Arbeiter:innenmacht

Die Kriegsziele des westlichen Imperialismus in der Ukraine

Dave Stockton, Infomail 1191, 16. Juni

Die Weltlage im Jahr 2022 ist durch mehrere Krisen gekennzeichnet – die unmittelbarste und in ihren globalen Folgen weitreichendste ist der Krieg in der Ukraine, der die Aufrüstung, die Ausweitung der NATO, des weltweit größten kriegführenden Bündnisses, und damit die globale Hegemonie der USA massiv vorangetrieben hat, gepaart mit einer globalen Nahrungsmittelkrise.

Zu diesen Faktoren, die die globalisierte Weltwirtschaft destabilisieren und fragmentieren, kommen noch die Schließungen und Unterbrechungen der internationalen Lieferketten infolge der Covid-Pandemie in den letzten zwei Jahren sowie das Versagen von COP26, des Klimagipfels in Glasgow, etwas gegen die drohende Klimakatastrophe zu unternehmen, das sich in der zunehmenden Serie von Dürren, Überschwemmungen und Waldbränden manifestiert.

Jede dieser Krisen hat ihre Wurzeln im kapitalistischen Profitsystem und im Wirtschaftskrieg zwischen den Großmächten, der sich in Sanktionsregimen und Blockaden ausdrückt. Diese Faktoren sowie die zerstörerischen regionalen Kriege in Syrien, im Jemen, am Horn von Afrika und jetzt in der Ukraine sind alle Ausdruck der höchsten Stufe des Kapitalismus – des Imperialismus.

Die Erweiterung der NATO

In den Jahren 1989 – 1991 hätte man meinen können, dass mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und der Wiedervereinigung Deutschlands die Aufgabe der Nordatlantischen Paktorganisation NATO, wie sie von ihren Gründer:innen definiert wurde, abgeschlossen sei. In der Tat stellte Russland in den folgenden 10 Jahren – nach einem massiven Rückgang seines Bruttoinlandsproduktes und dem Ausscheiden der drei baltischen Staaten, der Ukraine und Georgiens – trotz seiner Kriege in Tschetschenien kaum eine Bedrohung für die NATO-Staaten dar.

Unter US-amerikanischem Druck wuchs das Bündnis jedoch weiter und nahm Polen, die Tschechische Republik und Ungarn auf, während Boris Jelzins und später Wladimir Putins Vorschläge, auch Russland beitreten zu lassen oder das Bündnis durch einen gesamteuropäischen Sicherheitsvertrag zu ersetzen, abgelehnt wurden.

Die Interventionen der NATO auf dem Balkan und ihre spätere Beteiligung an Amerikas Kriegen im Nahen Osten zeigten, dass sie weit davon entfernt war, ein defensives oder friedliches Bündnis darzustellen. In der Zwischenzeit erholte sich Russland dank der steigenden Öl- und Gaspreise von seiner Demütigung und begann, sein „Recht“, als „Großmacht“ behandelt zu werden, wieder geltend zu machen und diese Macht im Nahen Osten zu demonstrieren.

Prorussische und sogar neutrale Regime wurden von den so genannten „farbigen Revolutionen“ in Georgien (2003) und der Ukraine (2004) getroffen. Diese hatten zwar echte innenpolitische Ursachen in der Unzufriedenheit mit den oligarchischen Regimen, aber US-Diplomat:innen und „Nichtregierungsorganisationen“ spielten eine offensichtliche Rolle. Diese Putsche zeigten die Gefahr eines ähnlichen Schicksals für Putins zunehmend autoritäres bonapartistisches Regime auf, insbesondere als der Boom der Öl- und Gaspreise mit der Rezession zu Ende ging.

Russischer Imperialismus

Angesichts der wiederholten Weigerung der USA, das kapitalistische Russland mit demselben Respekt zu behandeln wie die Sowjetunion, obwohl es den USA und ihren Verbündeten bei der Besetzung Afghanistans im Jahr 2001 logistisch geholfen hatte, versuchte Wladimir Putin ab 2008, sein Prestige mit Nachdruck wiederherzustellen.

