Martin Suchanek, Neue Internationale 287, November 2024
Israel führt seit einem Jahr einen völkermörderischen Krieg gegen die Bevölkerung von Gaza und in der Westbank, der auf die Vertreibung und Zerstörung der palästinensischen Nation zielt. Nun ergreift der Krieg den Libanon und es droht sogar eine weitere Eskalation mit dem Iran.
Der vielbeschworene Flächenbrand wird zur Wirklichkeit. Die massive Bodeninvasion und „begrenzte“ Besatzung Libanons haben begonnen; seit Wochen wird das gesamte Land systematisch bombardiert.
Das Andenken an und die Trauer über die Opfer des 7. Oktober werden genutzt, um einen grausamen Genozid zu rechtfertigen, um immer wieder vier weitere Staaten zu bombardieren, Millionen zur Flucht zu zwingen und den Tod Zehntausender zu legitimieren. Die Regierung und Medien rechtfertigen diese Barbarei und zeigen damit, wie eng Krieg und Vertreibung mit den Interessen des westlichen Imperialismus verbunden sind.
Seit 7. Oktober 2023 haben wir es mit einer systematischen Eskalation zu tun, die vom israelischen Staat ausgeht und von seinen internationalen Verbündeten – mal offen, mal mit einigen „humanitären“ Mahnungen – unterstützt wird.
Diese Eskalation hat mehrere, miteinander verbundene Ursachen:
Erstens sieht der rechtsextreme, in Teilen faschistische Flügel der Regierung seine Chance, eine vollständige Säuberung Palästinas durchzusetzen. Er setzt bewusst auf Eskalation und Aggression gegen Iran, Jemen, Libanon oder Syrien, um trotz einer großen Protestbewegung gegen Netanjahu die reaktionäre Einheit unter dem Banner der „Verteidigung Israels“ herzustellen. Seit Jahren zeigt sich dabei: Solange die jüdische Arbeiter:innenklasse Israels mit dem rassistischen Zionismus nicht bricht, ist sie unfähig, der Rechten Paroli zu bieten, bleibt sie politisch ohnmächtig, toleriert oder unterstützt gar die pogromistische Politik.
Darüber hinaus haben die rechten, protofaschistischen Kräfte zwei weitere Vorteile in ihrer Hand. Erstens haben sie ihren Einfluss in der Armee weit ausgeweitet. Rund 40 % der Offiziersanwärter:innen kommen von den rechten Nationalreligiösen (1990 betrug deren Anteil noch 2,5 %). Zweitens sind sie eine militante, bewaffnete und organisierte reaktionäre kleinbürgerliche Bewegung, die auch davor nicht zurückschreckt, der israelischen Gesellschaft gewaltsam ihren Willen aufzuzwingen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass sich die israelische Rechte selbst einem begrenzten Waffenstillstand oder von den USA und der EU forcierten Deal, der auch eine paar Versprechungen für die Palästinenser:innen enthalten würde, nicht beugen würde. Da die liberalen und labouristischen zionistischen Kräfte selbst dem „eigenen“ rassistischen Projekt verpflichtet sind und daher jeden offenen zugespitzten Konflikt in Israel mehr fürchten als die eigene Unterordnung unter die Rechten, kann diese die „Zivilgesellschaft“ gerade im Krieg faktisch dominieren.
Zweitens stehen die westlichen imperialistischen Verbündeten Israel zur Seite, obwohl sie ein moderateres Vorgehen gegen die Palästinenser:innen bevorzugen würden. An allen wichtigen Wendepunkten unterstützen sie es; zu keinem Zeitpunkt wurde die politische, finanzielle und militärische Unterstützung in Frage gestellt. So blockieren sie UN-Resolutionen, liefern Waffen und setzen ihre Marine und Luftwaffe gegen Iran, die Hisbollah und Huthi ein. Faktisch haben sich alle Drohungen, Israel bei fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen, humanitären Blockaden in Gaza usw. Waffenlieferungen zu streichen oder auch nur zu begrenzen, als leere Phrasen erwiesen, die im Grunde nur (wie z. B. im US-Wahlkampf) der Beschwichtigung und Täuschung der eigenen Bevölkerung dienen.
