Arbeiter:innenmacht

Antisemitismus und Psychoanalyse – eine marxistische Kritik

Teil 2 des Podcasts zum Thema Antisemitismus und wie er bekämpft werden kann

Lage der Klasse, Folge 5, Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Infomail 1231

Herzlich willkommen zur Lage der Klasse, dem Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht zu marxistischer Theorie und revolutionärer Praxis, heute mit Lina und Katjuscha und der Frage: Welche psychische Funktion nehmen antisemitische Überzeugungen für Menschen in Klassengesellschaften ein?
In der vorherigen Podcastfolge zur historischen Entstehung und Entwicklung des Antisemitismus haben wir gehört, dass sich Gesellschaftsstrukturen zwar ändern, der Antisemitismus jedoch, wenn auch in veränderter Form, bestehen bleibt. Es stellt sich also die Frage, ob der Antisemitismus ein notwendiges Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist und welche Elemente der Zivilisation Individuen und Gemeinschaften dazu bringen, antisemitische und damit irrationale Überzeugungen für sich anzunehmen?

Im Folgenden wollen wir uns das Phänomen des Antisemitismus, welcher der Archetyp aller Verschwörungstheorien ist, einmal aus einer eher psychoanalytischen Sicht ansehen. Die Psychoanalyse ist ein durchaus wichtiges Instrument, um vor allem die unbewussten und vorbewussten Vorgänge im Menschen zu verstehen und damit auch sein Handeln besser nachvollziehen zu können. Uns muss aber auch klar sein, dass die Psychoanalyse im Großen und Ganzen das gesamthaft Irrationale am Kapitalismus verkennt, durch Pathologisierungen ihr Hauptaugenmerk hauptsächlich auf das Individuum und nicht auf die Gesellschaft richtet und daher keinen tragfähigen Ausweg aus eben diesem System aufzuweisen hat.

Im Verlauf der Episode soll deutlich werden, wie sehr Psyche und Gesellschaft, und damit auch ihre ökonomischen und politischen Bedingungen, miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig beeinflussen. Hierbei ist es wichtig zu betonen, dass die ökonomischen, materiellen Verhältnisse das Primat in diesem Zusammenspiel einnehmen. Das Denken und Handeln, also auch das Psychische, ist sozusagen die Übersetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse, welches wiederum seine eigene Dynamik entfaltet und auf die Gesellschaft zurückwirken kann.

Verschwörungstheorien sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen sowie Krisen nicht abstrakt gedacht werden können, sondern personalisiert werden. Die Grundlage bietet dabei häufig die Unfähigkeit, Widersprüche und Ungewissheiten auszuhalten, von denen es in unserer heutigen Welt mehr denn je gibt. Alles Beobachtbare wird dabei auf dieselbe Ursache zurückgeführt, nämlich auf das personifizierte Böse, was sich vom Guten klar unterscheiden lässt und ohne welches die Welt ein nahezu paradiesischer Ort sein könnte. In Verschwörungstheorien werden alternative, in sich schlüssige Realitäten erschaffen, die dem individuellen Wahn sehr ähnlich sind, jedoch sozial geteilt werden. Wir dürfen allerdings nicht dem Trugschluss aufsitzen, dass Verschwörungstheorien Ausdruck mangelnder Intelligenz seien, vielmehr sind sie, wie der Psychoanalytiker Ernst Simmel schreibt, Ausdruck eines gestörten Gleichgewichts des kollektiven Charakters der Gemeinschaft, wie wir später noch sehen werden.

Verschwörungstheorien und damit auch der Antisemitismus dienen immer der Stärkung eines Ichs, welches entweder durch individuell-biografische oder aber durch gesellschaftliche Krisen geschwächt worden ist. Im Wesentlichen sind es folgende psychische Funktionen, die von Verschwörungstheorien erfüllt werden, um das schwache Ich zu stärken:

Es werden Komplexität und Ungewissheit reduziert, indem beispielsweise vielschichtige wirtschaftliche Entwicklungen einzelnen Personen wie den Rockefellers und Rothschilds zugeschrieben werden, welche durch Habgier geleitet das Weltgeschehen lenken.
Angst, Neid und Aggression, die durchaus auf reale Ohnmachtserfahrungen zurückgehen, werden gebunden und durch Verschwörungstheorien verstärkt. Zudem erfährt das Individuum Entlastung durch das Projizieren: Das, was das Individuum an sich selbst ablehnt, wird in andere projiziert und an ihnen erkannt statt im Individuum selbst. Eigene unangenehme Gefühle werden ausgelagert und auf äußere Sündenböcke, wie das Jüd:innentum, sogenannte Klimadiktator:innen wie Habeck und Baerbock, Bill Gates oder die Globalist:innen übertragen. Hinzu kommt, dass das Selbst narzisstisch aufgewertet wird, indem die eigene Person zu den Eingeweihten gehört und die anderen Unwissenden, die den großen Plan der Verschwörer:innen einfach nicht begreifen, abwertet. Letztlich stiften Verschwörungstheorien auch Identität, da sie durch die Konstruktion von Gut und Böse, von Innen und Außen ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl herstellen, welches auf Hass und Ablehnung basiert. Als Beispiel ist hier die Konstruktion des/r in Anführungszeichen „guten Deutschen“, welche/r stark, loyal und heimattreu ist und zu dem/r man selbst gehört, gegen das in Anführungszeichen „böse, gierige Jüd:innentum“ – zu dem die anderen gehören, zu nennen.

