Dave Stockton, Neue Internationale 266, Juli/August 2022
Der Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez bei den Wahlen zum Präsidenten und Vizepräsidentin in Kolumbien wurde auf den Straßen der Hauptstadt und anderer Städte mit Jubel begrüßt. Sie löste auch bei führenden Vertreter:innen des linken Flügels in ganz Lateinamerika Begeisterung aus. Der ehemalige brasilianische Präsident Lula da Silva erklärte, dass „ihr Sieg die Demokratie und die fortschrittlichen Kräfte in Lateinamerika stärkt“.
Der Erfolg des Pacto Historico (Historischer Pakt) ist in der Tat ein weiterer Sieg für das, was Kommentator:innen als neue Rosa Flut bezeichnen, und fügt sich in eine Liste ein, die nun Andrés Manuel López Obrador, „AMLO“, im Jahr 2018, Alberto Fernández in Argentinien im Jahr 2019, Luis Arce in Bolivien im Jahr 2020 und, in jüngerer Zeit, die Siege von Gabriel Boric in Chile und Pedro Castillo in Peru im Jahr 2021 umfasst. Dass nun auch Kolumbien hinzukommt, gilt als gutes Omen für einen Sieg Lulas bei den Wahlen in Brasilien im Oktober.
Doch weder in Kolumbien noch anderswo sind dies die radikalen Durchbrüche, die man sich im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts von Hugo Chávez oder Evo Morales und dem „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“ erhoffte.
Nichtsdestotrotz markiert er das Ende der langen Vorherrschaft der harten Rechten in Kolumbien, symbolisiert durch den ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, als Kolumbien die Basis für die Unterwanderung linker Regierungen in anderen Teilen des Kontinents war. Zu dieser Vorherrschaft gehörte auch ein fünfzigjähriger Krieg zwischen aufeinanderfolgenden Regierungen, die von brutalen rechten Paramilitärs unterstützt wurden, gegen die FARC- und ELN-Guerilla. Dieser endete jedoch 2016 mit dem unsicheren Friedensabkommen, das zwischen Präsident Juan Manuel Santos und der FARC in Havanna ausgehandelt wurde.
Der Linksruck ist Ergebnis der Massenaufstände von 2019 und 2021 gegen die verhasste Regierung von Iván Duque. Laut einer Umfrage des Instituts für Entwicklungs- und Friedensstudien wurden während des Paro Nacional (landesweiter Generalstreik) von 2021 mehr als 80 Menschen von Polizei und Militärs ermordet.
Infolge der Inflation ist der Lebensstandard von Millionen von Menschen stark gesunken. Nach offiziellen Angaben wies das Land mit 140.000 Todesfällen eine der höchsten COVID-Sterblichkeitsraten in der Region auf. Im gleichen Zeitraum wurden 3,6 Millionen Kolumbianer:innen in die Armut getrieben, und die Arbeitslosigkeit erreichte 2021 einen neuen Höchststand.
Der Pacto Historico, Petros linkspopulistisches Wahlbündnis, konnte sich an der gesamten Karibik- und Pazifikküste mit großer Mehrheit durchsetzen: Barranquilla (64,16 %), Cartagena (67,46), Cali (63,76) und Bogotá (58,59). Dennoch bleibt die kolumbianische Rechte extrem stark, nicht nur wegen der 48,0 % der Stimmen für ihren Kandidaten Rodolfo Hernández von der Bewegung LIGA (Liga de Gobernantes Anticorrupción; Liga für Regierende gegen Korruption), ehemaliges Mitglied der Partido Liberal (bis 2015), sondern auch wegen ihrer institutionellen Unterstützung in der Armee und der Polizei sowie der rechtsgerichteten Paramilitärs, die immer noch indigene Aktivist:innen ermorden.