Russland ist mit seiner herrschenden Klasse von milliardenschweren Oligarch:innen, die sich auf einen Rentierkapitalismus stützen, sowie mit der von der Sowjetunion geerbten und von Putin entwickelten Raumfahrt-, Nuklear- und Waffentechnologieindustrie wirtschaftlich in den imperialistischen Club aufgestiegen. Putins Regime beschnitt die unabhängige Macht der Oligarch:innen und stellte die staatliche Kontrolle über strategische Industrien wieder her.

Im Jahr 2008 reagierte Putin auf die prowestliche Ausrichtung Georgiens mit einem kurzen, aber entschiedenen Einmarsch in die autonomen Regionen Abchasien und Südossetien. Dies bildete das Muster für seine Interventionen im Jahr 2014, als der prorussische ukrainische Präsident Janukowytsch durch den Maidan-Putsch gestürzt wurde, was die Einnahme der Krim und das Eingreifen russischer Streitkräfte zur Unterstützung der Separatist:innen in den Gebieten Luhansk und Donezk zur Folge hatte.

Die Invasion der Ukraine

Beim Maidan-Putsch von Dezember 2013 bis Februar 2014 wurde der gewählte prorussische Präsident Wiktor Janukowytsch von einer Allianz aus ukrainischen Neoliberalen, rechtsextremen Nationalist:innen und Faschist:innen mit Hilfe von US-Diplomat:innen und Nichtregierungsorganisationen gestürzt. Auf diese Weise wurde die Ukraine aus der Umlaufbahn Putins in die der NATO gebracht und zu einer Halbkolonie des Westens, die unter wirtschaftlicher Kontrolle des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union steht und Waffen und Ausbildung durch die NATO erhält.

Als Reaktion darauf beschlagnahmte Putin die Krim mit ihrem riesigen Marinestützpunkt und unterstützte – zunächst etwas widerwillig – eine De-facto-Abtrennung von Teilen von Luhansk und Donezk, die von den nationalistischen Maßnahmen des neuen Regimes in Kiew und den von Faschist:innen begangenen Gräueltaten entfremdet waren.

Die russische Invasion am 24. Februar dieses Jahres hat die Situation noch verschärft. Die Gräueltaten, die wir in Falludscha und Aleppo gesehen haben, sehen wir jetzt in Butscha, einem Vorort von Kiew, und die Verwüstung von Mariupol als Ergebnis eines dreimonatigen erbarmungslosen Bombardements, bei dem 95 Prozent der Stadt zerstört wurden und Tausende ums Leben kamen. Dies wiederholt sich nun in anderen Städten in den östlichen Provinzen Luhansk und Donezk.

Die Flucht von fünf Millionen Flüchtlingen über die Westgrenzen der Ukraine und die Vertreibung von über sieben Millionen Menschen innerhalb des Landes zeigen das Ausmaß der Zerstörung. Dies ist der Krieg einer imperialistischen Macht, die die Souveränität einer Nation verletzt, die nach Ansicht des russischen Diktators kein Recht hat zu existieren.

Auch wenn Putin und sein Regime die unmittelbaren Aggressor:innen sind, so haben doch die Handlungen der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und insbesondere seit 2013 diesen Krieg ebenfalls provoziert. Zusätzlich zu den Übergriffen der NATO auf Osteuropa haben die USA und andere westliche Länder die Ukraine seit 2014 mit Raketensystemen und kleinen Drohnen bewaffnet, die in der Lage sind, russische Panzer auszuschalten, sowie mit Boden-Luft-Raketen, um russische Flugzeuge abzuschießen, und ihre Streitkräfte für eine asymmetrische Kriegsführung umgeschult.