Begriffe der Psychoanalyse

Da wir im Folgenden einige Termini aus der Lehre der Psychoanalyse verwenden werden, wollen wir zum besseren Verständnis das Instanzenmodell des Psychoanalytikers Sigmund Freud kurz skizzieren: Drei Instanzen bilden demnach die menschliche Persönlichkeit und wirken aufeinander ein: Es sind das Es, das Ich und das Über-Ich. Das Es ist die älteste und ursprünglich unbewusste Instanz der Psyche. Sie wird beherrscht von grundlegenden Bedürfnissen wie Schlaf und Hunger und dergleichen. Das Es drängt auf direkte Triebbefriedigung und duldet keinen Aufschub. Hingegen vertritt das Über-Ich das Gewissen eines Menschen, welches sich erst entwickeln muss. So ist das Über-Ich auch Ausdruck der gesellschaftlichen Normen und Werte und ist zuständig für Gebote und Verbote. Werden diese verletzt, kommt es zu Schuldempfindungen. Das Über-Ich steht häufig mit der Instanz des Es im Konflikt. Die Aufgabe der dritten Instanz, nämlich des Ich, ist es, zwischen den ersten beiden Instanzen, also den Triebansprüchen und den verinnerlichten Ge- und Verboten zu vermitteln. Das Ich entwickelt sich erst im Laufe der Kindheit und Jugend ist unter anderem für die Realitätsprüfung zuständig.

„Wo Es war, soll Ich werden“, so Freud im Jahre 1933. Es sei das Ziel der Psychoanalyse, das Ich zu stärken und es vom Über-Ich unabhängiger zu machen. Auch solle der Mensch sich seiner Energien aus dem Es bewusster werden. Dies sind hehre Ziele. Wir müssen jedoch anerkennen, dass die Entwicklung des Ich im Kapitalismus stets strukturell blockiert ist. Wenn eine Ich-Bildung im Kapitalismus relativ erfolgreich gelingt, so ist diese entweder an Privilegien gebunden oder an die Entstehung einer fortschrittlichen Gegenbewegung zu den herrschenden Verhältnissen. In letzter Instanz also an eine kämpferische Arbeiter:innenbewegung. Dieser Zusammenhang verweist bereits auf die Notwendigkeit der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse, um gesellschaftliche und bis zu einem gewissen Grad auch individuelle Pathologien zu verhindern. Schließlich kann es kein nicht-entfremdetes Individuum, also ein gänzlich bewusstes und gesundes starkes Ich, in einer Gesellschaft geben, in der Entfremdung eines ihrer Wesensmerkmale darstellt.

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück, inwiefern der Antisemitismus ein Nebenprodukt menschlicher Zivilisation ist.

Um uns der Beantwortung dieser Frage zu nähern und ein tieferes Verständnis für innerpsychische Vorgänge im Komplex antisemitischen Denkens zu entwickeln, greifen wir im Folgenden auf das Modell der Massenpsychose zurück. Dieses entwickelte der Psychoanalytiker Ernst Simmel, der, wie Theodor Adorno, einige wichtige massenpsychologische Erkenntnisse zum Verständnis des Antisemitismus beigetragen hat. Allerdings muss schon vorab kritisch darauf hingewiesen werden, dass der Auffassung der sogenannten Kritischen Theorie der Klassenbezug gänzlich fehlt, was wiederum zu einem kulturpessimistischen Defätismus führt. Daher ergänzen wir im Folgenden die Ausführungen Simmels durch notwendige revolutionär-marxistische Perspektiven und werfen im späteren Verlauf nochmals einen kritischen Blick auf die Antisemitismustheorie der Frankfurter Schule.

Nach psychoanalytischer Auffassung der Charakterbildung stellt ein Individuum, was unter einem krankhaft gestörten inneren Gleichgewicht leidet, dieses wieder her, indem es irrationale Ideen mit irrationalen Handlungsimpulsen verbindet.

Diese Theorie überträgt Simmel vom Individuum auf die Gesellschaft, da hier ähnliche Phänomene zu beobachten sind: den irrationalen Ideen in einem Kollektiv (also antisemitische Überzeugungen) folgen irrationale Handlungen (also Angriffe auf das Jüd:innentum). Wir können uns also fragen, ob der kollektive Charakter der Gemeinschaft ebenfalls unter einem pathologisch gestörten Gleichgewicht leidet, weil er die Irrationalität des Antisemitismus hervorbringt – und weiter noch: Was hat diese Störung des Gleichgewichts hervorgerufen?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns ansehen, was die Beziehung zwischen Antisemitismus und Zivilisation als kollektivem Charakter ausmacht.

