Arbeiter:innenmacht

Bleibt die deutsche Wirtschaft zurück?

Markus Lehner, Neue Internationale 281, April 2024

Liest man gerade Wirtschaftszeitungen und noch mehr Börsennachrichten, so könnte man meinen, „die Welt“ befinde sich im wirtschaftlichen Aufschwung. Interessant ist dabei sowohl, was unter „Welt“ als auch „Aufschwung“ verstanden wird. Natürlich wird gefeiert, dass wieder einmal die USA auf der Überholspur sind – und dies wird kontrastiert mit der „totalen Ausnahme“ des deutschen wirtschaftlichen Dahinkriechens. Natürlich wird Letzteres der „Politik“ angelastet, die eine ähnliche Dynamik wie in den USA durch Bürokratie, Energie- und Umweltauflagen, Arbeitsgesetze etc. behindere.

Ungleiche Entwicklung: Europa …

An diesem Bild muss einiges korrigiert werden. So wurde Anfang letzten Jahres für die USA eine ähnlich stagnative Erholung nach der Coronarezession wie in Europa erwartet. Tatsächlich wurden dann die vorausgesagten Wachstumsraten von Quartal zu Quartal nach oben korrigiert, bis die im internationalen Vergleich beachtlichen 2,4 % erreicht wurden. Dies kontrastiert mit den Wachstumsraten um die 0 % im EU-Raum und den wirtschaftlichen Einbrüchen in China rund um die Immobilienkrise und den Auswirkungen der späten Aufhebung der Coronalockdowns. Parallel zum sanften US-Aufschwung gab es auch höhere Wachstumsraten in Ländern wie Japan (2 %), Mexiko (3,4 %), Indien (6,5 %) – zum Teil offenbar bedingt durch die Erholung in den USA.

Was Europa betrifft, so ist es bei weitem nicht nur Deutschland, das weit hinter den Wachstumsraten der genannten Länder zurückgefallen ist. Außer ihm (-0,2 %) waren 2023 auch die Niederlande und Schweden in einer leichten Rezession – also neben der nach BIP größten Volkswirtschaft der EU auch Nummer 5 und 8. Alle großen EU-Länder (mit der bemerkenswerten Ausnahme Spaniens) blieben bei Wachstumsraten unter 1 % bzw. schrammten knapp an Rezessionen vorbei.Dies trifft auch auf die krisengeschüttelte Nach-Brexit-Ökonomie Britanniens zu.

Natürlich hat diese Situation viel mit der geopolitischen Entwicklung rund um den Ukrainekrieg zu tun. Die Russlandsanktionen und insbesondere der schlagartige Verzicht auf billigeres russisches Erdgas und -öl haben nicht nur, aber besonders die deutsche Ökonomie getroffen. Der Ersatz durch Flüssiggas und Ausbau erneuerbarer Energien gelang zwar teilweise, führte aber zu stark erhöhten Preisen. Der deutsche Energiepreisindex stieg 2022 um etwa 65 % – fiel allerdings 2023 wieder um 25 %, was in Summe immer noch einen mehr als 20%igen Anstieg gegenüber der Vorsanktionszeit bedeutet. Dazu kommt, dass die vermehrten Rüstungsausgaben in ganz Europa zu Haushaltsbeschränkungen führen, die den Spielraum für große Konjunkturprogramme stark einengen.

… und USA

Beide Faktoren fallen für die USA weg: Dort kam es seit 2022 zu keinen nennenswerten Energiepreiserhöhungen (auch weil dort außer Alibisteuern in einzelnen Bundesstaaten keine CO2-Bepreisung stattfindet). Im Gegenteil – durch die erhöhte Nachfrage nach Flüssiggas konnte der US-Energiesektor wesentlich zum Wirtschaftswachstum beitragen. Ebenso ermöglicht die spezielle Rolle seines Finanzsystems es den USA, unabhängig davon, dass die Neuverschuldung inzwischen pro Jahr 8 % des BIP ausmacht, trotzdem riesige Konjunkturprogramme aufzulegen. Diese umfassten 2023 das Doppelte aller anderen westlichen Industrienationen zusammen genommen. Insbesondere die Coronahilfen führen bis heute zu einem stabilen Anstieg der Konsumausgaben durch den Binnenverbrauch. Die Kehrseite dieser Schulden- und Subventionspolitik zeigt sich darin, dass das Inflationsniveau in den USA trotz steigender Zinsen nicht unter 3 – 4 % (bei der Kerninflation sogar über 5 %) liegt – im Gegensatz zum EU-Raum, wo es (auch stagnationsbedingt) mittlerweise unter die 3 % gesunken ist.

