Helga Müller, Neue Internationale 220, Juni 2017
In diesem Jahr fallen die Tarifrunden im Einzel- und Großhandel und in Bayern auch die des Versicherungsgewerbes und des Buchhandels und der -verlage zusammen.
Im Einzel- und auch im Großhandel geht es darum, ob sich die Kolleginnen und Kollegen gegen die großen Einzelhandelskonzerne wie Rewe, Metro etc. durchsetzen werden. Die Tarife sind sehr niedrig im Vergleich zu anderen Branchen – selbst ver.di spricht davon, dass 70 Prozent der Beschäftigten von Altersarmut betroffen sein werden.
Die Großkonzerne dieser Branchen tragen seit Jahren auf dem Rücken der Beschäftigten ihren Verdrängungswettbewerb aus und treiben damit auch die Konzentration auf noch wenige große Monopole voran. Die Methoden umfassen Tarifflucht und damit einhergehend noch niedrigere Löhne und Gehälter, die Schließung von ganzen Einzelhandelsketten (siehe den Fall Schlecker), miserabelste Arbeitsbedingen, bei denen die Beschäftigten vollkommen der Willkür der UnternehmerInnen ausgesetzt sind, Auslagerungen der Produktion ins Ausland unter Arbeitsbedingungen, die sich hier niemand vorstellen will.
Tarifflucht war in den letzten Jahren eine der beliebtesten Maßnahmen der Einzelhandelsketten, um die Beschäftigten noch besser ausbeuten zu können. Laut ver.di sind nur noch 30 % der Beschäftigten tarifgebunden. Deshalb fordert die Gewerkschaft vollkommen zu Recht in dieser Tarifrunde die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzel- und Großhandel, so dass jede/r Beschäftigte in diesem Bereich unter den Tarifvertrag fällt.
Weiterhin fordert ver.di im Einzelhandel: 6 % mehr Lohn, einen Mindestlohn von 1.900 Euro brutto, eine Erhöhung der Auszubildendenvergütung um 100,- Euro bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Diese Forderungen sind über die verschiedenen Bundesländer hinweg weitgehend identisch. Nachteilig werden sich die verschiedenen Laufzeiten auswirken. Diese gilt es im Laufe der Tarifrunde auszugleichen, sobald alle Bundesländer aus der Friedenspflicht sind.
Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass es darum geht, die Forderungen auch tatsächlich voll umzusetzen, damit die Kolleginnen und Kollegen sich über ihre Kraft bewusst werden und das Kräfteverhältnis zu ihren Gunsten verändern. Bisher ist es den Konzernen und Ketten immer wieder gelungen, sie zu drücken.
Die Bedingungen dazu sind dieses Mal gut, sind doch die Beschäftigten aus mehreren Branchen zur gleichen Zeit in Tarifrunden mit einer eindrucksvollen Stärke: im Einzelhandel sind 3 Millionen und im Großhandel sind 1,2 Millionen Kolleginnen und Kollegen beschäftigt.
Die Tarifrunden haben in mehreren Bundesländern bereits begonnen und in vielen Städten, u. a. auch in München und Nürnberg, waren die Beschäftigten aus dem Einzel- und Großhandel, aus dem Versicherungsgewerbe und aus dem Buchhandel und den Buchverlagen zu gemeinsamen Aktionen und Warnstreiks aufgerufen. Das ist ein erster richtiger Schritt, um die Beschäftigten zusammenzuführen und ihr Gewicht in dieser Tarifrunde zur Geltung zu bringen. Doch mit Warnstreiks allein oder mit netten Worten wie „Wir sind mehr wert“ werden aber die Ziele nicht durchzusetzen sein, haben doch die UnternehmerInnen durch die Bank weg in den ersten Tarifverhandlungen gezeigt, dass sie weiterhin willens sind, ihre Profite auf Kosten der Beschäftigten zu behaupten: Wenn es überhaupt ein Lohnangebot gab, dann lag dieses weit unter den Forderungen von ver.di.
Dafür muss es – sobald alle Bundesländer aus der Friedenspflicht sind -, Abstimmungen für Durchsetzungsstreiks geben, die Kolleginnen und Kollegen müssen – wie in den vergangenen Tarifrunden – über ihre Kampfmaßnahmen selbst entscheiden: In jedem Betrieb muss es Streikversammlungen aller Beschäftigten geben, die Streikleitungen oder Streikkomitees müssen von diesen gewählt und den Streikversammlungen gegenüber rechenschaftspflichtig sein. Über die Streiktaktik und den Fortgang muss die Basis bzw. deren gewählte VertreterInnen entscheiden. Diese betrieblichen Streikleitungen und -komitees müssen auf Bezirks- und Länderebene zusammengeführt werden, basierend auf den betrieblichen Streikkomitees.
Die Verhandlungsrunden müssen nicht nur öffentlich geführt werden, ohne Gemauschel im Hinterzimmer, die Mitglieder müssen auch auf einen branchenweiten, unbefristeten Flächenstreik vorbereitet werden. Nur so wird es möglich sein, eine lange Auseinandersetzung durchzuhalten.
Die Auseinandersetzung im Einzel- und Großhandel hat, jedenfalls der Möglichkeit nach, eine weit über die Branchen hinausgehende Bedeutung. In diesem Sektor ist prekäre Beschäftigung, Lohndrückerei, Tarifflucht konzentriert. Im Kampf gegen Prekarisierung, um einen Mindestlohn und gegen Altersarmut nimmt die Branche eine Schlüsselstellung ein. Daher braucht es auch die Solidarität aller anderen GewerkschafterInnen, der ganzen ArbeiterInnenklasse in dieser Auseinandersetzung.