Arbeiter:innenmacht

Krankenhäuser: großer Kahlschlag geplant

Jürgen Roth, Neue Internationale 273, Mai 2023

In diesem Sommer soll das neue Krankenhausreformgesetz verabschiedet werden. Wenn sich die Vorstellungen der Regierungskommission um Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach durchsetzen, wird es damit zum größten Kahlschlag in der Krankenhauslandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kommen.

Vom Beifall in der Coronapandemie zum Kliniksterben

Was wurde doch das Krankenhauspersonal für seinen unermüdlichen Einsatz während der Pandemie mit Beifall von den Balkonen bedacht! Manche glaubten bereits, das Rad würde sich zurückdrehen, bessere Ausstattung und Arbeitsbedingungen sowie mehr Personal in den Kliniken seien die unvermeidliche Lehre aus den Defiziten, die das Virus damals im BRD-Gesundheitswesen schonungslos aufgedeckt hatte. Die Vorschläge der Bertelsmann-Stiftung, die Zahl der Krankenhäuser um zwei Drittel zu reduzieren, schienen damit endgültig vom Tisch. Doch ausgerechnet die, die unter Höchstlast Coronapatient:innen versorgt haben, sind jetzt akut von der Insolvenz bedroht.

Zahlen und Fakten

Beispiel Niedersachsen: Existierten in diesem Bundesland vor wenigen Jahrzehnten noch über 200 Kliniken, gelten derzeit 40 von noch verbliebenen 168 in den kommenden 10 Jahren als vom Aus bedroht. Laut Bundesrechnungshof steht bundesweit ein Zehntel kurz vor der Insolvenz, 40 % schrieben rote Zahlen. Gab es 1980 noch 3.783 Krankenhäuser mit 879.605 Betten, sind es heute noch knapp 2.000 mit etwa 500.000. Der Anteil in öffentlich-rechtlicher Hand ist auf 29 % geschrumpft, der privater Träger hat sich zwischen 1991 und 2018 von 15 % auf 37 % mehr als verdoppelt. Die NRW-Landesregierung gab eine Studie in Auftrag, der zufolge 60 % der dortigen Krankenhäuser zu schließen seien. Über 40 mussten seit 2020 schließen, darunter allein 13 im Jahr 2022. Die Zahl der akut bedrohten Kliniken erreicht aktuell mit 74 Einrichtungen einen traurigen Rekord.

Die Logik der Umgestaltung der Krankenhauslandschaft, die schon seit Jahren läuft, trifft v. a. kleinere Einrichtungen auf dem Land und läuft auf weniger, aber größere hinaus. Der Krankenhausstrukturfonds trägt dazu bei, dass Schließungen, Konzentrations- und Umwandlungsvorhaben auch noch mit Geld belohnt werden. Neben 34 in den letzten Jahren darunter fallenden Häusern wurden allein zwischen 2016 und 2018 36 Abteilungen an weiteren 24 Standorten geschlossen.

Gründe und Folgen

Die BRD finanziert ihre Krankenhäuser seit 1972 nach einem dualen System. Für den Bau, Unterhalt und für Investitionen sind die Bundesländer zuständig. Die laufenden Betriebskosten (Personal, Material) tragen die Krankenkassen. Beide Finanzierungssäulen werden seit Jahren vernachlässigt und untergraben.

Während die Inflationsentwicklung zwischen 2000 und 2021 – von der aktuell wesentlich höheren gar nicht zu reden – eine Investitionssteigerung von mehr als einem Drittel verlangt hätte, hat sich die Investitionsfinanzierung durch die öffentliche Hand den letzten 20 Jahren halbiert (2017: 44,3 %)! Der Krankenhaus Rating Report 2020 errechnete für mehr als ein Drittel der Häuser (600) ein mittleres bis hohes Insolvenzrisiko. Die Kliniken müssen, um überleben zu können, die fehlenden Investitionen aus Eigenmitteln aufbringen oder Kredite aufnehmen. Ihre Bilanzbelastung durch Schuldendienste hat sich im gleichen Zeitraum vervierfacht!

Bis zur Jahrtausendwende wurde die 2. Finanzierungssäule durch Kostenerstattung geprägt. Für jeden Tag Liegezeit erhielt die Klinik eine Pauschale, den Tagessatz. Dieses Verfahren löste der Gesetzgeber zwischen 1999 und 2002 durch die diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs) ab, es wurde nach Zahl und Schwere der behandelten Fälle gezahlt. Liegezeitverkürzung und Fallzahlerhöhung waren die Folge. Trotz massiver Stellenstreichungen – allein in der Pflege 60.000 – erhöhte sich die Patient:innenzahl um ein Fünftel. Folglich stieg der Arbeitsdruck enorm.