Allein die USA haben der Ukraine in diesem Zeitraum mehr als 2,5 Mrd. US-Dollar an Militärhilfe zur Verfügung gestellt und seit Februar weitere 3 Mrd. an Rüstungsgütern, darunter 1.400 Stinger-Flugabwehrraketen und 5.100 Javelin-Panzerabwehrraketen sowie Mi-17-Hubschrauber, Patrouillenboote, Langstreckenartillerie, Radarsysteme zur Drohnenabwehr und Küstenschutzschiffe. Am 19. Mai brachte Präsident Biden einen Gesetzentwurf ein, der der Ukraine weitere 40 Mrd. US-Dollar an Unterstützung verspricht.

Washingtons Ziel ist es nicht nur, Russland strategisch zu schwächen, sondern auch seine Vorherrschaft über die eigenen Verbündeten, wie Deutschland und Frankreich in Europa, und die untergeordneten Länder in der ganzen Welt zu behaupten. Der Beweis, dass sich niemand mit den USA anlegt und ungeschoren davonkommt, ist eine Lektion, die sich vor allem an den strategischen Rivalen China unter Xi Jinping richtet.

Der neue Kalte Krieg

Teil dieser Strategie ist die Rückkehr zur Politik des Kalten Krieges gegenüber Russland, die in der beispiellos harten Sanktionsblockade gegen dieses Land zum Ausdruck kommt. Als Reaktion darauf hat es die ukrainischen Getreideexporte über Odessa blockiert, was zu einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit geführt hat. Russland hat eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug für die Aufhebung der Blockade gefordert. Unterdessen drohen die NATO-Länder unter Führung Großbritanniens mit der Entsendung von Kriegsschiffen, um den Hafen zu öffnen, wobei es zu einem direkten Zusammenstoß mit der russischen Marine kommen könnte.

Die US-Strategie besteht in der Ausweitung der NATO auf ganz Skandinavien, kombiniert mit dem Aufbau eines NATO-Äquivalents im asiatisch-pazifischen Raum, einer von den USA dominierten Allianz für die Konfrontation mit China. Sie versuchen, den „unaufhaltsamen Aufstieg“ Chinas zu verhindern, den sie in den 1990er Jahren und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts unterstützt haben. Doch als China, das den Kapitalismus wiederhergestellt hat, wenn auch unter einer vermeintlich kommunistischen Partei, sich zu einer eigenständigen imperialistischen „Großmacht“ entwickelte, drohte dies, ein „zweites amerikanisches Jahrhundert“ zu beenden.

Aus diesem Grund haben die USA unter Barack Obama und Hillary Clinton eine „Hinwendung zu Asien“ angekündigt. Dies wurde durch Trumps chaotische Präsidentschaft etwas unterbrochen, aber Joe Biden hat die Strategie seines  Vorgängers von der Demokratischen Partei noch einmal aufgegriffen. Zusammen mit Australien und dem Vereinigten Königreich hat er AUKUS gegründet, einen Pakt zur Lieferung von Atom-U-Booten an Australien.

Biden ist auch dabei, die so genannte Quad (den vierseitigen Sicherheitsdialog) – Australien, Japan, Indien und die USA – sowie den Indo-Pazifischen Wirtschaftsrahmen aufzuwerten. Washington bemüht sich intensiv darum, Indien enger in sein System einzubinden, obwohl Premierminister Narendra Modi sich weigert, sich den Sanktionen gegen Russland, einem wichtigen Waffenlieferanten Indiens, anzuschließen. Bidens Versprechen, Taiwan im Falle eines Angriffs durch China militärisch zu verteidigen, basiert auf diesem neuen Militärbündnis, das gerade im Entstehen ist.

Deutschland, das sich lange Zeit dem Druck der USA widersetzte, seine Verteidigungsausgaben auf das NATO-Niveau von 2 % zu erhöhen, das sich zunächst weigerte, das Nord-Stream-2-Pipeline-Abkommen aufzugeben, und weiterhin auf russische Gas- und Öllieferungen angewiesen ist, sieht sich nun gezwungen, seine Militärausgaben massiv zu erhöhen und sich um Treibstofflieferungen aus Quellen in oder nahe den USA und ihren Verbündeten im Nahen Osten zu bemühen.

