Dave Stockton, Infomail 1193, 14. Juli 2022
Boris Johnson ist als Vorsitzender der Konservativen Partei zurückgetreten, aber noch nicht als Premierminister. Der raffinierte Drückeberger hat es geschafft, bis zum 5. September in der Downing Street Nr. 10 zu bleiben und sein Jahresgehalt von 164.080 Pfund zu beziehen. Die mehr als 50 Abgeordneten, die ihr Amt niedergelegt haben, haben ebenfalls Anspruch auf drei Monatsgehälter, was die Steuerzahler:innen rund 423.000 Pfund kostet, auch wenn einige von ihnen ihr Amt nur wenige Tage oder Wochen innehatten.
Der Daily Express und die Daily Mail sind außer sich vor Trauer und Wut über Boris, den Helden des Brexit. „Danke, Boris. Du hast Großbritannien seine Freiheit zurückgegeben“, jammert das eine; „Was zum Teufel haben sie getan?“, schreit das andere Zeitungsblatt.
Abgesehen von der Schadenfreude darüber, dass der/die dritte Tory-Chef:in Folge vor dem Amtssitz ans Rednerpult tritt, um den Rücktritt zu verkünden, gibt es für die Arbeiter:innenbewegung wenig zu feiern. Nach dem unbeholfenen Ed Miliband, nach Jeremy Corbyn – der von der Labour-Parlamentsfraktion sabotiert wurde – und nun mit dem langweiligen Keir Starmer besteht wenig Hoffnung auf eine sofortige Ersetzung Johnsons oder seines Nachfolgers „von uns“ – zumindest bei normalem Verlauf der Ereignisse.
Sicher, es war amüsant zu beobachten, was ein Abgeordneter der Konservativen Partei als eine Szene aus Shakespeares Julius Cäsar beschrieb, als über 50 Tory-Minister:innen ihre Dolche in Johnsons Rücken stießen. Er seinerseits, selbstgerecht wie immer, bestand nicht nur darauf, dass er nicht zurücktreten werde, sondern dass er plane, bis in die 2030er Jahre im Amt zu bleiben! Selbst als er seinen Rücktritt ankündigte, beschuldigte er die Westminster-„Herde“, ihn in den Abgrund getrieben zu haben – so wie sie ihn über den politischen Leichnam seiner Vorgängerin Theresa May an die Macht gebracht hatte.
Natürlich gibt es ernsthafte Probleme jenseits der „Partygate“-Skandale und seiner Lügen, dass Johnson nichts von dem Ruf seines stellvertretenden Parlamentarischen Geschäftsführer Chris Pincher als Sexualstraftäter wusste. Er war und ist ein dreister Lügner, der glaubt, dass Regeln und Vorschriften, ja sogar das Gesetz des Landes, für ihn nicht wirklich gelten.
Die Konservative Partei kannte seinen Ruf, als sie ihn zum Vorsitzenden wählte. Wie Trump in Amerika gezeigt hat, sind seine Fähigkeiten genau die, die ein moderner Demagoge braucht. Seine komödiantischen Fähigkeiten appellierten an die Vorurteile der reaktionären unteren Mittelschicht und der Tory-Wähler:innen aus der Arbeiter:innenklasse, die schon lange vor dem Einsturz roter Bastionen zur Wähler:innenbasis der Partei gehörten. Sie bewunderten seine Unverfrorenheit und seine offene Verachtung für die steifen und spießigen Konventionen des britischen politischen Lebens.
Johnsons Charakter als totaler Scharlatan war eine Empfehlung, als es darum ging, „den Brexit zu vollziehen“, ohne in irgendeiner Weise zu verraten, was das eigentlich bedeuten würde. Jetzt, wo sich dessen Auswirkungen zeigen, ist es angebracht, dass er abtritt und anderen überlässt, den Schlamassel zu beseitigen. In der Zwischenzeit ist der Brexit, was die Stabilisierung der Wirtschaftsbeziehungen mit der EU oder die Unterzeichnung von „goldenen“ Handelsabkommen mit den USA und China angeht, noch lange nicht „erledigt“ – er könnte sogar noch rückgängig gemacht werden.