Sowohl die Entwicklung des Einzelnen als auch die der Menschheit als Ganzer ist nach Auffassung einiger Psychoanalytiker:innen begleitet von zwei Haupttrieben: dem destruktiven Verschlingungstrieb des Hasses zur Selbsterhaltung und dem erotischen Liebestrieb zur Arterhaltung.

Im Antisemitismus fällt das Individuum in der Gemeinschaft zurück auf ein früheres primär-narzisstisches Entwicklungsstadium, nämlich das des pathologischen Hasses. Der Hass ist im entwicklungspsychologischen Sinn der Vorläufer der Liebesfähigkeit, denn das Individuum muss erst sein eigenes Überleben sichern, damit es später seine Art erhalten kann.
Dieses Zurückfallen auf vorherige Entwicklungsstadien nennt man in der Psychoanalyse Regression. Regression ist ein Abwehrmechanismus, der eintritt, wenn Betroffene großen Ängsten ausgeliefert sind. Sie kann dabei helfen kritische Lebensereignisse zu meistern, aber ein dauerhaftes Regredieren ist krankhaft.

Wie zeigt sich uns dieser regredierte Hass, der sich sowohl als Folge des mittelalterlich-religiösen Antijudaismus entlädt und viel aggressiver noch im Zuge antisemitischer Anschuldigungen in der Moderne zutage tritt? Er ist vor allem gekennzeichnet durch irrationale Anschuldigungen gegen das Jüd:innentum. Sollen Juden/Jüdinnen früher Christusmörder:innen und Hostienschänder:innen gewesen sein, so sind sie seit Ende des 19. Jahrhunderts einerseits die kommunistischen, andererseits die kapitalistischen Strippenzieher:innen im Hinterzimmer – zwei sich völlig widersprechende Anschuldigungen. Unter anderem an dieser irrationalen Anschuldigung wird übrigens deutlich, weshalb es insbesondere das Kleinbürger:innentum ist, welches damals wie heute besonders empfänglich ist für antisemitisches Gedankengut. Diese Empfänglichkeit ist unter anderem in ihrer Rolle im Produktionsprozess begründet – das Kleinbürger:innentum steht zwischen den beiden Hauptklassen, dem Kapital und der Arbeiter:innenklasse. So ist es stets bemüht, in die herrschende Klasse aufzusteigen, und zugleich der Sorge ausgeliefert, in die Arbeiter:innenklasse abzurutschen, wenn es durch große Kapitalist:innen verdrängt würde. Das Kapital ist also eine reale Bedrohung für das Kleinbürger:innentum. Der Kommunismus würde ihm jedoch ebenso die gesellschaftlich-ökonomische Grundlage entziehen.

Das Ausmaß der Gewalt, die sich gegen Juden und Jüdinnen über die Jahrhunderte immer wieder in Folge dieser Anschuldigungen entlädt, ist stets abhängig von dem Maße, in dem die antisemitischen Vorstellungen ihren Realitätsbezug gänzlich verlieren und von einer bloßen Illusion zu einem Wahn werden. Antisemitische Vorstellungen verlieren in dem Maße ihren Realitätsbezug, in dem sich gesellschaftliche Krisen zuspitzen und sie somit für das innerpsychische Gleichgewicht des Kollektivs und zur Machtsicherung der Herrschenden notwendiger werden. Die folgenreichste Eskalation des antisemitischen Wahns zeigte sich in der Shoa im nationalsozialistischen Deutschland, dem ebenfalls eine tiefe Krise vorangegangen ist. Man denke nur an die Weltwirtschaftskrise von 1929 oder die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg mitsamt ihren Folgen wie dem Versailler Vertrag.
Dieses klinische Syndrom uneingeschränkter, aggressiver Destruktivität im Wahn bei vollständiger Verleugnung der Realität kennen wir aus der Psychopathologie als Psychose, genauer als paranoide Schizophrenie.

Der Psychoanalytiker Ernst Simmel begreift demnach den Antisemitismus als eine Art der Massenpsychose. Um diese These besser nachvollziehen zu können, sehen wir uns nun einmal an, welche psychodynamischen Vorgänge im psychotischen Individuum vor sich gehen und was passiert, damit auch eine Gruppe dem pathologischen Wahn verfallen kann, während der Einzelne in der Gruppe keinen pathologisch irrationalen Symptomen unterliegt. Er wird erst krank, wahnhaft und aggressiv im Kontext der Masse. Das zeigt auch, dass die Masse weitaus mehr ist als die Summe ihrer Individuen. Sie entwickelt ihre eigenen Dynamiken und erhebt sich über die/den Einzelne/n.

Wir können uns mangels Zeit an dieser Stelle nicht auf die Schizophrenie als Ganze beziehen, wohl aber auf die Aspekte, die individuelle und kollektive Psychose miteinander gemein haben. Hierbei soll es nur um das System des Wahns und der ungezügelten Entladung zerstörerischer Aggression, als Teile einer Psychose, gehen.

