Leo Drais, Infomail 1216, 13. März 2023
Da hat die deutsche Netflix-Neuverfilmung von „Im Westen Nichts Neues“ also vier Oscars gewonnen: ein bildgewaltiger Film, dessen Plot jedoch eine Welt versinnbildlicht, die wieder am Rand des Weltenbrandes steht und keinen Ausweg daraus findet. Warum ist das so?
Dass ein Antikriegsfilm – und als solcher darf sich die Arbeit von Regisseur Edward Berger auf jeden Fall bezeichnen – auch nichts anderes als eine Ware ist, die Geld auf dem Filmmarkt einspielen soll, ist ja kein Geheimnis. Genauso wenig, dass die Oscars selbst Teil dieser Industrie sind, die sich in der Verleihungschoreographie quasi selbst geil findet.
Zwangsläufig führt das jedoch zu einer besonderen Form der Dramaturgie, die schnell ins Ahistorische übergeht. Zum Beispiel, wenn der Film in einer der Anfangsszenen die mythisierte Kriegsbegeisterung ins Jahr 1917 verlegt, eine Zeit, die längst von Hunger, Kriegsmüdigkeit und Zynismus geprägt war.
Oder indem die Handlung des Romans auf 148 Minuten zusammengestaucht wird. Relevante Szenen des Romans – etwa der Streich Paul Bäumers und seiner Kameraden an ihrem erniedrigenden Ausbilder; der Fronturlaub; das Unverständnis und die Verlorenheit, die Bäumer zuhause fühlt; seine Begegnung mit russischen Kriegsgefangenen – haben da drin logischerweise keinen Platz. Es bleibt das Geschehen in den Gräben, wo der Film technisch groß aufgefahren hat und durchaus sehr überzeugende schauspielerische Leistungen zeigt.
Dennoch: Netflix produziert doch sonst aus jedem noch so abgedroschenen Thema eine von durchschnittlicher Mittelmäßigkeit durchsetzte Serie. Hier wäre mal die Chance gewesen, darüber hinauszuwachsen.
Aber letztlich ist das egal. Den durchschnittlichen Zuschauer:innen reicht das Gemetzel, um ihrer Angstlust nachzugehen und dann zu sagen: „Schrecklich!“ oder „Krass!“
Konzernproduktionen von Netflix, Warner oder Disney haben weder die Aufgabe noch den Anspruch, historische Ereignisse korrekt zu kontextualisieren. Ihre Macher:innen haben auch selbst gar kein Bewusstsein dafür. Das ist ja gerade die Crux mit der Ideologie. Am Set denken sie vielleicht wirklich, sie tragen hier dazu bei, zukünftige Kriege zu verhindern. Aber ob es diese Gedanken gestern auch beim Applaus gab?
Klar könnte man jetzt sagen, dass Erich Maria Remarques Roman diesen Kontext selbst nicht herstellt. Das stimmt. Die Kritik ist trotzdem gerechtfertigt, weil Bergers Film bei allen Weglassungen aus dem Roman selbst einen zweiten Handlungsstrang zusätzlich geschaffen hat, der direkt so, wie er dargestellt wird, auf Geschichtsklitterung im Dienste des Dramas hinausläuft.
Es geht um die Verhandlungen im Eisenbahnwagen im Wald von Compiègne, die zum Waffenstillstand führten.
Was der Film definitiv gut darstellt, ist die besondere Sinnlosigkeit der letzten Angriffsversuche selbstsüchtiger Befehlshaber, die noch Minuten vor dem Waffenstillstand Menschen ins Feuer trieben.
Das Problem liegt im Kontext der Verhandlungen selbst.
Während die Herrschenden auf allen Seiten vier Jahre lang kein Problem damit hatten, Massen auf die Schlachtbank zu führen, taucht nun der gute Matthias Erzberger von der konservativen Zentrumspartei auf und appelliert vor Humanismus triefend bei den französischen Unterhändlern um Frieden.
Noch 1916 stand derselbe Erzberger für einen Siegfrieden ein, ab 1918 für einen „Verständigungsfrieden“ – also einen Frieden, den die Imperialist:innen am Runden Tisch beschließen, um die Welt dort unter sich aufzuteilen.
Das größte Problem an der Erzählung im Film ist, dass diese Friedensbemühungen bei Erzberger (Daniel Brühl) als rein einsichtige Guter-Mensch-Tat erscheint, auch wenn immerhin anklingt, dass die Oberste Heeresleitung in ihm einen nützlichen Trottel gefunden hat, der das schmutzige Geschäft des Friedens – also der Niederlage – übernahm und das Militär somit die Dolchstoßlegende zur Wahrung des eigenen Gesichts bemühen konnte.
