Arbeiter:innenmacht

100 Jahre Jännerstreik in Österreich: eine verpasste Revolution

Michal Nagy, Infomail 986, 9. Februar 2018

Vor 100 Jahren kam es zu den größten Streiks in der Geschichte Österreichs bis heute. Die Streiks entbrannten im Namen des Friedens, des Endes der kapitalistischen Versorgungskrise und unter dem Eindruck der jungen Russischen Revolution. Wegen des Fehlens einer revolutionären, führenden Partei war der Aufstand, wie in Deutschland, Ungarn und der zukünftigen Tschechoslowakei, fehlgeschlagen.

Entwicklung der Sozialdemokratie

Mit Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Epoche des Imperialismus und mit ihr auch die rasche Verbürgerlichung der Sozialdemokratie. Obwohl die SDAP (Sozialdemokratische ArbeiterInnenpartei Österreichs), aus der später die SPÖ hervorging, in der Zeit ihrer Gründung mit dem Hainfelder Programm 1889 durchaus eine marxistische Partei auf einem formal marxistischen Gründungsdokument war, spielten opportunistische und revisionistische Tendenzen eine nicht unbedeutende Rolle. Unter Führung des „Gründungsvaters“ Victor Adler wurde die österreichische Sozialdemokratie immer mehr zu einer angepassten parlamentarischen Partei, die ihre Forderungen schrittweise an Reformen innerhalb der bürgerlichen Demokratie anpasste und statt der Zerschlagung die Demokratisierung des bürgerlichen Staatsapparats anstrebte. Dieser Prozess vollzog sich, ähnlich wie in den meisten europäischen Ländern, ohne Herausbildung einer revolutionären Fraktion oder Partei und endete spätestens mit der patriotischen Unterstützung des eigenen Vaterlands im Ersten Weltkrieg. Die ersten Kriegsjahre brachten eine allgemeine Abnahme der Mitgliederzahlen in der Sozialdemokratie (von 415.000 im Jahr 1913 auf 166.000 1916), jedoch eine große Zunahme an weiblichen Mitgliedern, die während des Krieges bis zu 42 Prozent des Proletariats bildeten. Erst mit dem offensichtlichen Verrat begann langsam die Herausbildung einer linksradikalen und antimilitaristischen Fraktion. Die Erkenntnis über den neuen Charakter der Partei verlief langsam und auch für die Herausbildung einer offenen Antikriegsstimmung in der ArbeiterInnenschaft bedurfte es der immer tieferen Versorgungs- und Lohnkrise der Kriegsjahre, vor allem nach 1917. Sogar die sozialdemokratische Parteiführung passte sich im Oktober an die pazifistische Linie der gemäßigten Linken an und eröffnete die austromarxistische Phase aus linker Rhetorik und reformistischer Realpolitik.

Der Einfluss der „Linksradikalen“

Für die Entfachung der Streikbewegung entscheidend waren Kürzungen der geringen Brot- und Mehlrationen, aber auch die Friedensbestrebungen der Russischen Revolution und die Rolle der Linksradikalen in der Sozialdemokratie, die den Krieg mit einem Generalstreik beenden wollten. In der Partei konnte sich ein kleiner linker Flügel rund um Friedrich Adler herausbilden, der jedoch keinen Prozess der programmatischen und organisatorischen Zentralisierung durchlief. Friedrich Adler selbst vermied offene Auseinandersetzungen, eine potenzielle Spaltung und verfolgte eine pazifistische Politik statt klassenkämpferischen Antimilitarismus’. Doch aus den Reihen des „Verbands Jugendlicher Arbeiter“ betrieben Oppositionelle Propaganda gegen den Krieg und organisierten sich eigenständig im „Aktionskomitee der Linksradikalen“, u. a. unter Franz Koritschoner.

Innerhalb des Jahres 1917 kam es bereits zu einigen großen Streikbewegungen, in denen das „Aktionskomitee der Linksradikalen“ Fuß fassen konnte, weil sich die sozialdemokratischen Organe immer mehr in solche der Klassenkollaboration verwandelt hatten und für ungestörte (Kriegs-)Produktion sorgten. Auf Initiative der Linksradikalen fand im September 1917 eine Konferenz in St. Egyden zwischen Vertrauensleuten vieler wichtiger Betriebe statt, die sich für das Ende des Krieges aussprach und einen politischen Streik vorbereitete.