Drittens beschränken sich die meisten Staaten des Nahen Ostens – Saudi-Arabien und Ägypten, aber auch Katar und die Türkei – auf Protestresolutionen gegen die zionistische Aggression. Zugleich bieten sie sich als Vermittler:innen für den Imperialismus und Israel an. Eine ähnliche Rolle spielen China und Russland, die zwar auf eine „Mäßigung“ Israels drängen, aber die imperialistische Ordnung letztlich nicht in Frage stellen. Selbst der Iran und die Hisbollah wollen bzw. wollten einen Waffengang mit Israel vermeiden. Beide haben sich daher lange auf Gegenschläge gegen dessen Aggression beschränkt. Während der Iran weiter diese Politik verfolgt, hat der Zionismus Hisbollah und den Libanon in einen brutalen Krieg gezwungen, dem die Miliz nicht mehr ausweichen kann.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für alle diese Kräfte das Schicksal der Palästinenser:innen eine ihren eigenen nationalen wie geopolitischen Zielen untergeordnete Rolle spielt. So sind für den Iran die Stellung in Syrien und im Irak, wirtschaftliche Abkommen mit den BRICS-Staaten und eine Entspannung mit Saudi-Arabien viel wichtiger als das Schicksal der Hamas und Palästinas. Die Hisbollah verfolgt auch in erster Linie ihre Interessen im Ränkespiel der libanesischen Ordnung. In Syrien ertränkte sie gemeinsam mit Russland, dem Iran und dem Schlächter Assad die Revolution im Blut; im Libanon stützte sie 2020 die Regierung Aoun gegen die Massenbewegung.
Trotz dieser ungünstigen internationalen Verhältnisse leisten die Massen in Gaza und der Westbank bis heute heroischen Widerstand gegen Besatzung und Vertreibung. Aber sie stehen angesichts der Offensive scheinbar übermächtiger Gegner:innen mit dem Rücken zur Wand.
Die drohende Katastrophe ist jedoch auch Resultat der Politik der palästinensischen Führungen. Seit Jahrzehnten fungieren die Palästinensische Autonomiebehörde und die Fatah faktisch als verlängerter Arm der Besatzung, der EU und USA.
Die Führung der islamistischen Hamas erweist sich auch als reaktionäre Sackgasse. Sie setzte über Jahre auf die sog. „Achse des Widerstandes“, ein Bündnis zwischen Hisbollah, Syrien, Iran, deren Hauptkräfte im Bündnis mit Russland vor allem die syrische Revolution bekämpften und das Assad-Regime retteten.
Die Hamas, aber auch die Hisbollah und andere bürgerliche und dschihadistische, nationalistische Führungen verfolgen ein reaktionäres Ziel – die Errichtung eines kapitalistischen und islamisch-palästinensischen Staats. Dieses Vorhaben erleichtert nicht nur die Dämonisierung der Hamas und des palästinensischen Volkes, es ist auch den Interessen der Massen an umfassender Befreiung von nationaler und sozialer Unterdrückung direkt entgegensetzt und vollkommen ungeeignet, die Einheit der Arbeiter:innen und Bäuer:innen im Nahen Osten gegen Zionismus, Imperialismus und Kapitalismus herzustellen.
Trotz dieser grundlegenden Differenzen unterstützen wir bedingungslos den Befreiungskampf und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes, sein Recht, sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Wir rufen die Jugend, Arbeiter:innen und unterdrückten Massen, die antizionistischen arabischen und jüdischen Aktivist:innen in den Vereinigten Staaten, in Europa, im Nahen Osten, im Maghreb und in der ganzen Welt auf, ihre Mobilisierung zu verstärken. Die erste Aufgabe der revolutionären Kommunist:innen besteht darin, die größtmögliche Aktionseinheit gegen den Völkermord und in Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu fördern. Das gilt auch für das libanesische Volk, das heute von Israel angegriffen wird, sowie allen anderen Zielen der zionistischen und imperialistischen Aggression.
Es gab, gibt und wird keinen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten geben, solange die Unterdrückung durch den zionistischen Staat Israel, der als proimperialistischer Gendarm fungiert, anhält. Auch nicht mit der gescheiterten Zwei-Staaten-Politik, die der Imperialismus und seine Verbündeten wiederherzustellen versuchen, und auch nicht mit einem kapitalistischen und islamistischen palästinensischen Staat. Um eine fortschrittliche Rolle zu spielen, müssen die israelische Arbeiter:innenklasse und Jugend mit dem Zionismus brechen, seinen Krieg ablehnen und den palästinensischen Befreiungskampf unterstützen. Frieden wird nur möglich sein, wenn der unterdrückerische israelische Staat durch ein einheitliches, säkulares, demokratisches und sozialistisches Palästina im Rahmen einer regionalen sozialistischen Revolution ersetzt wird.