Wie wir bereits zu Beginn erwähnt haben, ist das Individuum wie auch die Gesellschaft als Ganze sowohl vom erotischen Liebestrieb als auch vom destruktiven Verschlingungstrieb bewegt. Unsere Urahn:innen waren Kannibal:innen und auch wir wollen zu Beginn unseres Lebens als Babys nicht nur Nahrung, sondern auch alles andere verschlingen, was uns unsere Bedürfnisse verweigert. Es ist also ein Vorgang, der sowohl der körperlichen als auch der psychischen Selbsterhaltung dient. Der psychischen Selbsterhaltung dient er insofern, als dass das Verschlingen ein primitiver Vorläufer der Verdrängung ist. Das hört sich erst mal seltsam an, gemeint ist damit aber, dass durch das Verschlingen das Objekt in sich aufgenommen und damit der bewussten Wahrnehmung entzogen wird, also verdrängt werden kann.

Der/Die Psychotiker:in befindet sich im Kampf mit der Realität. Beispielsweise widerfährt ihm/r ein belastendes Lebensereignis wie der Tod einer nahestehenden Person, den er/sie nicht wahrhaben will. Der/Die Psychotiker:in erleidet in diesem Kampf mit der Realität immer eine Niederlage, da man gegen das, was ist, nicht gewinnen kann. Um diese Niederlage zu bewältigen, flüchtet er/sie sich unter anderem in narzisstische Selbstliebe. Die erworbene Fähigkeit des Verdrängens regrediert zurück auf den puren destruktiven Selbsterhaltungstrieb. Wer nicht verdrängen kann, wird seinen Ängsten gänzlich ausgeliefert. Daher muss zur Zerstörung gegriffen werden. Dass das psychotische Individuum nicht mehr in der Lage ist zu verdrängen, ist Ausdruck eines unreifen Ichs. Ein Ich ist nur dann reif, wenn es ihm gelungen ist, im Laufe seiner kindlichen Entwicklung die äußere elterliche Macht als ein effektives Über-Ich zu integrieren. Das Über-Ich hat, wie bereits erwähnt, mehrere Funktionen: Es hilft zum Beispiel bei der Realitätsprüfung, es hilft auch, Handlungsimpulse zu kontrollieren und zwischen äußeren Ansprüchen und inneren Triebkräften zu vermitteln. All das geht sowohl dem/r individuellen Psychotiker:in als auch der Gruppe der Antisemit:innen abhanden. Es findet keine Realitätsprüfung mehr statt, irrationale Anschuldigungen werden übernommen, Handlungsimpulsen, wie dem, Juden/Jüdinnen zu diffamieren, wird ohne Zögern nachgegangen.

Verschlimmert sich die Erkrankung, unterliegt das Über- Ich mehr und mehr dem Es, was wiederum erklärt, warum eine Realitätsprüfung überhaupt nicht mehr stattfinden kann und eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen objektiver Realität und psychischer Wirklichkeit unmöglich wird. Simmel geht davon aus, dass der/die Psychotiker:in in ein Stadium regrediert, in dem es noch kein Über-Ich gab, sondern dieses noch durch die realen Eltern vertreten wurde . Er/sie lagert im Zuge der Regression also sein/ihr Über-Ich wieder aus, und statt sich mit diesem zu identifizieren, wie es der gesunde Lauf der Dinge wäre, greift er/sie zu einer Vorform des Identifizierens und Integrierens, nämlich dem Einverleiben durch aggressives Verschlingen. In der kindlichen Entwicklung sah das so aus, dass man Dinge tatsächlich oral verschlungen hat. Der/Die Erwachsene zerstört, in dem er/sie Waffen und dergleichen nutzt.

Individuum und Krise

Ob ein Individuum psychisch erkrankt, ist von einem komplizierten Wechselspiel bio-/psychosozialer Risiko- und Schutzfaktoren abhängig. Der Antisemitismus als Massenpsychose wird maßgeblich durch rasante negative Veränderungen in der Umwelt ausgelöst. Er trat historisch immer dann auf, wenn die Sicherheit des Individuums und der Gesellschaft durch katastrophale Ereignisse erschüttert wurde. Jüngst konnten wir das während der Coronapandemie beobachten, in der die Gesundheit, der eigene Beruf und familiäre Bindungen plötzlich nicht mehr sicher waren. In Folge dieser Verunsicherung nahm antisemitisches Gedankengut innerhalb der Gesellschaft, auch statistisch gesehen, enorm zu.

Es ist zudem kein Zufall, dass sich die schlimmsten Auswüchse des Antisemitismus zu einer Zeit manifestiert haben, in der sich Deutschland wie das gesamte kapitalistische Weltsystem – in einer imperialistischen Krise sondergleichen befanden.

