Tobi Hansen, Infomail 1024, 14. Oktober 2018
Das Ausmaß der Demonstration hatte alle TeilnehmerInnen und wohl auch die VeranstalterInnen positiv überrascht. Fast eine Viertelmillion demonstrierte allein in Berlin (242.000 laut OrganisatorInnen). Zusammen mit den zeitgleich laufenden Demos in Frankfurt/Main und Karlsruhe waren am 13. Oktober mehr als eine Viertel Million Menschen auf der Straße gegen Rassismus und für Solidarität. Das Motto „Unteilbar“ steht für das Ziel, die Geflüchteten nicht gegen den „Sozialstaat“ auszuspielen, MigrantInnen nicht gegen die Masse der Bevölkerung. Alle sollten Teil eines gemeinsamen Kampfes für eine solidarische Gesellschaft sein. Mit einem recht allgemeinen, breiten und in vielen Punkten auch sehr vagen Aufruf gelang es den InitiatorInnen, eine UnterstützerInnenliste zu organisieren, die wahrscheinlich größer war als bei den Protesten gegen das „Transatlantische Freihandelsabkommen“ (TTIP) im Jahr 2015.
So ergab sich auch ein recht „buntes“ Bild der Proteste. Viele NGOs wie Amnesty International, Oxfam und Co., sehr viele Initiativen zur Solidarität mit den Geflüchteten wie „Seebrücke“, lokale Berliner Strukturen und Bündnisse, ein großer Gewerkschaftsblock, der paritätische Wohlfahrtsverband, MigrantInnenverbände, die Linkspartei, die Grünen, die SPD (ganz am Ende) waren ebenso vertreten wie zahlreiche Organisationen der außerparlamentarischen „radikalen“, antikapitalistischen Linken. Im Gegensatz zur letzten Demo gegen die AfD in Berlin gab es diesmal deutlich weniger „Party“ und mehr politischen Inhalt auf der Straße. Dabei wollen wir nicht kritisieren, dass es Musik und Party auf Demos gibt, nur möge das nicht zum Ersatz für politischen Inhalt werden.
Viele Teilnehmende brachten ihre Empörung und die Ablehnung des Rechtsrucks auf die Straße, hatten sich selbst Plakate gemalt oder nahmen bereitwillig solche von Gruppen und Organisationen in die Hände. Die Masse stellte einen Querschnitt aus „Zivilgesellschaft“, einer reformistisch geprägten ArbeiterInnenklasse und auch progressiver „Mittelschichten“ dar, die gegen Rassismus und für Solidarität auf die Straße gegangen sind. Von Jung bis Alt zeigten viele ihr Engagement auf der Straße. Die „radikale“ Linke war naturgemäß in der Minderheit, aber durchaus beachtlich vertreten – und stieß auf TeilnehmerInnen, die durchaus offen für eine Verbindung von Antirassismus, sozialer Frage und Kampf waren.
Dabei ist auch verständlich, dass viele eher die NGOs oder die Seebrücke als führende Kräfte verstehen, schließlich stehen diese Gruppierungen in der direkten Konfrontation mit dem staatlichen Rassismus und/oder der „Festung Europa“ – durchaus im Gegensatz zu den Parteien der „Linken“, vor allem zur Regierungspartei SPD. Das ist erst mal ein Fakt, wenn es auch ein bezeichnendes Licht auf die europäische Linkspartei wirft, dass Initiativen wie Seebrücke zur Zeit glaubwürdiger und vor allem aktivistischer gegen Seehofer und Salvini Politik machen als die parlamentarisch fixierten reformistischen oder links-bürgerlichen Kräfte.
Taktisch recht klug – man könnte sagen, mit einer Dosis Schuldbewusstsein – lief daher die SPD am Ende der Demo mit, Linkspartei und Grüne waren mit großen Blöcken weiter vorne zu sehen. So manche Ex-WählerInnen haben sich auf der Demo wahrscheinlich gefragt, wie viele Seehofer- und Maaßen-Kröten in der Großen Koalition noch geschluckt werden müssen, bevor sie untergeht.