Das Einzige, was „getan“ wurde, ist, dass das Vereinigte Königreich den zollfreien europäischen Binnenmarkt verlassen hat. Es wurde kein Handelsabkommen mit Brüssel oder einem anderen wichtigen Land oder einer anderen Wirtschaft geschlossen. Es besteht ein akuter Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Mit seinem Versuch, das von ihm selbst ausgehandelte Nordirland-Protokoll zu zerreißen, hat Johnson die Handelsvereinbarungen mit der US-Regierung Bidens zum Scheitern gebracht.
Jetzt, da die Inflation fast doppelt so hoch ist wie in den Nachbarländern, versprechen alle Tory-Kandidat:innen, die Steuern zu senken und gleichzeitig die Rüstungsausgaben zu erhöhen. Damit werden die Versprechen, in die heruntergekommenen Städte des Nordens zu investieren oder den staatlichen Gesundheitsdienst zu retten, ad absurdum geführt. Und „Anhebung des Niveaus“? Das hat sich wie alle anderen Versprechen erledigt. Natürlich steckt diese Regierung in einer Krise.
Die Konkurrent:innen um die Tory-Führung, die sich vor den betagten und reaktionären Parteimitgliedern aufführen, die am Ende zwischen zwei von ihnen wählen werden, sind sich einig, dass sie den Arbeiter:innen, die sie vor kurzem noch als Held:innen von Covid bejubelt haben, erhebliche Lohnkürzungen (z. B. Lohnabschlüsse unterhalb der Inflationsrate) aufzwingen wollen. Deshalb sollte jede Gewerkschaft eine Lohnforderung vorlegen, die die steigenden Lebenshaltungskosten vollständig ausgleicht und einen echten Anstieg der Kaufkraft nach 12 Jahren sinkender Einkommen und Tory-Kürzungen beim „Soziallohn“, im Gesundheits- und Bildungswesen, bei der Sozialhilfe, im öffentlichen Verkehr usw. vorsieht.
In der Zwischenzeit bieten die Tory-Kandidat:innen verschiedene Nuancen von Johnsons Politik an, die keine/r von ihnen wirklich ablehnte. Dazu gehören:
Wenn der/die neue Tory-Vorsitzende fleißiger und effizienter ist als der faule, selbstdarstellerische Johnson, wird es für uns umso schlimmer kommen … wenn wir sie nicht aufhalten.
Die Labour-Bewegung – Gewerkschafter:innen und Sozialist:innen – muss Johnson und seinem/r Nachfolger/in sofort einen Schlag versetzen:
Wir müssen eine Massenbewegung aufbauen, die in jedem Ort verwurzelt ist und sich mit jeder kämpfenden Gruppe von Arbeiter:innen solidarisiert. Wir brauchen lokale Aktionsräte, um diese Kämpfe zu koordinieren und auf Massenstreiks gegen jede reaktionäre Maßnahme und Politik (Lohnstopp, Sparmaßnahmen, gewerkschaftsfeindliche Gesetze) der „Arbeitgeber:innen“ und ihrer Tory-Regierung hinzuarbeiten.
Gleichzeitig sollten die Mitgliedsgewerkschaften angesichts der bevorstehenden Labour-Konferenz mit ihrer passiven Missbilligung brechen und offen ein Ende von Starmers Hexenjagd und Außerkraftsetzung politischer Beschlüsse fordern, die von der Konferenz zwischen 2016 und 2021 demokratisch gefällt wurden. Wir sollten diesen politischen Kurs als Sprungbrett für die weitere Entwicklung einer echten Alternative zu Johnsons reaktionärem/r Nachfolger:in nutzen: nicht nur als Politik für eine künftige Labour-Regierung, sondern als Aktionsprogramm, das den Abgang der Tories durch eine massive soziale Revolte beschleunigen kann.