alte ‚Minimalprogramm‘ wird aufgehoben vom Übergangsprogramm, dessen Aufgabe darin besteht, die Massen systematisch für die proletarische Revolution zu mobilisieren.“ (12)

Fußnoten

(1) Wikipedia, Stichwort Prekariat, www.wikipedia.de

(2) Zur begrifflichen Unterscheidung der unteren Schichten des Proletariats (Pauperismus, Lazarusschicht der Arbeiterklasse) und Lumpenproletariat, das keinen Teil des Proletariats darstellt, siehe Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 673 f.

Im Abschnitt über die „relative Überbevölkerung“ (MEW S. 670 ff) findet sich auf Seite 672 ein Zitat, das der Beschreibung des heutigen Prekariats in vielem verblüffend ähnlich ist:

„Die dritte Kategorie der relativen Überbevölkerung, die stockende, bildet einen Teil der aktiven Arbeiterarmee, aber mit durchaus unregelmäßiger Beschäftigung. Sie bietet so dem Kapital einen unerschöpflichen Behälter disponibler Arbeitskraft. Ihre Lebenslage sinkt unter das durchschnittliche Niveau der arbeitenden Klasse, und gerade das macht sie zur breiten Grundlage eigner Exploitationszwecke des Kapitals.“

(3) Engels, Brief an Marx, 7. Oktober 1858, MEW 29, S. 358

(4) Vergleiche u.a. Lenin, Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus, in: Lenin, Werke, Bd. 23, S. 102 – 118

(5) B. Vogel aus APUZ 33/34 2008 S. 13

(6) Kalina/Weinkopf 2008, in: Standpunkte 8/2011

(7) Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 662f

(8) Dörre/Kastel

(9) Kalina/Weinkopf 2008, in: Standpunkte 8/2011

(10) Standpunkte RosaLux – Klenner Studie WSI 2010

(11) Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 473

(12) Trotzki, Der Todeskampf der Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale, In: Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 87f

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Vom Widerstand zur Befreiung

Für ein freies, demokratisches, sozialistisches Palästina!

Broschüre, A4, 48 Seiten, 3,- Euro

Lage der Klasse – Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Internationalistisches revolutionäres Sommercamp

Südamerika - Politik, Gesellschaft und Natur

Ein politisches Reisetagebuch
Südamerika: Politik, Gesellschaft und Natur
Ich reise ein Jahr durch Südamerika und versuche in dieser Zeit viel über die Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und natürlich auch die Landschaften zu lernen und möchte euch gerne daran teilhaben lassen