Trotz des Aufspringens der Sozialdemokratie und der Teilnahme zahlreicher bürgerlicher Kräfte (Grüne, Kirchen, …) war die Demonstration nicht nur eine gegen die AfD und andere offene RassistInnen, sondern auch gegen die Große Koalition. Vielen Redebeiträge bei der Auftaktkundgebung und von den über 35 Lautsprecherwagen thematisierten die schlechte soziale Lage vieler Arbeitsloser und MigrantInnen, die verfehlte neo-liberaleWohnungsbaupolitik, die verheerende und unglaubwürdige „Klimapolitik“ der Bundesregierung, die auf Diesel, Braunkohle und Profite setzt. Zugleich wurde die Misere im Pflegebereich angeprangert und zur Solidarität mit dem aktuellen Arbeitskampf bei Ryanair aufgerufen.
Dass viele öffentliche Medien sehr zuvorkommend berichtet haben, z. B. im Gegensatz zur Großdemo gegen TTIP 2015, liegt sicherlich daran, dass es auch den Versuch gibt, die #unteilbar- Demo für das aktuelle Deutschland und dessen Regierungspolitik zu instrumentalisieren. Zweifellos besteht diese Gefahr, zur Zeit aber wohl mehr darin, dass die Grünen ihren Einfluss auf die Masse der DemonstrantInnen erhöhen, während SPD und Linkspartei politisch angeschlagen sind. Die SPD zahlt den wohlverdienten Preis für die Große Koalition, die Linkspartei muss sich mit Sahra Wagenknecht und deren Populismus rumschlagen.
Neben der Gefahr eine Vereinnahmung oder Begrenzung einer entstehenden Massenmobilisierung gegen Rassismus und Rechtsruck durch die Grünen besteht aber auch die Möglichkeit der Entstehung einer realen Kraft, die diesen nicht nur mit Demos, sondern auch mit Kampagnen gegen Rassismus, Wohnungsnot, Prekarisierung entgegentreten kann. Kurzum, diese Bewegung kann zu einer kämpferischen werden, wenn die radikale Linke, wenn RevolutionärInnen darin eingreifen.
Diese Gefahr sehen offenkundig nicht nur die RechtspopulistInnen der AfD, die FDP, sondern auch die CDU. Deren Berliner Landesverband bezeichnete die Demonstration als Machwerk von „dubiosen Organisationen“. Die Präsenz von VertreterInnen der „Roten Hilfe“ unter den OrganisatorInnen und zahlreicher „linksradikaler Blöcke“ stelle eine gefährliche Öffnung der Zivilgesellschaft zum „Linksextremismus“ dar. „Wenn heute demokratische Politiker oder gar Minister Seite an Seite mit linksextremistischen Organisationen durch die Stadt ziehen, dann ist das entweder naiv oder politisch unverantwortlich,“ pöbelte der Berliner CDU-Generalsekretär Stefan Evers.
Einige Tage vor der Demonstration hatte Sahra Wagenknecht zweierlei geschafft. Zum einen verstieß sie als Linkspartei-Fraktionsvorsitzende gegen den Beschluss der eigenen Fraktion zur Unterstützung von #unteilbar, zum anderen erklärte sie als „Aufstehen“-Initiatorin, warum ihre „Sammlungsbewegung“ zur Demonstration nicht aufrufen würde. Auch wenn die Forderung nach offenen Grenzen im Aufruf gar nicht vorkommt, so würde dieser „in der Tendenz“ in diese Richtung gehen – und damit würden Menschen „ausgegrenzt“: „Man grenzt damit natürlich Teile von Menschen aus, die genauso bereit wären und überzeugt sind, dass man Rassismus entgegentreten muss.“
Wagenknecht unterschob dem Aufruf ihr „Feindbild“ der „offenen Grenzen“, obwohl diese als Forderung nicht explizit vorkamen, und wünscht sich Proteste gegen Rassismus, in denen auch diejenigen ihren Platz finden, die für eine „Regulierung“ der Aufnahme von Geflüchteten sind, also de facto für Obergrenzen und willkürliche Festlegungen gemäß ihrer kapitalistischen Verwertbarkeit. Hier offenbart sich der reaktionäre Charakter aller Forderungen nach Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen – und es gehört schon ein gehöriger Schuss Demagogie und Sozialchauvinismus dazu, die Forderung nach offenen Grenzen, also nach Streichung aller rassistischen Einreisebeschränkungen und Kontrollen, als „ausgrenzend“ zu bezeichnen.
