Arbeiter:innenmacht

Rechtsruck in Deutschland: Der Fall Aiwanger

Martin Suchanek, Neue Internationale 277, Oktober 2023

Im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, so könnte man meinen, fällt ein Aiwanger Hubert mehr auch nichts ins Gewicht. Was ist schon ein Nazi-Pamphlet aus Gymnasialtagen, was ist schon ein Verhöhnen der Opfer des Holocaust im Flugblatt verglichen mit dem Mitmachen, Mitlaufen, Mitverwalten, Mitaburteilen, Mitdeportieren in der Nazi-Diktatur, dessen sich Aiwangers Eltern- und Großelterngeneration schuldig gemacht hat.

Auch diesen wurde schließlich vergeben – vorzugsweise durch sich selbst und einen Nachfolgestaat der NS-Diktatur, der im Kalten Krieg die alten Leistungsträger:innen der Gesellschaft, deutsche Unternehmer:innen, deutsche Beamt:innen, deutsche Offizier:innen, deutsche Intelligenz brauchte. Warum, also so fragen die Söders scheinheilig, sollten wir dem Aiwanger nicht seine Jugendsünden vergeben? Warum nicht, nachdem „wir“ auch unserer Eltern- und Großelterngeneration längst nichts mehr nachtragen? Schließlich hätten wir alle daraus irgendetwas gelernt. Und schließlich: haben „wir“ nicht alle in der Jugend „gesündigt“ haben? Warum nicht, nachdem sich der Aiwanger Hubert dafür sogar, wenn auch reichlich spät und wenig schlüssig, „entschuldigt“ habe?

Populistische Inszenierung

Geschickt, wenn auch nicht unbedingt originell, inszenieren Aiwanger, die Freien Wähler und, im Nachgang, Söder und die CSU, den Schulterschluss mit ihren spießbürgerlichen Anhänger:innen – und das sind bekanntlich viele, weit über dessen kleinbürgerlichen Kern hinaus. Klar, so gesteht der Aiwanger Hubert freimütig, habe er Fehler gemacht und diese auch zu spät gestanden. Aber er habe sich entschuldigt, er habe daraus gelernt. Jetzt würden ihn andere fertigmachen wollen, eine regelrechte Kampagne wäre ins Leben gerufen worden, um ihn, sein Lebenswerk und stellvertretend auch das aller anderen ehrlich schaffenden bayrischen und deutschen Menschen zu zerstören.

Die Freien Wähler bedienen sich hier einer für populistische Rhetorik typischen Stilfigur. Den „einfachen Menschen“, die vom stellvertretenden Ministerpräsidenten zum Bürgermeister, vom erfolgreichen Unternehmer zum Facharbeiter reichen, werden die besserwisserischen, arroganten, vom „wirklichen Leben“, das vorzugsweise auf bayrischen Volksfesten stattfindet, entrückten Kritiker:innen gegenübergestellt. So wird eine klassenübergreifendes „Wir“ konstruiert, das sich im Aiwanger Hubert personifiziert. Die Kritiker:innen schlagen darauf „von oben“ herab, geradezu gnadenlos ein. Sollen wir uns da nicht „wehren“ dürfen und dem Jugendsünder beherzt zu Seite springen?

Wer hat schließlich in seiner Jugend nicht gesündigt? Wer hat denn keine Äpfel vom Baum in Nachbars Garten gestohlen, wer hat nicht am Schulhof geraucht oder gar gekifft? Wer fuhr nicht alkoholisiert auf Bayerns Landstraßen? Und wer hat nicht Blödsinn verbreitet und geschmacklose Witze erzählt? Waren, ja sind wir nicht alle kleine Sünder:innen, die sich vom Aiwanger Anton nur durch die Art der Sünde, für die er sich sogar – durchaus im Gegensatz zu manch anderem ehrenwerten Spießer-Menschen – entschuldigt hat?

Solcherart wird unter der Rubrik „Jugendsünde“ das Nazi-Flugblatt entschuldet, zur Bagatelle unter Bagatellen. Dass sich der Aiwanger an nichts genaues mehr erinnern kann, erweist sich vor diesem Hintergrund nicht als skandalöser Vertuschungsversuch, sondern macht ihn nur noch menschlicher und volksnäher – und zwar nicht nur in den Augen seiner Fans von den Freien Wählern, sondern auch in denen der bayrischen Staatskanzlei. Auf die 25 Fragen Söders zur „Klärung“ des Falls Aiwanger, antwortet dieser nicht nur möglichst knapp, sondern vorzugsweise damit, dass er sich nicht erinnern könne oder nichts zur Frage wisse. Die Gedächtnislücken stehen im eigentümlichen Kontrast zu seiner Aussage: „Der Vorfall war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Er hat wichtige gedankliche Prozesse angestoßen.“ Welche das sind, führt Aiwanger nicht aus. Dafür stellt er am Ende nur fest: „Fehler aus der Jugendzeit dürfen einem Menschen allerdings nicht für alle Ewigkeit angelastet werden.“