Aus den DRGs ergibt sich der Case Mix Index als Durchschnitt aller Diagnosepauschalen, die ein Haus den Krankenkassen zur Abrechnung vorlegt. Das Fatale an diesem Bezahlsystem ist die Verknüpfung der medizinischen Tätigkeit und Diagnose mit der Höhe der Erlöse. Tausende Kodierfachkräfte und Medizincontroller:innen ringen mit wiederum Tausenden ihrer Pendants bei den Kassen um jeden Cent.

Das Versagen der dualen Finanzierung, die Tatsache, dass jetzt Bilanzen – nicht medizinische Notwendigkeit – den Ausschlag gaben, bildet den Hintergrund für Schließungen und Privatisierungen. Heute steht Deutschland mit der Zahl der privatisierten Krankenhausbetten an der Weltspitze, noch vor den USA, denn immer mehr Kommunen können die Defizite nicht mehr ausgleichen. Weil das DRG-System die kinderärztliche Tätigkeit völlig unterbewertet, schlossen viele Kinderkliniken. Einen ähnlichen Weg geht die Geburtshilfe mit der Schließung zahlreicher Kreißsäle.

Die Erlaubnis, Gewinne machen zu dürfen – ein weiterer Meilenstein im Umbau der Krankenhauslandschaft zu einer Industrie wie jede andere –, führte neben der Einführung der DRGs ab den 1990er Jahren zu einem Privatisierungsschub. Die Privaten spezialisieren sich v. a. auf aufwendige Behandlungen, während Erhaltung und Grundversorgung schlecht vergütet werden. Durch Personaleinsparungen und Auslagerungen von Tätigkeiten an externe Dienstleister:innen bzw. outgesorcte Tochterunternehmen mit schlechteren Tarifverträgen für die Beschäftigten lassen sich Gewinne erzielen bzw. Defizite reduzieren.

Konturen der drohenden Krankenhaus„reform“

Im 1. Pandemiejahr schlossen doppelt so viele Kliniken (20) wie im Durchschnitt der Vorjahre. Dazu kamen 22 Teilschließungen und 50 von Schließungen bedrohte Einrichtungen, von denen 31 bereits feststanden. Im Koalitionsvertrag der Ampelbundesregierung wurde das Problem der flächendeckenden Klinikschließungen und der klinischen Unterversorgung mit keinem Wort erwähnt. Das DRG-System wurde nicht grundlegend in Frage gestellt.

Ein Teil der Kliniken kam kurzfristig im 1. Pandemiejahr mit einer Entlastung durch die Krise. Unmittelbar danach häuften sich die Hiobsbotschaften. Unter anderem Energie- und Beschaffungskosten stiegen schneller als die Erlöse. 60 % erwarten für 2022 tiefrote Zahlen. Folglich hatte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) im Vorfeld des Treffens der Gesundheitsminster:innen des Bundes und der Länder Anfang Januar 2023 Forderungen nach mehr Geld angemeldet. Sie kritisierte die von der Expert:innenkommission der Bundesregierung für die geplante Krankenhausreform unterbreiteten Pläne für die Minister:innenkonferenz. Diese schlug 3 neue Vergütungskriterien vor: Vorhalteleistungen, Versorgungsstufen und Leistungsgruppen. Vorhaltung bedeutet, dass feste Beträge für Personal und Medizintechnik einer Notaufnahme fließen sollen, unabhängig davon, ob diese ständig gebraucht werden. Strittig blieb die Einteilung in 3 Level mit entsprechender Förderung: Kliniken der Grundversorgung für Notfälle und einfache chirurgische Eingriffe, Regel- und Schwerpunktversorgung und die dritte Gruppe der Maximalversorger. Neben dem Dilemma, sich nicht mit Fragen der Planung und Investitionsuntererfüllung durch die Länder beschäftigt zu haben, betrachtet der Kommissionsentwurf Gesamtkosten und Finanzierungsquellen nicht für den gesamten Gesundheitsbereich als Paket. Zu Recht forderte im Kontrast dazu der Sozialverband VdK eine vollständige Abkehr von jeder Gewinnorientierung und die Aufgabe der Fallpauschalen. Ein Bündnis aus 9 Initiativen, darunter Krankenhaus statt Fabrik, setzt sich für eine Gemeinwohlorientierung und Gewinnverbot im Sektor neben verbindlichen Personalschlüsseln und demokratischer Planung und Steuerung ein.