Der Jännerstreik

Ab dem 22. Dezember 1917 begannen die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk zwischen dem jungen Sowjetstaat und den Mittelmächten. Nachdem Deutschland Annexionen forderte und sich weigerte, seine Armee abzuziehen, kam es zu genereller Empörung in der ArbeiterInnenklasse. Der Streik wurde deshalb vorgezogen und sollte am 14. Jänner 1918 in Wiener Neustadt beginnen. Dort begann er mit einer illegalen Betriebsversammlung im Daimler-Werk und setzte sich mit einem Zug auf den Hauptplatz fort, nach dem sich weitere Fabriken im Wiener Becken dem Streik anschlossen. Am bedeutendsten waren wohl die 40.000 ArbeiterInnen der Wöllersdorfer Munitionsfabrik. Am selben Tag wurden von den jeweiligen Betrieben VertreterInnen für einen ArbeiterInnenrat gewählt, der als Ersatz für die fehlende Unterstützung der Gewerkschaften und der Partei agieren sollte, wohl aber auch von den Linksradikalen vorangetrieben wurde. Zwei ihrer Mitglieder gehörten sogar der Leitung des Rats an. Am selben Tag breitete sich der Streik noch weiter aus und am nächsten Tag, dem 15. Jänner, reagierte die Partei auf den Streik anpassend und mit der Absicht, die Kontrolle über ihn zu erlangen und ihn zu beenden. Am darauffolgenden Tag breitete sich der Streik auf Wien aus, wo 84.000 ArbeiterInnen im Ausstand waren. Am 17. Jänner erstellte der Parteivorstand einen 4-Punkte-Katalog, der in die ArbeiterInnenräte einzubringen sei, um die Massen zu beruhigen und den Streik beenden zu können. Die Forderungen lauteten: 1. kein Scheitern der Friedensverhandlungen wegen territorialer Forderungen der Regierung, 2. eine bessere Versorgungssituation, 3. eine Demokratisierung des Gemeindewahlrechts und 4. Aufhebung der Militarisierung der Betriebe. Die Linksradikalen veröffentlichten daraufhin ein eigenes 4-Punkte-Programm, das eindeutig über die Forderungen der Partei hinausging (sofortiger Waffenstillstand, Wahl der Friedensdelegierten durch das Volk), Misstrauen gegenüber den „patriotischen ArbeiterführerInnen“ äußerte und sich eindeutig auf die Seite der bolschewistischen Delegation in Brest-Litowsk stellte. Der Streik breitete sich mittlerweile auf Ungarn und Tschechien aus und betrug schon zwischen 550.000 und einer Million TeilnehmerInnen. Die Sozialdemokratie bemühte sich inzwischen, von der Regierung größere rhetorische Zugeständnisse einzuholen und im ArbeiterInnenrat einen Beschluss für die Wiederaufnahme der Arbeit zu erlangen. Auf der Versammlung im ArbeiterInnenheim Margareten wurde dies schließlich mit großer Mehrheit erreicht. Der Streik dauerte zwar in vielen Fabriken noch bis zum 23. Jänner an, konnte aber nicht gegen die Sozialdemokratische Partei wiederbelebt werden. Die ArbeiterInnenräte wurden in weiterer Folge der Sozialdemokratie untergeordnet. Die Statuten wurden dahingehend geändert, dass man für eine Mitgliedschaft im ArbeiterInnenrat mindestens sechs Monate Mitglied in der Partei sein musste. Außerdem sollte er kein ständiges Gremium sein, sondern nur bei Streiks und anderen betrieblichen Protesten einberufen werden. Damit war der ArbeiterInnenrat nicht mehr ein unabhängiges, politisches Machtorgan der ArbeiterInnenklasse, sondern ein Instrument zur bürokratischen Kontrolle von Streikbewegungen.

Die Lehren der Bewegung

Die konterrevolutionäre Rolle der Sozialdemokratie zeigte sich deutlich an der Sabotage dieser größten Streikbewegung Österreichs. Sie zeigte sich noch klarer in der Zwischenkriegszeit, wo sie Koalitionsregierungen mit den Christlich-Sozialen einging und später das Proletariat im Kampf gegen die Dollfuß-Diktatur lähmte.

Eine zentrale Lehre dieser mächtigen Streikbewegung ist eine über die Räte. Wie dieses Beispiel gut zeigt, sind die Räte keineswegs spontan vollständig revolutionäre Instrumente. Sie sind Organe der Doppelmacht dahingehend, dass sie die Macht der ArbeiterInnenklasse gegenüber der kapitalistischen Staatsmacht verkörpern. Aber die proletarische Machtergreifung, mit der die Doppelmacht aufgehoben und die Staatsmacht selbst in die Hände der Räte fällt, bleibt ein bewusster revolutionärer Akt. Sind die ArbeiterInnenklasse und ihre Führung trotz der Räte zu diesem Schritt nicht bereit, dann werden auch jene nicht von langfristigem Bestand sein können. Die Räte selbst müssen also für ein Programm, das die aktuellen Kämpfe der Klasse mit der revolutionären Machteroberung verknüpft, gewonnen werden. Die Sozialdemokratie lehnte ein solches Programm strikt ab und die Linksradikalen waren zur Zeit des Jännerstreiks noch zu schwach, um die Dominanz der sozialdemokratischen Parteiführung über die Streikbewegung zu brechen. Zwar gründeten sie mit der Kommunistischen Partei Osterreichs im November 1918 eine der ersten kommunistischen Parteien außerhalb Sowjetrusslands, doch selbst dann wurden sie aufgrund mangelnder Erfahrung und ultralinker Fehler keine ernsthafte Konkurrenz für die Sozialdemokratie.

Die Erfahrung des Jännerstreiks von 1918 zeigt uns bis heute die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die verhindern kann, dass eine verräterische Partei die Führung über eine radikalisierte Massen- bzw. Rätebewegung übernimmt und sie ins Nichts treibt. Wartet man mit dem Aufbau einer solchen Partei, bis die Massen sich selbst bewegen, dann wird es zu spät sein.

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