Die US-Konjunktur profitiert auch von einer „Entspannung auf dem Arbeitsmarkt“ durch gestiegene Immigration. Angesichts der seit dem Zinsanstieg steigenden Rate von Firmeninsolvenzen gibt es in den USA einen größeren Spielraum für die Umschichtung von Kapital und Arbeit (Migrant:innen für Billigjobs, Entlassene für neue Investitionsbereiche). Tatsächlich ist der leichte Aufschwung verbunden mit einem enormen Anstieg an Firmenzusammenbrüchen: 2023 hat sich die Zahl der Großinsolvenzen gegenüber dem Vorjahr verdreifacht. Beides (Migration und Insolvenzen) wirken in der EU und Deutschland auch aufgrund der politischen Rahmenbedingungen nur bedingt in Richtung Umschichtung von Kapital und Arbeit.

Gleichzeitig wirkt sich die Umstrukturierung der globalen Märkte und Wertschöpfungsketten in der EU negativer aus als in den USA. Insbesondere Deutschland und die Niederlande sind von „Friendshoring“-Tendenzen und Lieferkettenproblemen stark betroffen, vor allem was die Geschäftsbeziehungen mit China betrifft. Bezeichnenderweise hat das USA-China-Geschäft trotz politischen Getöses im letzten Jahr wieder enorm an Fahrt aufgenommen (7 % Anstieg der Importe in die USA).

Börseneuphorie

Obwohl also die derzeitige Wachstumsphase der USA offenbar durch einige Sonderfaktoren bedingt ist, herrscht gerade an den Börsen eine Euphorie, als sei eine neue Boomära angebrochen. Seit letztem Oktober stiegen die Aktienkurse an den US-Börsen genauso wie auch der DAX fast parallel um 22 %. In den USA sind es insbesondere Technologiewerte, die mit „Künstlicher Intelligenz“ in Verbindung gebracht werden, welche durch die Decke gehen. So beim Chiphersteller Nvidia, dessen Kurswert sich im letzten Quartal 2023 verfünffacht hat. Nvidia, das die Hardware für die gestiegenen Anforderungen von KI-Anwendungen liefert, hat aber im selben Zeitraum seinen Quartalsprofit von 3 Milliarden US-Dollar auf 17 Milliarden gesteigert. Und es ist nur eines von 7 „Großen“, die derzeit vom KI-Hype an den Börsen profitieren. Tatsächlich versprechen die Fortschritte in der Integration von generativer KI in die herkömmlichen IT-Infrastrukturen künftig große Produktivitätssprünge. Doch kann sich deren Realisierung noch mehrere Jahre hinziehen. Die großen Erwartungen könnten also genauso verfrüht sein wie 1999 während der Dotcomblase.

Insgesamt hat sich die Börse wieder einmal stark von den realwirtschaftlichen Werten entfernt, wie sie sich etwa im „Price-Earning“-Index ausdrücken. Dieser vergleicht die Kursbewertung mit den längerfristigen inflationsbereinigten Gewinnen. Als „normal“ gelten dabei Werte um die 20 – beim großen Crash 1929 stand er bei 31,5, vor dem Dotcomcrash bei 44,2 – derzeit steht er bei 34,2. Kein Wunder also, dass sich an den Börsen eine gewisse Nervosität breitmacht. Es reichen wohl ein paar schlechte Daten von Unternehmen oder Konjunkturprognosen für die USA, um Kursstürze auszulösen. Die Unsicherheit an den Finanzmärkten addiert sich zu der Masse an Krisenmomenten, die sich derzeit zusammenballen (Klima, Kriege, Schulden, Inflation, Stockungen im Welthandel und den Wertschöpfungsketten, politische Unsicherheiten …).