Petro ist Gründer und Vorsitzender von Colombia Humana (Menschliches Kolumbien), einer Partei, die aus den Kommunalwahlen 2011 in Bogotá hervorging und sich auf eine große Zahl von Unterschriften stützte, um seine Kandidatur für das Bürgermeister:innenamt zu registrieren, die er auch gewann. Nach Beendigung seiner Amtszeit kandidierte er bei den Wahlen 2018 für das Amt des Präsidenten der Republik, wurde jedoch von der Wahlkommission abgelehnt. Die Partei war das Ziel von paramilitärischen Banden wie den Schwarzen Adlern, die allein im Jahr 2020 fast ein Dutzend ihrer Aktivist:innen ermordeten.
Einen weiteren wichtigen Faktor, der einen echten Wandel in Kolumbien verhindert, bildet der Einfluss, den die USA auf die repressiven Institutionen des Landes ausüben. Kolumbien ist seit den 1960er Jahren Ausgangspunkt für US-Interventionen in vielen südamerikanischen Ländern, darunter auch im benachbarten Venezuela unter Hugo Chávez und Nicolás Maduro. Am 20. Mai bezeichnete Joe Biden Kolumbien als „einen wichtigen Nicht-NATO-Verbündeten“ und versprach, die Streitkräfte des Landes weiterhin mit US-Mitteln zu unterstützen und mit ihnen im Sicherheitsbereich zusammenzuarbeiten. Zwei Tage nach seiner Wahl twitterte der designierte Präsident Petro: „Auf dem Weg zu einer intensiveren und normaleren diplomatischen Beziehung habe ich gerade ein sehr freundliches Gespräch mit US-Präsident Biden geführt“.
Petros Politik hat sich trotz seiner Mitgliedschaft in der Guerillagruppe M-19 in den 1980er Jahren längst zu einem respektablen Schwerpunkt auf Wahlen entwickelt. Wie andere „neue“ Führer:innen der Rosa Welle spricht er nicht mehr vom „Sozialismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts“, sondern von der Notwendigkeit einer echten kapitalistischen Entwicklung für Kolumbien. Er behauptet, sein Ziel sei nicht der Sozialismus, sondern die Überwindung der „vormodernen“, „feudalen“ und „sklavenhalterischen“ Überbleibsel. Dies ist keine neue Idee, sondern eine Version der alten Etappentheorie des Stalinismus. Der Pacto Historico beinhaltet auch eine weitere stalinistische Strategie, die „Volksfront“, d. h. Reformen, die mit Hilfe der fortschrittlichen Teile der Bourgeoisie durchgeführt werden sollen. In diesem Sinne hat er davon gesprochen, „technokratische“ Führer:innen zu wählen, um eine Wirtschaftspolitik zu gewährleisten, die die Zustimmung der internationalen Institutionen findet, womit eindeutig der Internationale Währungsfonds gemeint ist.
Dies verheißt nichts Gutes für politische Maßnahmen, wie das in seinem Wahlprogramm versprochene allgemeine kostenlose Gesundheitssystem, für das seine Massenbasis gestimmt hat. Ein zusätzlicher Hemmschuh für die Sozialpolitik des neuen Regimes ist die Tatsache, dass Petro und Márquez über keine funktionierende Mehrheit in der Legislative verfügen werden. Auch hier macht er der rechten Mitte Avancen, indem er behauptet, er wolle „alle Kolumbianer:innen“ vertreten, begleitet von seiner typisch kränklich-sentimentalen Rhetorik über „Liebe für alle, Reiche und Arme“.
Während des Wahlkampfs bot Petro politische Allianzen mit verschiedenen etablierten bürgerlichen Persönlichkeiten an und präsentierte sich ihnen als jemand, der tatsächlich aus der Mitte heraus regieren würde. Er überließ es der schwarzen Aktivistin Francia Márquez, der Tochter eines Bergarbeiters aus einer der am stärksten marginalisierten Zonen des Landes, die Unterstützung von Arbeiter:innen, Bauern, Bäuerinnen und indigenen Basis- und sozialen Bewegungen aufzubauen.