Aber ohne die aussichtslose Kriegssituation und vor allem ohne die heraufziehende Novemberrevolution lassen sich die Waffenstillstandsbemühungen auf deutscher Seite nicht verstehen. Letzteres lässt der Film sträflich einfach weg. Während im Roman der Protagonist „Entweder gibt es Frieden oder eine Revolution“ denkt, fällt dieses R-Wort nirgends im Film. Das wäre aber Pflicht gewesen im Sinne einer historischen Richtigkeit. Denn während das Buch im Oktober 1918 endet, treibt der Film die Handlung ja bis in den November.
Natürlich war auch Remarque kein Revolutionär. Aber er vermied es, sich die Finger am falschen Frieden zu verbrennen, indem er sich rein auf die Perspektive Paul Bäumers konzentrierte.
Berger und Netflix sind aber absichtlich über dieses Perspektive hinausgegangen und bei ihnen ist der ganze Frieden nicht mehr als eine gute Tat der Herrschenden. Er erscheint nicht als etwas, womit sie ihren eigenen Kopf vor der Revolution retteten. Denn selbstredend war Erzberger genauso wie Ebert, Noske und Co. ein entschiedener Gegner der sozialistischen Revolution.
Und damit mal zurück in die Gegenwart, in die Zeit des Krieges in der Ukraine, wo der Kampf um die Neuaufteilung der Welt erneut eskaliert. Die NATO handelt hier in der Unterstützung der Ukraine genauso wenig selbstlos wie ein Erzberger in Compiègne. Sie verfolgt durch das ukrainische Militär eigene imperialistische Interessen gegenüber der russischen Konkurrenz.
Es gibt viele frappierende Parallelen, sei es, dass es wie ein Jahr nach dem Beginn des ersten Weltkrieges auch heute wieder einen Munitionsmangel gibt oder sei es, dass Bachmut mit Verdun verglichen wird.
Entsprechend kam der Film für die westlichen Verbündeten zur genau richtigen Zeit. Russland erscheint in den Köpfen der Meisten als der Aggressor – was es ja auch ist. Die Kriegsziele werden jedoch kaum hinterfragt, was die westliche Seite angeht. Jetzt taucht so ein Film auf, der die Schrecken des Krieges zeigt, und: Oha! Das wiederholt sich ja heute, und Russland hat Schuld daran. Über die Angst vor dem Krieg bindet „Im Westen Nichts Neues“ die Zuschauer:innen in die westlichen Kriegsbemühungen ein, der Pazifismus landet auf dem Bauch. Die vier Oscars sind kein Zufall. Mindestens unbewusst wirken die Bilder des Krieges von damals und heute zusammen.
Für die Macher:innen des Films gilt, dass sie sich, indem sie mit dem Finger mahnend auf die Vergangenheit weisen, heute moralisch auf der richtigen Seite wähnen. Aber: Psst! – auf dieser Seite wähnten sich viele Kulturschaffende auch vor 109 Jahren!
Russland hat den Krieg zwar begonnen, aber wenn dieser zum Dritten Weltkrieg ausartet tragen dafür alle daran beteiligten Herrschenden Schuld, und alle sind sie von ihrer Unschuld überzeugt. Manche Regisseur:innen von Antikriegsfilmen sind vielleicht, ohne es zu wissen, auf dem besten Weg, zur moralischen Unterstützung des Krieges zu werden.
Stellt sich noch die Frage nach der Verhinderung und dem Ende des Krieges.
Für Marxist:innen ist in Gedenken an Rosa Luxemburg (über deren Tod Matthias Erzberger bestimmt nicht traurig war) klar, dass die Weltlage auf Sozialismus oder Barbarei hinausläuft.
Der Sozialismus ist kaum als eine Alternative für unsere Gegenwart bekannt. Das ist auch den Produzent:innen nicht vorzuwerfen. Wohl aber, historisch inkorrekt und unvollständig gearbeitet zu haben. Und das wirkt nun mal auch ins barbarische Heute.
In den letzten Jahren gab es viele Filme, die die Geschichte zum Gegenstand nahmen. Babylon Berlin ist ein anderes Beispiel dafür, wobei die Serie offen zur eigenen Fiktion steht.
Trotzdem: Das Ergebnis dieser Produktionen ist, auch wenn das die Macher:innen vielleicht nicht wollen, dass die Vergangenheit noch rätselhafter, willkürlicher und naturgesetzlicher erscheint, als sie das sowieso schon im Schulunterricht ist. Aber Geschichte ist Pseudonatur. Sie wird von Menschen gemacht und Menschen können sie auch positiv bewusst auflösen.
Weit weg von solchen Ideen (Wofür auch, es ist ja eine kapitalistisch vergewaltigte Kunst, die Geld und Ruhm bringen soll!) ist die Vergangenheitsbewältigung der modernen Großfilmindustrie darauf reduziert, die Geschichte als mitreißendes Drama auf die Leinwand zu tragen – und damit selbst zum Teil des sehr realen Gegenwartsdramas zu werden.