Bei den deutschen Aktienwerten sticht vor allem ein Titel hervor: der des Rüstungskonzerns Rheinmetall: Vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine noch bei 90 steht der Kurs aktuell bereits bei 500. Im weltweiten Vergleich ist der Konzern zwar eine kleine Nummer, mit allerdings wichtigen technischen Fähigkeiten (aktuell etwa in der gesteigerten Produktion von Artilleriemunition). Der neue Rüstungswettlauf in Europa erfordert für die EU-Kapitale eine völlig neue Struktur von Rüstungskonzernen. Die vielen kleinen nationalen Monopole können alleine im internationalen Wettlauf nicht Schritt halten. Hier fungiert Rheinmetall als Modell, indem dieser Konzern seit einiger Zeit mehrere kleinere Firmen schluckte (in Spanien, den Niederlanden, Rumänien …). Das andere sind große europäische „Kooperationen“, so die der „Panzerschmiede“ Krauss-Maffei Wegmann mit der französichen Nexter zu KNDS (KMW+Nexter) mit Sitz in Amsterdam. KNDS ist im letzten Jahr in eine Kooperation mit einem der größten europäischen Rüstungskonzerne, der italienischen Leonardo, eingestiegen – insbesondere um den zukünftigen Panzer der europäischen Streitkräfte zu bauen. Es ist zu befürchten, dass die europäischen Rüstungskonzerne zu einem neuen Zentrum der EU-Industriepolitik werden, die Milliarden an Steuergeldern, Investmentkapital und Spekulationsanlagen verschlingen werden.

Perspektiven

Neben den Unwägbarkeiten des Ukrainekriegs und den Kosten der Aufrüstungspolitik sind die anderen Faktoren schon benannt, die eine Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland schwer machen: die weitere Entwicklung der Krise in China, mit ihren Auswirkungen auf die internationalen Wertschöpfungsketten; die Fragmentierung des Welthandels; die wachsenden Kosten von Klimakatastrophen und die Entwicklung der Energiekosten; die Unsicherheiten der Entwicklung in den USA (nicht nur was den Ausgang der Präsidentschaftswahl betrifft, sondern auch die Konjunktur); die Möglichkeit von Turbulenzen auf den Finanzmärkten; die Möglichkeit weiterer Großinsolvenzen nach der Karstadt-Benko-Pleite etc. Auch wenn die Konjunkturklimaindikatoren inzwischen aufwärts zeigen, so können einige dieser Unsicherheitsfaktoren schnell zu einem erneuten Abrutschen in eine verlängerte Rezession führen.

Während die Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Probleme mit sinkendem Massenkonsum und Inflation dazu geführt haben, dass seit letztem Jahr bis heute zu einem Aufschwung von Lohnkämpfen gekommen ist, so haben selbst diese nicht einmal in den tarifgebundenen Bereichen Reallohnverluste verhindern können. Im Umfeld von Rezession und Firmenpleiten werden die Lohnkämpfe in nächster Zeit sicher nicht einfacher werden. Insbesondere in der Metallindustrie stehen weitere Auseinandersetzungen darum an, wer die Kosten der Transformation zu CO2-reduzierten Technologien (z. B. in der weniger personalintensiven E-Mobilität) tragen muss. Die Streiks der GDL haben gezeigt, dass sie mit der weniger als bei DGB-Gewerkschaften üblichen Rücksichtnahme durchaus Druck ausüben können. Die Probleme müssen zu Lasten der Profite des Kapitals durch Aufteilung der Arbeit auf alle Hände (Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich) und Angleichung der Lohn- an die Preisentwicklung gelöst werden. Insofern ist das Gegenteil von Lohnzurückhaltung angesichts der gegenwärtigen Rezessionserwartungen angesagt.

Zugleich machen die Resultate der Lohnkämpfe der letzten Jahre nicht nur die fatale Rolle der Gewerkschaftsbürokratie deutlich, die als Bremsklotz fungiert. Sie werfen auch die Frage auf, wie diese durchbrochen werden kann. Das erfordert zum einen den Aufbau einer klassenkämpferischen, organisierten Opposition in den Betrieben und Gewerkschaften. Ihre Aufgabe besteht dabei sowohl in der Radikalisierung der Kämpfe wie auch in der Verbreiterung einer politischen Alternative zur reformistischen und verbürokratisierten Führung.

Doch es wäre zugleich zu kurz gegriffen zu glauben, dass das Problem der politischen Ausrichtung und Führung der Arbeiter:innenklasse auf rein gewerkschaftlicher und betrieblicher Ebene gelöst werden könne. Der Kampf für eine Basisbewegung wird letztlich nur erfolgreich sein, wenn er Hand in Hand mit dem für die Schaffung einer neuen revolutionären Partei und Internationale einhergeht.

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