Die moderne kapitalistische Gesellschaft zwingt insbesondere Lohnabhängige und Unterdrückte, pseudoangepasst über ihre psychischen Verhältnisse zu leben, sprich eine Vielzahl an Entbehrungen hinzunehmen: das Verlangen nach Liebe, Sicherheit, körperlicher Unversehrtheit, Zuwendung und gesehen Werden wird heutzutage nur noch unzureichend befriedigt in Zeiten, in denen sich das Leben immer mehr in die digitale Welt verlagert, Arbeitstage wieder länger und Arbeitsplätze immer unsicherer werden und wir zunehmend vom Wertgesetz dazu gezwungen werden, unsere Ellenbogen auszufahren und unser Einzelkämpfer:innentum zu leben. Schon Marx spricht vom Phänomen der Entfremdung. Hierbei geht es sowohl um die Entfremdung des Menschen zu sich selbst, zu seiner Umwelt, zu seinen Mitmenschen und um die Entfremdung des Menschen zu seiner Arbeit, die ihren Zweck, den Kontakt des Menschen zur Realität zu vermitteln und sich selbst zu erhalten, verloren hat. Diese Realitätsvermittlung durch den Prozess der Arbeit schwindet insbesondere im Kapitalismus dadurch, dass das Arbeitsprodukt nicht mehr der arbeitenden Person gehört. Auch die Arbeitstätigkeit gehört ihr nicht mehr selbst, sondern einem/r anderen – dem/r Kapitalist:in. Es wird also nicht mehr für eigene, sondern für äußere fremde Bedürfnisse gearbeitet.

Die fehlende Erfüllung unserer Bedürfnisse ruft in uns destruktive Strebungen hervor. Im Feudalismus war es die Religion, in deren Bereich sich das aufgestaute Aggressionspotential, was eigentlich den Herrschenden galt, verschoben hat. Hier kam es während seines Niedergang zum erneuten Aufflammen des religiös fundierten Antijudaismus. Aber auch die Religion verliert an Bedeutung und es fehlt zunehmend an Möglichkeiten zur Entladung dieser destruktiven Energien, so Simmel. Auf diesen latenten Zustand andauernder psychischer Entbehrung treffen im Kapitalismus wiederkehrende und tendenziell immer katastrophalere Krisen wie Klima-, Gesundheits-, Finanzkrisen, Kriege und vieles mehr. Die Gesellschaft, ohnehin schon geschwächt, verfällt in Panik, da sie die krisenhafte Realität nicht mehr meistern kann. Das wiederum ist Auslöser für die Zuflucht in eine Gruppe mit antisemitischem Gedankengut, die Orgien von Hass und Zerstörung nach sich zieht. Das Aufgehen des Ichs in einer Masse ist immer der einfachste Fluchtweg vor dem Druck der unerträglichen und unbegreiflichen Realität, so Simmel.

Das Problem ist nicht die Aggression an sich – die in Folge der Entbehrungen und im Rahmen der Selbsterhaltung auftritt, denn diese kann ja in eine positive Richtung gelenkt werden, wenn letztlich das rationale Ich die Kontrolle behält. Problematisch seien, wie der Psychoanalytiker Mario Erdheim richtig anmerkt, die unbewussten Quellen der Aggression, die jede Kontrolle durchbrechen, vom Narzissmus geleitet sind und eine Realitätsprüfung nicht mehr zulassen. Hier zeigt sich deutlich die historische Krise der Führung der Arbeiter:innenbewegung sowie die Verbürgerlichung derselben. Gegenbewegungen wie beispielsweise Gewerkschaften, reformistische Arbeiter:innen-, soziale Bewegungen wie die Frauen- oder Umweltbewegung bilden dennoch einen Gegenpol zu den kapitalistischen Zwängen. Dieser ist jedoch sichtlich unzulänglich. All den angesprochenen Bewegungen, sowie der Führung der Arbeiter:innenklasse, gelingt es nicht, den zunehmenden Unmut der Menschen, die eigentlich danach streben, gegen die Herrschenden, die Verursacher:innen ihrer Entbehrungen vorzugehen und den Kapitalismus zu zerschlagen, in rationale und theoriegeleitete Bahnen zu lenken. Stattdessen sucht sich das kollektive Ich ein Ersatzobjekt, was es bestrafen kann. Selbst die Schuldgefühle für diesen Bestrafungswunsch werden dann durch gesteigerte Aggression gegen das Ersatzobjekt gewendet.

Ebenso wie die individuelle Psychose wird also auch der Antisemitismus durch einen Bruch mit der Realität ausgelöst. Das Besondere am Antisemitismus als Massenpsychose ist es, dass der/die einzelne Antisemit:in kein/e Psychotiker:in ist! Seine/ihre Person scheint weiterhin „normal“. Erst dadurch, dass er/sie sich an eine Gruppe Gleichgesinnter anschließt, verliert er/sie gewisse Eigenschaften, die einen gesunden Menschen ausmachen, und trägt so dazu bei, den Massenwahn zu erzeugen. In dem der/die Einzelne Teil der Masse wird, schwindet seine/ihre Verantwortlichkeit, er/sie hört auf, sich seinem/ihren individuellen Über-Ich zu unterwerfen. Er/Sie wird wieder zu einem Kind, was nur vor den eigenen Eltern Angst haben muss. Da der Massenmensch sich aber im Gruppenverband ebenso mächtig fühlt wie die imaginären ausgelagerten Eltern, fürchtet er keine Strafe mehr und kann, anders als der/die einzelne Psychotiker:in, zur Realität zurückkehren. Nun lässt er/sie seinen/ihren Zerstörungstrieben freien Lauf.

