Dave Stockton, Infomail 1208, 23. Dezember 2022
Großbritannien steht ein „Winter der Unzufriedenheit“ in Form der größten Streikwelle seit vielen Jahren bevor. Und das, obwohl es ernsthafte rechtliche Hindernisse und restriktive Urabstimmungsregeln für Arbeitskampfmaßnahmen gibt und sogar ein neues Gesetz droht, das während eines Streiks ein Mindestdienstniveau vorschreibt.
Die Streikwelle begann mit einer Welle eintägiger Aktionen der Eisenbahner:innen im Sommer und nahm im Herbst zu. Das nationale Statistikamt berichtet, dass im Oktober 417.000 Arbeitstage durch Streiks verloren gingen, der höchste Monatswert seit November 2011. Zwischen Juni und Oktober fielen mehr als 1,1 Millionen Arbeitstage aus, der Höchststand innerhalb eines Fünfmonatszeitraums seit Anfang 1990.
Das Spektrum der Streikenden reichte von Eisenbahner:Innen über Lehrer:innen und Dozent:innen, Postbedienstete bis hin zu Beamt:innen, Grenzschutzbediensteten und Rechtsanwält:innen, Busfahrer:innen und Hafenarbeiter:innen. Kein Wunder, denn die Inflation erreichte im Oktober mit 11,1 % einen 41-Jahres-Höchststand, und die meisten dieser Beschäftigten mussten sich seit Jahren mit Lohnabschlüssen unterhalb der Inflationsrate begnügen. Hohe Lohnforderungen lagen auf der Hand. Aber sie stoßen auf den hartnäckigen Widerstand einer Regierung, die sich verpflichtet hatte, die zur Bekämpfung des Covidvirus aufgewendeten Summen von den Massen zurückzufordern.
Die Eisenbahner:innen übernahmen im Juni die Führung der Streikbewegung, als sie ihre Kampagne unter dem Slogan „Bust the Transport Workers‘ Pay Freeze“ (Sprengt das Einfrieren der Löhne für die Transportarbeiter:innen!) mit einer Reihe von eintägigen Streiks von 40.000 Bahnbeschäftigten starteten. Erste Kundgebungen, auf denen Generalsekretär Mick Lynch erklärte, die Gewerkschaft befinde sich in einem Klassenkampf, und andere Beschäftigte und Gewerkschaften aufforderte, sich ihr anzuschließen, begannen sich zu einer Bewegung zu entwickeln.
Danach kam es zu einer Art Pause, als die Gewerkschaft in Verhandlungen eintrat, obwohl die von ihr angestrebte Einigung von etwa 8 % immer noch eine Kürzung der Reallöhne bedeutet hätte. Aber das Unternehmen Network Rail und Transport for London (Netzwerk Schiene und Verkehr für London) blieb hartnäckig. Nachdem die RMT-(Gewerkschaft für Eisenbahn, Gewässer und Transport)-Mitglieder die letzten Lohnangebote abgelehnt hatten, schwor die Gewerkschaft, weiter zu kämpfen. Häufigere Arbeitsniederlegungen werden das britische Schienennetz in der Vorweihnachtszeit zum Stillstand bringen, was zu Protesten der Einzelhändler:innen führt, die befürchten, dass ihr gewohntes Geschäft gestört werden könnte.
Die separierte Lokführer:innengewerkschaft ASLEF ruft zu einem Streik auf, um die Einführung neuer Dienstpläne bei Avanti West Coast zu verhindern, einem Unternehmen, das dafür bekannt ist, dass es die vertraglich vorgeschriebenen Leistungen nicht erbringen kann, weil es nicht genügend Lokführer:innen beschäftigt.
Die Beschäftigten der Royal Mail (Post) streikten am 13. Dezember zum 14. Mal, nachdem sie in der Woche zuvor eine Kundgebung und einen Marsch mit 20.000 Teilnehmer:innen im Zentrum Londons organisiert hatten. Die CWU-(Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter:innen)Mitglieder sehen darin einen Kampf um ihre Arbeitsplätze gegen den Vorstandsvorsitzenden Simon Thompson, der entschlossen ist, die Belegschaft zu dezimieren, zu prekarisieren und auf einen Paketdienst zu reduzieren. Die Unternehmensleitung hat zunächst Streikbrecher:innen eingesetzt und 100 Gewerkschaftsangehörige und -vertreter:innen während des Streiks suspendiert.
Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der CWU-Führung und den Bossen von Royal Mail wird es im Dezember und im neuen Jahr zu einer neuen Reihe von Streiks kommen. Der Grund für das Scheitern ist, dass die Chef:innen entschlossen sind, Royal Mail in eine Gelegenheitsbelegschaft umzuwandeln und damit die gewerkschaftliche Vertretung auf betrieblicher Ebene zu brechen. Die Gewerkschaftsführer Dave Ward und Andy Furey boten fälschlicherweise an, für die Gespräche auf Streiks zu verzichten, und erklärten sich bereit, im Gegenzug für den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen und die Beibehaltung der morgendlichen Zustellung ein Lohnangebot von 9 Prozent über 18 Monate zu akzeptieren – eine reale Lohnkürzung. Die Geschäftsführung hat sie vor die Tür gesetzt.
Die CWU steht nun vor einem Kampf auf Leben und Tod, den nur ein Flächenstreik zusammen mit den zahlreichen anderen Beschäftigten, die Aktionen durchführen oder planen, gewinnen und somit das Überleben dieser öffentlichen Dienste und der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder sichern kann.
Am 15. Dezember traten die Krankenschwestern und -pfleger des britischen National Health Service (Nationaler Gesundheitsdienst), Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN) (Krankenpflegeschule), zum ersten Mal in ihrer 106-jährigen Geschichte in einen landesweiten Streik. Das RCN organisierte eine weitere Arbeitsniederlegung für den 20. Dezember und plant Folgeaktionen im neuen Jahr. Schätzungsweise 100.000 Krankenschwestern und -pfleger streikten in 76 Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Am 21. Dezember legten mehr als 10.000 Mitarbeiter des Rettungsdienstes die Arbeit nieder.
Die Gewerkschaft fordert 19 Prozent und weist darauf hin, dass erfahrene Krankenschwestern und -pfleger trotz der diesjährigen Gehaltserhöhung von 1.400 Pfund real um 20 Prozent schlechter gestellt sind, weil die Gehaltsanstiege seit 2010 wiederholt unter der Inflationsrate lagen. Die niedrige Bezahlung hat zu einem zunehmenden Personalmangel und einer unsicheren Versorgung der Patient:innen geführt.
Die Regierung hat ihnen 4,5 Prozent angeboten, was einen Rückgang der Reallöhne um 6 Prozent im kommenden Jahr bedeuten würde. Sie behauptet, der NHS-Haushalt könne sich eine solche Erhöhung nicht leisten, doch die Weigerung, einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, der ausreicht, um Ärzt:innen und Pflegepersonal anzuziehen und zu halten, bedeutet, dass riesige Summen für Leiharbeiter:innen ausgegeben werden. Krankenhäuser in England haben Ärzt:innen bis zu 5.200 Pfund pro Schicht gezahlt. Dies ist bestenfalls Misswirtschaft, aber in Wirklichkeit ist es Teil der heimlichen Übergabe des gesamten Gesundheitswesens an private Unternehmen und Agenturen.
Trotz der Tatsache, dass die Gewerkschaft eine umfassende Notfallversorgung eingerichtet und die Intensivstation sowie andere Abteilungen wie Chemotherapie und Dialyse ausgenommen hat, hat der Tory-Gesundheitsminister Steve Barclay den Streik als ernsthafte Gefahr für die Patient:innen bezeichnet. Die RCN-Führer:innen boten sogar an, die Streiks über Weihnachten und Neujahr auszusetzen, wenn die Regierung verhandeln würde – eine törichte Zurschaustellung von Schwäche, die die Regierung jedoch ablehnte.
Bisher hat sie sich hartnäckig geweigert, über die Gehälter zu sprechen, mit der Begründung, dass die „Belohnung“ (1.400 Pfund) von einem unabhängigen Gremium stammt, dessen Mitglieder von der Regierung handverlesen werden und nur zufällig das vorlegen, was sich das Gesundheitsministerium nach eigenen Angaben leisten kann. In der Zwischenzeit hat die Regionalregierung in Schottland einen Streik der Krankenschwestern und -pfleger gerade dadurch vermieden, dass sie Gespräche über die Gehälter geführt hat, obwohl die Gewerkschaft GMB, die das Hilfspersonal organisiert, ihr Angebot von 7,5 Prozent abgelehnt hat.
Umfragen im Vorfeld des Streiks ergaben, dass 52 Prozent der Öffentlichkeit die Aktion „stark“ unterstützen. Die Regierung wird natürlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um dies zu ändern, aber sie hat keinen guten Start erwischt, wie die rechtsgerichtete Daily Express mit der Schlagzeile „Gebt den Krankenpfleger:innen einen Vertrag und beendet diesen Wahnsinn“ zeigt. Die stets zuverlässig regierungstreue Daily Mail hingegen titelt: „Streikwoche hält Großbritannien in Geiselhaft!“
Unite-Mitglieder, die auf 59 Buslinien für das Busunternehmen Abellio im Süden und Westen Londons arbeiten, streiken im Dezember. In der Zwischenzeit haben mehr als 2.000 Busfahrer:innen der Metrolinie in London den Arbeitskampf abgebrochen, nachdem sie eine 11-prozentige Lohnerhöhung und eine 10-prozentige Lohnnachzahlung akzeptiert hatten. Ursprünglich war ihnen am 8. Dezember 2022 eine Erhöhung um 4 Prozent angeboten worden.