Der Vorschlag der Kommission wundert angesichts ihrer Zusammensetzung nicht: 14 Professor:innen, Führungskräfte des Sanakonzerns, Chefärzt:innen, Sozialrechtler:innen, aber niemand aus Gewerkschaft, Pflege oder Berufsverbänden. Umso dringender war es geboten, dass die Minister:innenkonferenz den Eindruck erwecken wollte, mit einem milden Zurückfahren der DRGs (Vorhaltung) die Probleme der stationären Versorgung lösen zu können. Dieses Zuckerbrot unterm Schlagwort Entökonomisierung soll aber die weit gewichtigeren Peitschen Versorgungsstufen und Leistungsgruppen übersehen helfen.

Pferdefüße

Auch wenn einige Bundesländer und die DKG betonten, eine „Eins-zu-eins-Umsetzung“ werde es nicht geben, deutet eine solche „Kritik“ mehr Kompromissbereitschaft als Kampfeswillen an.

1.) Das Zwei-Säulen-Modell aus Vorhaltung und Fallpauschalen (Hybridfinanzierung) führt ja nicht dazu, dass mehr Geld bei den Krankenhäusern ankommt. Es soll kostenneutral gestaltet und mit einem Budgetdeckel versehen werden. Die beiden weiteren Vorschläge – Einführung der Krankenhauslevel und Leistungsgruppen – zielen direkt auf eine radikale Veränderung der stationären Versorgung.

2.) Level 1i (Grundversorgung ohne ärztliche Anwesenheitspflicht 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche; Gesundheitszentren) soll nicht ärztlich, sondern von ausgebildeten Pflegekräften geleitet werden und nur über stationäre Pflegebetten verfügen. Ärztliche Verfügbarkeit rund um die Uhr ist nicht vorgesehen. Soll’s etwa der auf dem Land schon heute ausgedünnte niedergelassene Bereich mit der ärztlichen stationären Versorgung richten? Absurd! Den Vogel schießt der Kommissionsvorschlag aber mit der Einbeziehung der Angehörigen in die Pflege ab. Es ist davon auszugehen, dass die bundesweit 657 Krankenhäuser, die laut Gemeinsamem Bundesausschuss die Anforderungen an Notfallstufen nicht erfüllen, als Krankenhäuser zu existieren aufhören und Level-1i-Einrichtungen degradiert werden.

Solche des Levels 1n (Grundversorgung für Notfälle und einfache chirurgische Eingriffe) bleiben als solche erhalten, allerdings nur auf Basisniveau (Innere Medizin, Chirurgie, Notfallaufnahmen) – ohne Geburtshilfe!

3.) 128 (!) Leistungsgruppen werden z. B. die Innere Medizin rigoros aufsplitten. Rigide Mengenvorgaben, die automatisch Qualitätszuwachs und -sicherung suggerieren sollen verbieten Häusern mit vorhandener Kompetenz und Erfahrung zukünftig bestimmte Behandlungen. Fällt z. B. während einer Bauchspeicheldrüsen-OP der Herzschrittmacher aus, muss das Krankenhaus für die Leistungsgruppe Herzkrankheiten zugelassen sein, sonst darf es die erforderlichen Gegenmaßnahmen nicht durchführen. Behandelt es dennoch, dem Überleben des/r Patient:in zuliebe, wird es von den Krankenkassen abgestraft. Medizinisch unnötige Operationen werden zunehmen, wenn der Druck gegen Jahresende steigt, die erforderlichen Mengenvorgaben erfüllen zu müssen, um die Leistungsstufen„kompetenz“ beizubehalten.

4.) Alle 3 Reformvorschläge erfordern zusätzlichen Dokumentations- und Verwaltungsaufwand über das bisher durch die Abrechnung nach Fallpauschalen bereits bedingte eklatant hohe Maß von einem Drittel der Arbeitszeit hinaus. Fälle wie o. a. Pankreas-OP führen zu gesteigerten Auseinandersetzungen mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen.