Der antisemitische Massenmensch löst seinen Ambivalenzkonflikt (also zwischen Liebe und Hass) gegenüber seinen Eltern auf, welcher darin besteht, dass er einerseits seine Eltern liebt, sie ebenso aber auch hasst, da sie ihm seine Bedürfnisbefriedigung nicht uneingeschränkt gewähren. Die Auflösung dieses Widerspruchs geschieht, indem er die veräußerlichte Elterngewalt, also das ausgelagerte Über-Ich, spaltet in die Führerperson, die er liebt und die jüdische Person, die er hasst. In der Funktion des Über-Ichs kann die Führerperson darüber bestimmen, wann die Gruppe emotionale Triebentladungen entfesselt oder bremst. Diese, historisch beispielsweise Hitler, bindet die Gruppenmitglieder an sich, indem er ihnen ein äußeres Ziel für ihre aufgestauten Aggressionen bietet, nämlich das Jüd:innentum. Den/Die Juden/Jüdin als ausgelagerten Teil des Über-Ichs kann der/die Antisemit:in bestrafen, ohne zugleich Schuld für seine/ihre Hassgefühle in sich aufnehmen zu müssen, denn der geliebte Teil des Über-Ichs, also die Führerperson, wurde ja nicht angegriffen. Hierzu passend ein Zitat von Simmel: „Jedem Massaker an Juden ging eine Hetzkampagne voraus, in der die Juden eben jener Verbrechen bezichtigt wurden, die der Antisemit im Begriff war, zu begehen.“

Für politische Führerpersonen dient der Antisemitismus unter anderem dazu, die Geführten über den eigentlichen Ursprung ihrer Entbehrungen hinwegzutäuschen. Denn der tatsächliche Ursprung des Elends in der Welt und der wiederkehrenden Krisen liegt selbstverständlich nicht im Judentum, sondern ist in den herrschenden Besitz- und Produktionsverhältnissen zu suchen.

Wir haben nun gehört, welche Dynamiken der individuellen sowie der kollektiven Psychose zugrunde liegen. Nun möchten wir auf das Verhältnis dieser beiden Phänomene zueinander näher eingehen. Der individuelle und der kollektive Wahn teilen gewisse Gemeinsamkeiten, es lassen sich aber auch bedeutende Unterschiede hervorheben:

Wie bereits erwähnt, entsteht die individuelle Psychose aus einem komplexen Wechselspiel individueller Sozialisation, welche bestimmte, für alle Gesellschaften mehr oder weniger gültige, Momente inkludiert. So sind beispielsweise in jeder Gesellschaftsform Menschen zuerst Kleinkinder und befinden sich in einem Verhältnis zu den Eltern oder primären Bezugspersonen. Diese vermitteln dem Kind die jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werte einer bestimmten Epoche, die das Individuum als Über-Ich integriert. Je nach Gesellschaftsform verändern sich auch die dem Individuum zugrundeliegenden Bedingungen und somit auch das Über-Ich, das zwar durch die Eltern personifiziert wird, aber notwendigerweise auch immer die normativen Vorstellungen der Gesellschaft verkörpert. Die Gestalt, die das Über-Ich eines Individuums also annimmt, ist eine klassenspezifische Gestalt. Sie kann geschlechtsspezifisch, mehr oder minder rassistisch in Erscheinung treten. Auch die Art und Weise, wie sich die triebhaften Es-Anteile im Menschen darstellen, sind von der jeweiligen Gesellschaft, in der sich das Individuum bewegt, geprägt.

Strukturen der Gesellschaft und Irrationalismus

Die kollektiven Pathologien hingegen entstehen aus den Strukturen der Gesellschaft selbst. Wie treten aber diese Strukturen zutage? Die Menschen sind zwar Schöpfer:innen ihrer Geschichte, aber dies sind sie nicht aus freien Stücken heraus, sondern stets unter vorgefundenen und ihnen nicht bewussten Bedingungen. Die Dynamik und Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung erscheinen den Menschen als Zwangsgesetze der Konkurrenz, als natürlich und unveränderbar. Sie werden in ihrem Wesen nicht erkannt, sondern in verkehrter und ideologischer Form verstanden, wie schon Marx im ersten Band des „Kapitals“ schreibt. Zu diesem verkehrten und ideologisch aufgeladenen Verständnis gehören unter anderem der Warenfetisch und die Lohnform, in welchen die eigentliche Grundstruktur der kapitalistischen Ausbeutung verschwindet. Die tatsächliche Ausbeutung besteht nämlich in unserem gegenwärtigen System darin, dass sich das Kapital durch Lohnarbeit den geschaffenen Mehrwert fremder Arbeit aneignet. Im Kapitalismus wird jedoch die eigentliche Quelle des Mehrwerts und des Profits notwendig verschleiert. Stattdessen scheint die Quelle des Profits in der Zirkulation des Geldes und im Zins zu liegen, in dem Verkauf der Waren über ihrem Wert, in Preistreiberei und Wucher. Dieser Schein wird zudem dadurch genährt, dass Preistreiberei, Spekulation und dergleichen ja tatsächlich existieren und diese durchgängig mehr Opfer als Gewinner:innen kennen. Aber die eigentliche Quelle kapitalistischen Reichtums sowie die eigentliche Ursache von Krisen erscheinen nicht an der Oberfläche, dringen nicht in das gesellschaftliche Bewusstsein.