Damit spricht er seinen Anhänger:innen aus der Seele. Mit dem „ewigen“ Anlasten müsse endlich Schluss sein, zumal sich – von wegen „ewig“ – auch in den letzten 30 Jahren niemand darüber aufgeregt habe. Die rechte, konservative, rechtspopulistische Gefolgschaft verharmlost nicht nur Faschismus und Antisemitismus, sie inszeniert sich zugleich als Gemeinschaft nachsichtiger und wohlwollender Menschen. Das Vergeben der Jugendsünde wird zum Bestandteil deutscher Leitkultur.

Gnadenlos, unbarmherzig, falsch sind nicht jene, die selbst nicht wissen, warum sie mit antisemitischen Flugblättern in der Schultasche rumliefen, sondern jene, die den armen Jugendsünder bis heute an den Pranger stellen wollen. Gnadenlos, unbarmherzig sind jene, die schon seit 1968 keinen Frieden geben können, sind die Linken, die rot-grüne „Elite“, kosmopolitische Intellektuelle, Gender-Wahnsinninge und „das Ausland“, das sich auch noch in Bayerns Staatskanzlei und in den Wahlkampf einmischen wolle.

Angesichts dieser brutalen Kampfansage „von oben“ auf die Leistungsträger:innen der bayrischen und deutschen Gesellschaft, auf „unsere“ Leitkultur, inszenieren sich CSU und Freie Wähler als Kräfte der Gnade, der Nachsicht, des Zusammenrückens und Verzeihens. Sicher wären auch AfD und verschiedene Nazigruppen bei dieser christlich-abendländischen Inszenierung der Nächstenliebe gern mit von der Partie, doch noch passen sie nicht so recht ins Sittenbild der konservativen „Mitte“.

Aber auch Gnade und Vergeben kennen, wie alles, ihre Grenzen. Das macht Aiwanger schon in seiner Antwort an die Bayrische Staatskanzlei deutlich: „Die Veröffentlichungen aus Lehrerkreisen sind ein massiver Verstoß gegen das Bayrische Dienstrecht. Gegen die Verdachtsberichterstattung mit überwiegend anonymen Aussagen und dem Weglassen entlastender Inhalte behalte ich mir rechtliche Schritte vor.“ So viel zur aufrichtigen Reue des Herrn Aiwanger.

Hier wird deutlich, dass Vergeben, Nachsicht, Großzügigkeit und das Verzeihen aller Jugendsünden längst nicht für alle gilt. Genauer, sie gilt, selbst der Phrase nach, nur für die Angehörigen der spießbürgerlichen Gemeinschaft echter deutscher Menschen, die die Freien Wähler und die CSU im Blick haben. Und hier zuerst natürlich ihren Spitzenexponenten wie Aiwanger, dessen „Lebenswerk“ als Regierungsmitglied zerstört werden soll. Geschickt präsentiert er diese wirkliche oder vermeintliche Gefahr für sich als hoch dotierten Spitzenpolitiker als ob die berufliche Zukunft seiner Wähler:innen auch zur Disposition stünde.

So verlogen diese imaginäre Einheit gegenüber den Anhänger:innen der Freien Wähler:innen, so wenig gilt das Nachsichtsversprechen für die Kritiker:innen Aiwangers.

Kritische Medien und erst recht verbeamtete Lehrer:innen dürfen auf Gnade nicht hoffen. Die Nachsicht gegenüber Aiwangers Jugendsünden darf niemand als Freibrief für wirkliche Bagatelldelikte missverstehen. Schwarzfahren oder kleiner Ladenklau dürfen „natürlich“ nicht entkriminalisiert werden.

Erst recht gilt das, wenn die Gegner:innen der rechtspopulistischen Freien Wähler:innen und der konservativen bis liberalen Mitte ins Visier genommen werden. Aiwangers Gedächtnislücken möge man nachsehen, Lücken in der Vita traumatisierter Geflüchteter – niemals. Abschiebung muss Abschiebung, Unrecht muss Unrecht bleiben. Ein Nazipamphlet an der Schule möge man verzeihen, aber keine antifaschistische und antirassistische Selbstverteidigung, keine Solidarität mit vom Imperialismus Verfolgten.

Die Entschuldung der eigenen Wähler:innen, der Träger:innen der deutschen Leitkultur bildet nur das Gegenbild zur umso brutaleren, menschenverachtenden Hetze gegen „Schein-Ayslant:innen“, „Überfremdung“, „Sozialscharozertum“, jugendliche und migrantische „Krimininelle“, die allesamt die volle Härte des Gesetze ohne jede Nachsicht und Gnade heute erfahren müssen und sollen.