Dass allerdings bei manchen von „Aufstehen“ gerade der letzte politische Restverstand am Ausdünnen ist, beweisen manche „Theorien“, die im Vorfeld der Demonstration lanciert wurden. Demnach wäre die „offene Gesellschaft“ der Kampfbegriff des internationalen Finanzkapitals schlechthin, welches durch den Finanzier Soros nun auch mit #unteilbar seine bösen „replacement migration“, „Umvolkungspläne umsetzen wolle. Soros musste in Ungarn wegen staatlichen Antisemitismus’ seine „Zelte“ abbrechen. Dass er nun von ähnlichen Theorien aus Teilen der sog. „Linken“ hier bedacht wird, zeigt die politische Verrohung, Verwirrung wie auch den Rechtsruck in dieser deutlich an. Auf der anderen Seite ist dies auch für „Aufstehen“ ein „Lackmustest“: Gelten allein die Kommentare der Ikone und kann sich dahinter jeder reaktionäre Dreck verstecken oder führen die bewussteren Teile dort zumindest einen Kampf gegen diese Art von Rechtsruck in der Methode? Vom Kampf gegen die Ikone wollen wir hier und jetzt mal nicht ausgehen.
Ähnlich wie z. B. die „umfairteilen“-Demos vor einigen Jahren bergen diese Großevents stets die Gefahr, dass danach erst mal Schluss ist. Nicht nur die zivilgesellschaftlichen Organisationen, auch linke Parteien und Gewerkschaften entziehen sich nur allzu gerne der weitergehenden Aufgaben, aus einer Massendemonstration, also einer im Kern symbolischen Aktion, eine kämpferische Bewegung zu machen. Von #unteilbar geht bei vielen die Erwartung aus, dass dieses Signal in die „Republik“ ausstrahlt, dadurch Kämpfe vor Ort zusammenführt, die quasi auch lokal „unteilbar“ sein sollten und sich damit geeint dem Rechtsruck entgegenstellen könnten.
Dazu sind aber die Gewerkschaften, die Linkspartei (hier und da vor Ort auch die SPD) und Organisationen der außerparlamentarischen „Linken“ entscheidend – hier muss ein „Ruck“ durch die Klasse gehen, hierauf muss die Initiative liegen!
Hier wäre es wichtig, in den nächsten Wochen auf (Folge)-Konferenzen von #unteilbar den antirassistischen Kampf zu verallgemeinern, ihn mit den „anderen“ sozialen Kämpfen zusammenzuschweißen und gemeinsame Initiativen zu entwickeln. Wohnungsnot, schlechte Ausstattung des Bildungsbereichs, anstehende Privatisierungen des öffentlichen Dienstes, weitere Verschärfung der inneren Repression durch Landesgesetze, Aufrüstung und Kriegspolitik, eine drohende neue wirtschaftliche Krise – all dies kann zusammengeführt werden in den lokalen Kämpfen wie auch in bundesweiten Mobilisierungen.
Mit den Demonstrationen der letzten Wochen in Hamburg (Welcome United), gegen die Rodung vom Hambacher Forst (#hambibleibt), den Seebrücke-Demos, den Mobilisierungen gegen AfD und Nazis, gegen die Polizeiaufgabengesetze haben sich viele Hunderttausend gegen den Rechtsruck und Rassismus positioniert. Es ist nun gerade die Aufgabe der Linken, der Organisationen der ArbeiterInnenklasse, dies mit mehr Inhalt zu füllen. Dass sich die Gewerkschaften und Massenparteien wie DIE LINKE vor dieser Aufgabe drücken, ist nicht die Schuld des „breiten“ Protestes auf der Straße, sondern zeigt deren politisches Unvermögen an.
Es ist nicht zwingend, dass eine Massendemonstration mit Hunderttausenden ins politische Fahrwasser der Grünen und NGOs geführt wird, es bei einem einmaligen Ereignis bleibt und bei einer vagen Plattform ohne konkrete Forderungen und Kampfmethoden. Doch die Aufgabe, eine solche Ausrichtung in die Bewegung zu tragen, können RevolutionärInnen nicht an andere delegieren. Es ist notwendig, dass alle Kräfte der „radikalen Linken“, die für ein Aktionsbündnis, eine gemeinsamen Kampffront gegen den Rechtsruck und die Angriffe der Regierung eintreten, gemeinsam für den Aufbau einer solchen Einheitsfront agieren. Nur so wird es möglich sein, auch Massenorganisationen zur Aktion zu zwingen.