Es ist aber genau diese oberflächliche Erscheinung, auf die sich gesellschaftlicher Irrationalismus und Verschwörungstheorien stützen. So werden das „jüdische“ Finanzkapital und das „raffende“ Handelskapital vom industriellen, „schaffenden“ Kapital getrennt. Das industrielle Kapital scheint wie das ehrlich verdiente, da mit ihm die Tätigkeit der Produktion assoziiert wird. In Wirklichkeit bilden letztlich industrielles, Handels- und zinstragendes Kapital nur drei Momente des Kapitalkreislaufes, selbst wenn sich diese gegeneinander bis zu einem gewissen Grad verselbstständigen können. In allen Stadien dieses Kreislaufes wird Mehrwert durch die Aneignung fremder Arbeitskraft durch den/die Kapitalist:in abgeschöpft bzw. umverteilt.

An diese Erscheinungsformen, die die bürgerliche Gesellschaft selbst hervorbringt, knüpft der Antisemitismus an. Handels- und zinstragendes Kapital werden zur Quelle von Profit, Ausbeutung und Diebstahl, also illegitimer Aneignung von Reichtum erklärt und seien hiermit der Ursprung aller Krisen. Darüber hinaus werden Handels- und zinstragendes Kapital personifiziert und mit den Juden und Jüd:innen identifiziert. In unserer vorherigen Folge haben wir historisch materialistisch hergeleitet, warum es zwar häufig Juden und Jüd:innen gewesen sind, die während des Hochmittelalters im Bereich des Handels und des Geldverleihs tätig waren. Hieraus wurde jedoch damals schon ein Feindbild konstruiert, welches eine materielle Grundlage hatte, aber auch schon zu diesem Zeitpunkt inhaltlich falsch gewesen ist. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus hat dieses Feindbild seine reale Grundlage gänzlich verloren und ist im modernen Antisemitismus vollständig zur Projektion geworden.

Antisemitismus assoziiert nicht nur fälschlicherweise das Jüd:innentum mit dem „bösen raffenden Kapital“, er tabuisiert zugleich auch die eigentliche Quelle kapitalistischen Reichtums. Es wird der/die industrielle, zumal deutsche Kapitalist:in zu einem besonders produktiven „arbeitenden Menschen“ verklärt, obwohl dessen/deren Reichtum ausschließlich aus der Aneignung fremder Arbeit entspringt.

Insbesondere in Krisenzeiten, wie bereits erklärt, entsteht für Kleinbürger:innen, die Mittelschicht, sowie Teile der „Eliten“ ein Bedürfnis nach Pseudoerklärungen für das erfahrene Unglück, welches auch Teile der Arbeiterinnenklasse ergreifen kann. Der Antisemitismus bildet so eine reaktionäre, irrationale und persönliche Einstellung, die zudem Ideologie einer ganzen Bewegung wird, welche bis in Pogrom und Faschismus münden kann.

Wie bekämpfen?

Wir sehen also: individuelles und kollektives psychisches Geschehen sind nicht identisch, verbinden sich aber, wie eben beschrieben, und tun dies auch klassenspezifisch.

Da der gesellschaftliche Irrationalismus auf den Grundstrukturen der Gesellschaft basiert und deren notwendige Erscheinungsform darstellt, erweist sich die bürgerlich-aufklärerische Kritik am Antisemitismus als unzulänglich und wirkungslos. Im Zuge der bürgerlichen und rein moralischen Kritik an Populismus, Antielitismus und Pseudoantikapitalismus des Antisemitismus werden die bürgerlichen Verhältnisse selbst verklärt. Es wird verkannt, dass gerade sie es sind, die die Grundlage dafür bilden, dass Antisemitismus zwangsläufig immer wieder aufflammen muss. So wie dem/r Antisemit:in zum Beispiel der deutsche als der eigentliche Mensch erscheint, so erscheint der bürgerlichen Ideologie das bürgerliche Individuum als das eigentliche. Während die Antisemit:innen das Ende der Entfremdung in der Volksgemeinschaft imaginieren, erklärt die bürgerliche Kritik letztlich die Existenz der Entfremdung für unwahr.

Für den Marxismus hingegen geht es darum, die reale Grundlage für antisemitische Ideologie aufzuheben und das heißt, die Bedingungen zu schaffen, wo der Mensch kein „erniedrigtes, […] geknechtetes, […] verlassenes […] Wesen […]“ mehr sein muss, um es mit den Worten von Marx zu sagen. Das heißt aber notwendig auch die Schaffung einer revolutionären Arbeiter:innenbewegung, die diese Verhältnisse auch revolutionär überwinden kann. Das Verständnis und die Kritik sowohl reaktionärer wie pseudoradikaler „Lösungen“ bildet einen notwendigen Beitrag zur Herausbildung eine solchen Bewegung.