Kulturkampf und Diskursverschiebung

Kein Wunder also, dass die Freien Wähler, CDU/CSU wie auch die AfD, die konservative und die extreme Rechte die Auseinandersetzung um Aichwanger als regelrechten Kulturkampf inszenieren. In der Tat geht es dabei um eine wirkliche grundlegende Diskursverschiebung im politischen Raum.

Bei der Verharmlosung des faschistischen und antisemitischen Pamphlets und der Rolle Aiwangers geht es nicht bloß um eine persönliche Entschuldung. „Jugendlicher“ Faschismus und Antisemitismus sollen insgesamt bagatellisiert, quasi-normalisiert werden.

Damit steht auch eine, wenn auch auf halben Weg steckgebliebene Errungenschaft der 68er-Bewegung entsorgt werden. Diese thematisierte nach Jahrzehnten des Unter-den-Teppich-Kehrens den Faschismus und die Kontinuität seiner Funktionsträger:innen in Staat und Wirtschaft. Blieb die Entnazifizierung auch aus, so hielt die Jugend den Eltern und Großeltern den Spiegel vor. Die wirklich Selbstgerechten mussten sich endlich rechtfertigen. Einmal verschoben sich das politische Geschehen, der öffentliche Diskurs und die Kultur in der Bundesrepublik nach links. Zweifellos: Die 68er sind gescheitert, nicht zuletzt an sich. Doch ihre Halbheiten, ihre Teilreformen, ihre partiellen Errungenschaften noch geben einen Geschmack von dem, was möglich wäre. Daher stehen sie auch im Visier des konservativen und rechten Rollbacks.

Die mit der 68er-Bewegung assoziierten und von Frauenbewegung, Studierenden, Jugend wie auch von der Arbeiter:innenklasse gemachten Errungenschaften sind ihnen ein Dorn im Auge. Das betrifft sowohl in Gang gesetzten soziale und demokratische Reformen. Auch wenn sie im Rahmen des Kapitalismus verblieben, in diesen mehr oder weniger integriert wurden, stellen sie oder ihre Überreste bis heute auch Errungenschaften, teilweise zur Selbstverständlichkeit gewordene Aspekte des sozialen Lebens dar, gegen die sich selbst hart gesottene Reaktionär:innen (noch) nicht anzugehen wagen (z. B. die Vergewaltigung in der Ehe).

Vielleicht noch bedeutsamer aber waren und sind die Errungenschaften der 68er auf der kulturellen und diskursiven Ebene. Dazu gehört auch, dass faschistische und anti-semitische Flugblätter an der Schule eben nicht mehr als landesüblicher „Lausbubenstreich“ durchgingen. Selbst Aiwangers mangelndes Erinnerungsvermögen deutet noch darauf hin. So wie die Beteiligung am Faschismus und seinen Verbrechen nach 1945 durch „Vergessen“ und Schweigen gesellschaftlich tabuisiert wurde, so soll über den jugendlichen „Fehler“ der Mantel des Vergessens geworfen werden. Wer nachfragt, wer nicht schweigt, ja wer bloß nicht jede Schutzbehauptung für bare Münze nehmen will, wird in der rechten Diskursverschiebung zum Täter, zum „elitären“ Besserwisser.

Längst geht es dabei nicht um Aiwanger. Schon gar nicht geht es, wie Sozialdemokrat:innen und Grüne gern entrüstet behaupten darum, dass dem Ansehen Deutschlands geschadet würde. Schließlich passt Aiwanger ganz gut zu einer Meloni und einem Orban, zu einem Erdogan und einer Le Pen. Und, betrachten wir die Diskussion über die Verschärfung des rassistischen Grenzregimes und die Aushebelung der verbliebenen Rechte der Geflüchteten, so sind die Grenzen zwischen Rechten, Konservativen, Liberalen, Sozialdemokrat:innen und Grünen fließend, so reichen sich rechte und linke Populist:innen die Hand.

Vielmehr bildet der Fall Aiwanger nur einen weiteren Baustein zur Entsorgung des Faschismus für den deutschen Imperialismus. Es geht dabei nicht darum, dessen Existenz und Verbrechen zu leugnen, sondern vielmehr zu einem bloßen Stück Geschichte unter anderem herabzusetzen, um den Boden für eine reale Kontinuität imperialistischer Großmachtpolitik in der EU und international leichter zu begründen und hoffähig zu machen. Vor allem aber dient es auch als Klammer einer konservativen, großkapitalistischen und aggressiven Agenda, die durch rechten Populismus eine imaginäre, klassenübergreifende „Volkseinheit“ ideologisiert.

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