Nach dem Höhepunkt der Mobilisierungen im April/Mai 2021 hat die Führung des Nationalen Komitees, das sich aus Arbeiter:innen-, Bauer:innen- und Student:innengewerkschaften zusammensetzte, die beiden landesweiten Streiks vom revolutionären Sturz der Regierung Duque, geschweige denn von einem Angriff auf den korrupten und mörderischen kolumbianischen Kapitalismus weggeführt und auf ein Wahlziel, die Kandidatur von Petro, ausgerichtet. Zahlreiche junge Aktivist:innen dieser Bewegung sitzen immer noch im Gefängnis, und Petro hat noch nicht auf die Forderungen nach ihrer Freilassung reagiert und bezeichnete die Demonstrant:innen sogar als „Krawallmacher:innen“.
Gleichzeitig verkündet er seinen Wunsch nach „Liebe zwischen allen Kolumbianer:innen“, sowohl den Reichen als auch den Armen. Das kann nichts anderes bedeuten als Klassenkollaboration zwischen den Ausbeuter:innen und Unterdrücker:innen und ihren Opfern. Eine nach dem Friedensabkommen mit der FARC eingesetzte Versöhnungskommission soll einen Bericht vorlegen. Doch wie für ihr Vorbild in Südafrika wird dies wahrscheinlich ein Mittel sein, um die von staatlichen und rechten Banden unter Uribe und früheren Präsidenten begangenen Verbrechen straffrei zu stellen.
Es ist sicher, dass Petro und Márquez in den kommenden Jahren oder sogar Monaten ihre Anhänger:innen enttäuschen und entfremden werden, wie die übrigen Vertreter:innen der Rosa Welle auf dem ganzen Kontinent. Zum zweiten Mal wird der Linkspopulismus zeigen, dass seine Politik der Klassenkollaboration, die auf der „Vermenschlichung“ des Kapitalismus beruht, einfach nicht funktionieren wird. Im Moment reden die Unternehmer:innen davon, Petro willkommen zu heißen und mit ihm zusammenzuarbeiten, aber in einer Zeit der wachsenden Wirtschaftskrise werden diese Kapitalist:innen, in- und ausländische, alles Positive, das die Regierung versucht, sabotieren. Ebenso wird der IWF die Regierung mit harten Bedingungen für etwaige Rettungspakete in die Schranken weisen. Daraufhin wird Petro ein Zugeständnis nach dem anderen machen und damit seine eigenen Anhänger:innen demoralisieren. Die einzige Antwort für die Arbeiter:innenklasse, Bauern, Bäuerinnen und indigene Bevölkerung in den Städten und auf dem Land ist die Wiederaufnahme der Mobilisierungen, der landesweiten Streiks, mit denen ein Programm radikaler Lösungen für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Krise auf Kosten der Banker:innen, Geschäftsleute und Landbesitzer:innen gefordert wird.
Die Ausschüsse und Volksversammlungen, die die landesweiten Streiks mobilisiert haben, müssen wiederbelebt werden und zu unabhängigen Organisator:innen der Kämpfe geraten, um Petro und Márquez zu zwingen, ihre radikaleren Versprechen zu erfüllen. Sie müssen auch unabhängig sein von Colombia Humana, der Regierung und der Gewerkschaftsbürokratie, die mit ihnen zusammenarbeitet. Diese Unabhängigkeit muss in Form einer revolutionären Arbeiter:innenpartei politisch werden. Die o. a. Basisorganisationen müssen auch in der Lage sein, sich zu verteidigen und gegen die Sabotage der Bosse und die fortgesetzte Unterdrückung durch die Mörder:innenbanden zu wehren. Das bedeutet den Aufbau von Verteidigungsgruppen.
Die Massen haben gezeigt, dass sie in der Lage sind, es mit den eingeschworenen Organen der Rechten aufzunehmen. Jetzt müssen die Arbeiter:innenklasse und alle anderen Kräfte des Volkes, die bäuerlichen und indigenen Gemeinschaften, Frauen und Jugend, für einen wirklich revolutionären sozialen Wandel in Kolumbien mobilisieren. Dies wird zwar ein harter und gefährlicher Kampf sein, aber es ist der einzige Weg, der den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen gerecht wird.