Auch Leo Trotzki sprach sich für eine psychoanalytische Auseinandersetzung mit den soeben erläuterten Mechanismen aus. Er beschäftigte sich tiefgreifend mit der Massenpsychologie des Faschismus und erkannte, dass es gerade diesem gelinge, dem Wunsch nach Aufstandsbewegungen nachzukommen, die destruktiven Energien aber auf Ersatzobjekte umzulenken. Gleichzeitig gelingt es dem Faschismus sogar, eben diese aggressiven Bestrebungen zur Zerschlagung der Arbeiter:innenbewegung und ihrer demokratischen Errungenschaften zu nutzen, was zu den zentralen Zielen des Kapitals gehört. So schreibt Trotzki, dass der italienische Faschismus direkt aus dem von den Reformist:innen verratenen proletarischen Aufstand erwuchs, also die aufständischen Potentiale „erfolgreich umgelenkt“ wurden. Es sind die Erfahrungen von Niederlagen, Drangsal und Demoralisierung, die viele Arbeiter:innen in Folge der Schwäche ihrer Führung besonders empfänglich machen für nationale und antisemitische Optionen im Kampf gegen ihre Unterdrücker:innen. Eben dieser Klassenkampfbezug fehlt sowohl bei Simmel wie auch bei Adorno. Letzterer geht davon aus, dass die sogenannte Massenkultur, die Vereinzelung und Entfremdung des bürgerlichen Individuums in der Konkurrenz der warenproduzierenden Gesellschaft ausschließlich die Ursache für narzisstische Regression sind, welche den antisemitischen Komplex nach sich ziehe. Er geht sogar noch weiter und stellt die Überlegung an, dass letztlich alle sozialen Bewegungen im Spätkapitalismus zum Faschismus tendieren, da die Verdinglichung so allumfassend und unüberwindbar sei. Doch wohin führt uns diese Behauptung? Das müsste ja bedeuten, dass jeglicher zivilisatorische Fortschritt zwangsläufig ein Zerstörungsprozess ist und es keine Aussicht auf ein Leben in einer besseren, einer befreiten Gesellschaft geben kann. Aus dieser Perspektive heraus kann eigentlich nur noch vor dieser Aufgabe kapituliert werden. Es ist sehr wohl richtig, dass Antisemitismus ein notwendiges Nebenprodukt bisheriger menschlicher Zivilisationen im engeren Sinne (also mit Beginn der geschriebenen Geschichte) ist, da diese stets in Klassengesellschaften lebten. Es ist nicht die menschliche Gesellschaft als solche, die den Antisemitismus hervorbringt. Es sind die Klassenwidersprüche, die die Grundlage für juden-/jüdinnenfeindliche Überzeugungen bilden. Adorno und Simmel blenden jedoch die historische Aufgabe der Arbeiter:innenklasse in ihren Theorien aus. Die These vom Totalitarismus der Verdinglichung nach Adorno zieht in der Praxis verheerende Folgen für viele Linke nach sich, welche die faschistische Gefahr dauerhaft und überall vermuten und somit einen tatsächlichen Rechtsruck, wie er sich seit der Krise 2008/09 vollzieht, verkennen.

Gewiss macht die zunehmende Verdinglichung im Kapitalismus einzelne Individuen besonders empfänglich für rassistischen, nationalistischen oder antisemitischen Hass. Der Auffassung Adornos ist aber unbedingt entgegenzusetzen, dass es das Proletariat selbst ist, welches durch seine Rolle im Produktionsprozess die Möglichkeit besitzt, durch solidarische Selbstorganisation und Herausbildung der Kontrolle über seine Arbeitsprozesse eben gerade diese Verdinglichung zu durchschauen und progressive Alternativen sozialen Zusammenlebens und -arbeitens emotional erfahrbar zu machen. Es sind demnach sehr wohl Massenbewegungen möglich, welche selbstbewusste und kritische Subjekte in einem demokratischen Prozess vereinen. Und nur so kann auch die Arbeiter:innenklasse als Ganze ihre historische Rolle spielen, indem sie das Ausbeutungsverhältnis, aus dem eben die oben genannte Verdinglichung entsteht, überwindet.

Wir hoffen, Euch die psychologische Dimension des Antisemitismus ein wenig nähergebracht zu haben. Sicherlich gibt es zu dem Thema noch weitaus mehr zu sagen. Wenn Ihr neugierig geworden seid, so empfehlen wir Euch unser theoretisches Journal mit dem Namen „Revolutionärer Marxismus“, welches wir in regelmäßigen Abständen herausgeben. Das 51. Werk dieser Buchreihe trägt den Namen „Antisemitismus, Zionismus und die Frage der jüdischen Nation“ und vertieft einige Themen, die wir in dieser Folge angerissen haben. In unserer kommenden Folge soll es darum gehen, welches Vorgehen gegen das Phänomen des Antisemitismus von einem Standpunkt der Arbeiter:innenklasse ein wirklich wirksames ist und welche Schlussfolgerungen die Unterdrückung eher noch manifestieren.

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