Auch bei einer abgemilderten Umsetzung der Reform wird die durchschnittliche Lebenserwartung sinken. Wenn von 810 Geburtsstationen noch 428 übrig bleiben, werden mehr Mütter und Kinder sterben. In allen Bereichen werden sich die Wartezeiten verlängern. Das Beispiel Britannien winkt. Angesichts sinkender Klinikzahlen werden sich die der ausgebildeten Pflegekräfte parallel verringern, wird die ärztliche Ausbildung unter weiterer Spezialisierung leiden, werden ganzheitliche Behandlungsansätze aus dem Blickfeld verschwinden, weil sich die verbleibenden Einrichtungen auf Leistungsgruppen spezialisieren müssen.

Hinzu kommen: mangelnde ärztliche Versorgung in den Einrichtungen des Levels 1; noch längere Anfahrtswege bis zu den Kliniken der Level 2 ( Regel- und Schwerpunktversorgung) und 3 (Maximalversorger wie Unikliniken); Unklarheit, welche Klinik bei welchen Notfällen und Krankheitsbildern aufgesucht werden sollen inkl. damit über das schon jetzt überlastungsbedingte hohe Maß hinausgehender verbundener Abweisung von Patient:innen, unerträglich lange Wartezeiten auf Diagnosen und Behandlungen in den verbleibenden Kliniken und Rettungsstellen.

Gegenwehr und Forderungen

Das rührige Bündnis für Klinikrettung hat seit Jahren erheblich dazu beigetragen, auf das Kliniksterben aufmerksam zu machen und sich gründlich recherchierend energisch gegen die geplante „Reform“ ins Zeug gelegt. Mehr als 15.000 unterzeichneten eine Petition dagegen. Zu den ersten Unterzeichner:innen gehörte der heutige Bundesgesundheitsminister! Den Forderungen nach Selbstkostendeckung ist ebenso zuzustimmen wie denen des VdK und der 9 Initiativen. Die SoL fügt ihnen in ihrer 1. Ausgabe von Antiserum – Publikation der SoL für ein öffentliches Gesundheitswesen nach Bedarf, nicht für Profit die nach Überführung u. a. des Krankenhaussektors in Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung hinzu. Doch in doppelter Hinsicht wird von ihnen die Klassenfrage nur ungenügend aufgeworfen. Bürger:innenbewegungen und Lobbyismus, stellen zwar kein Hindernis dar, sie und ihre Forderungen zu unterstützen. Ja, auch wir haben die Petition unterschrieben und fordern alle Leser:innen auf, es uns gleichzutun. Doch nur Klassenkampfmethoden bis hin zum Generalstreik können den geplanten Kahlschlag wirksam verhindern!

Erste Ansprechpartnerin dafür sollte die Krankenhausbewegung sein, von der der Startschuss dafür auf einer Strategiekonferenz gegen Krankenhausumstrukturierungen fallen muss. Schließlich hat sie für Entlastung zumindest teilweise erfolgreich bekämpft und sollte eine solche „Lösung“ der Personalknappheit unbeugsam bekämpfen.

Doch reicht ein Tarifvertrag dafür nicht. Auf Regierungskommission, ja selbst auf skeptische Bundesländer und DKG dürfen wir uns nicht verlassen! Die Arbeiter:innenbewegung braucht ihre eigene politische Gegenmacht in Gestalt von Kontrollräten über das gesamte Gesundheitswesen einschließlich seiner Finanzierung durch Progressivsteuern und gesetzliche Sozialversicherungspflicht für alle unter Kontrolle von Gewerkschaften, Beschäftigten und Patient:innen, um den Weg zu seiner nachhaltigen, integrierten, letztendlichen sozialistischen Umgestaltung einschlagen zu können. Forderungen wie Gemeineigentum unter demokratischer Verwaltung verklären dagegen sowohl den bürgerlichen Staat wie seine Demokratie. Sie umgehen nicht nur die Frage der entschädigungslosen Enteignung bei der Wiederverstaatlichung der privaten Klinikketten, sondern suggerieren, staatskapitalistisches Eigentum sei schon Vergesellschaftung (Gemeineigentum). Der staatliche und frei-gemeinnützige Krankenaussektor hinderte die herrschende Klasse in der BRD in der Vergangenheit ja nicht an umfangreichen Kostendämpfungsprogrammen, die schließlich über zahlreiche Stufen zur immer mehr gesteigerten Umwandlung in die heutige weiße Fabrik geführt haben und weiter führen werden.

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