Tausende von Universitätsbeschäftigten, die der Gewerkschaft UCU angehören, streikten am 24., 25. und 30. November. Sie taten dies gemeinsam mit 4.000 Gewerkschaftsmitgliedern der National Education Union (Bildungsgewerkschaft NEU) an Oberstufenzentren. Am letztgenannten Tag nahmen sie gemeinsam mit Studierenden und anderen Gewerkschafter:innen an einer militanten Massenkundgebung vor dem Bahnhof King’s Cross teil, bevor sie sich auf einen Marsch ins Zentrum von London begaben. Es war der dritte Tag der Streiks von 70.000 Mitgliedern der Gewerkschaft UCU an Universitäten in ganz Großbritannien im Kampf um Renten, Löhne und Gehälter, Minderung von Arbeitsbelastung und Gleichberechtigung und gegen Prekarisierung.
Eine ganze Reihe von Gewerkschaften, darunter auch Teile von Unison und Unite, den beiden größten Gewerkschaften des Landes, rufen für das neue Jahr zu Urabstimmungen auf. In dem Maße, in dem sich die Streikpostenketten vervielfacht und andere Gewerkschaftsmitglieder, Student:innen und Aktivist:innen sich ihnen angeschlossen haben, in dem Maße, in dem die Demonstrationen und Kundgebungen größer geworden sind, wächst die Möglichkeit, dass alle getrennten Lohnkämpfe zusammengeführt werden. Obwohl die Gewerkschaftsführer:innen auf ihren Rednerbühnen die Parole „koordinieren und eskalieren“ ausgeben, haben sie wenig getan, um dies zu gewährleisten.
Die Kampagne „Enough is Enough“ (Genug ist Genug) und die Volksversammlung (People’s Assembly) schienen dies tun zu können. Aber ihre unerklärliche Rivalität und unnötige Doppelarbeit scheinen dieses frühe Versprechen zunichtegemacht zu haben, obwohl die Volksversammlung im Januar eine Konferenz abhalten wird. Die Gefahr besteht darin, dass die rivalisierenden Gewerkschaftsführungen und politischen Gruppierungen befürchten, die Kontrolle an demokratische Versammlungen von Delegierten aus lokalen und Basisorganisationen zu verlieren, die über alternative Vorgehensweisen entscheiden könnten. Kämpfer:innen aus den verschiedenen Konflikten, die sich an den Streikpostenketten treffen, können und müssen solide Verbindungen zueinander knüpfen. Sie müssen lokale Koordinierungsgremien an der Basis aufbauen.
Eine weitere dunkle Wolke zeichnet sich am Horizont ab: Premierminister Rishi Sunaks Drohung, ein weiteres gewerkschaftsfeindliches Gesetz durch das Parlament zu bringen, das das Streikrecht von Pflegepersonal, Postangestellten und Bahnbeschäftigten gleichermaßen aushebeln würde. Sobald dieses Gesetz vorgelegt wird, müssen wir eine massive Kampagne zur Verteidigung unserer Gewerkschaften starten. Diese muss darauf abzielen, direkte Aktionen, d. h. Streiks, zu mobilisieren, um den Gesetzentwurf zu Fall zu bringen, wie es unsere Großeltern in den 1970er Jahren getan haben. Ihr Ziel sollte es sein, nicht nur zu verhindern, dass uns diese neuen Ketten angelegt werden, sondern alle anderen, die bis in die Zeit von Thatcher, der ehemaligen Premierministerin, zurückreichen, zu durchbrechen.
All diese Themen – Bekämpfung der Inflation mit Lohnerhöhungen, die Punkt für Punkt mit ihrem Anstieg übereinstimmen; die „Arbeitgeber:innen“ dazu zu bringen, sie aus ihren gigantischen Gewinnen zu bezahlen; die Verteidigung und Wiederherstellung des staatlichen Gesundheitsdienstes; die Wiederverstaatlichung der Bahn und anderer Dienstleistungen und Versorgungsbetriebe sowie die Befreiung unserer Gewerkschaften von vierzig Jahren gewerkschaftsfeindlicher Gesetze – werden politische Massenstreiks erfordern. Um dies in die Wege zu leiten, nützt es nichts, auf die linken oder rechten Gewerkschaftsführer:innen zu warten. Wir müssen Aktionsräte mit Delegierten aus den Betrieben, den Gemeinden und der Jugend bilden. Wenn wir dies tun, können wir sowohl Sunak wie die mit ihm verfeindeten Tories ein für alle Mal von der Macht vertreiben.