All dies wurde unter dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz erreicht, dessen Partei lange Zeit die Fortsetzung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland als Teil einer größeren Autonomie der EU gegenüber Washington verteidigt hat, ein Ziel, das Frankreich noch unverblümter verfolgt. Diese Politik liegt nun in Trümmern, ebenso wie die jahrhundertelange Neutralität Finnlands und Schwedens.

Das Ziel der USA und ihrer Verbündeten bildet nicht die Befreiung der Ukraine oder der Schutz der Demokratie in Taiwan, sondern Putin und Xi Jinping davon abzuhalten, Amerika und seine untergeordneten Verbündeten und Halbkolonien in der ganzen Welt in Schwierigkeiten zu bringen.

Krieg und Revolution

Die Schrecken und das Elend, die durch Putins Invasion verursacht wurden, und das wirtschaftliche Chaos, das durch die Antwort der NATO droht, werfen die Frage auf, wie ein solcher Krieg beendet werden kann. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hat verschiedentlich angedeutet, dass ein Waffenstillstand und sogar eine Friedensregelung möglich sein könnten, einschließlich des Verzichts des Landes auf einen NATO-Beitritt im Gegenzug zu einer gesamteuropäischen Verteidigungsregelung, aber Sprecher:innen der USA sowie der Druck von ukrainischen Rechtsnationalist:innen und Faschist:innen schlossen dies schnell aus.

Sicher ist, dass keiner der Kombattanten, ob Putin, Selenskyj, Biden, Johnson oder die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen der EU, diesen Krieg auf eine Weise lösen wird, die eine stabile und dauerhafte Regelung für die Völker in der Region gewährleistet. Auf keine/n von ihnen ist Verlass, wenn es darum geht, eine demokratische und dauerhafte Lösung zu suchen oder anzubieten.

Seit über einem Jahrzehnt sind wir in eine neue Periode der innerimperialistischen Rivalität eingetreten, des Afghanistan- und Irakkrieges sowie der anderen Interventionen im Kampf gegen den Terror.

Außerdem endete die Boomphase der Globalisierung mit dem Einbruch von 2008. Die Senkung der Zinssätze auf nahezu null in den 2010er Jahren, um den Aufschwung zu fördern, führte nicht zu einer Rückkehr zu ernsthaftem Wachstum. Jetzt heizen selbst vorsichtige Erhöhungen der Zentralbankzinsen eine Inflation ohne Wirtschaftswachstum (Stagflation) an. Der Krieg und die Sanktionen könnten durchaus eine ausgewachsene Rezession auslösen.

Die Politik der Arbeiter:innenbewegungen aller Länder gegenüber dem aktuellen Konflikt sollte derjenigen entsprechen, die revolutionäre Sozialist:innen wie Karl Liebknecht und Lenin während des Ersten Weltkriegs verfolgten: Der Hauptfeind steht im eigenen Land! In den westlichen Ländern müssen wir uns gegen alle weiteren militärischen Interventionen und den Anspruch des Westens wenden, eine gerechtere oder demokratischere Version des Kapitalismus zu vertreten, im Gegensatz zu den autoritären Regimen von Putin oder Xi. Die jahrhundertelange globale Unterdrückung durch unsere eigenen kapitalistischen Oberherr:innen, die sich bis in die Gegenwart erstreckt, entlarvt solche Behauptungen als völlig haltlos.

Heute kämpfen wir für den Abzug aller russischen Streitkräfte aus der Ukraine, die Beendigung des G7-Sanktionsregimes und der russischen Blockade der ukrainischen Häfen, die Auflösung sowohl der NATO als auch der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) und dafür, den Krieg in der Ukraine in eine Revolution gegen die Herrscher:innen beider Länder zu verwandeln und den Weg zu den sozialistischen Vereinigten Staaten von Europa zu öffnen.

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