Arbeiter:innenmacht

Schweden-Finnland: NATO-Beitritt – Ende der nordischen „Neutralität“?

Interview mit Svante Persson (Arbetarmakt, Schweden), Neue Internationale 265, Juni 2022

Der russische Einmarsch in der Ukraine hat in Westeuropa zu einer Flut prowestlicher imperialistischer Propaganda geführt. Die Kriegstreiberei und gesteigerte Aggression zwischen den imperialistischen Blöcken haben den herrschenden Klassen hier die Möglichkeit gegeben, die Gewichte zugunsten des US-Imperialismus und der Aufrüstung zu verschieben, wobei eine wichtige Verschiebung darin besteht, dass Schweden und Finnland rasch die Mitgliedschaft in der NATO beantragen. Wie kam es dazu, und wie sieht der Widerstand aus? Arbetarmakt, die schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, veranstaltete kürzlich eine öffentliche Veranstaltung mit dem Titel „Nein zum Imperialismus, nein zur NATO!“ Nach der Versammlung sprachen wir mit einem Genossen von Arbetarmakt über die dortigen Entwicklungen.

GAM: Schweden und Finnland sind seit Jahrzehnten kein Mitglied der NATO. Warum ist das so?

AM: Die Idee der Neutralität in internationalen Konflikten und in Bezug auf Machtblöcke ist seit Jahrzehnten fester Bestandteil des schwedischen (und finnischen) Selbstverständnisses. Während die geopolitische Situation in Finnland im 20. Jahrhundert aufgrund der gemeinsamen Grenze mit der Sowjetunion eine ganz andere war, bestand die Strategie des schwedischen Imperialismus darin, öffentlich zwischen dem US-amerikanischen und dem stalinistischen Block zu navigieren, mit dem Vorteil, in Bezug auf internationalen Handel und Einfluss nicht an einen der beiden Blöcke gebunden zu sein, während man in Wirklichkeit hinter verschlossenen Türen ganz klar auf der Seite des US-Imperialismus stand. In den 1960er und 1970er Jahren wandelte sich die pragmatische Position der schwedischen Sozialdemokratie unter dem Einfluss des zunehmenden Jugend- und Arbeiter:innenradikalismus, insbesondere in der Opposition gegen den Vietnamkrieg, zu einer offeneren Haltung gegen die NATO und die imperiale Aggression der USA. Wie Historiker:innen der öffentlichen Politik hervorgehoben haben, bedeutete dies in den meisten Fällen, dass das Wissen um das wahre Ausmaß der schwedischen Zusammenarbeit mit der US-Militärplanung auf einen kleinen Kreis beschränkt blieb, selbst innerhalb der absoluten Führung der Regierung.

GAM: Warum und wie wurde die Position der formalen Neutralität aufgegeben?

AM: Obwohl die vermeintliche schwedische „Neutralität“ größtenteils eine Täuschung war und zunehmend als solche entlarvt wurde, hielt sich die Vorstellung von Schweden als neutralem Land, ja sogar als „humanitärer Supermacht“, in den Köpfen der sozialdemokratischen Wähler :innen und breiterer Schichten der Arbeiter:innenklasse bis weit in unsere Zeit hinein. Dies galt selbst dann noch, als konkurrierende Regierungen in den 1990er Jahren Schweden langsam aber sicher offener in das westliche Bündnis einbanden. Einige Eckpfeiler der Aushöhlung der formellen schwedischen Neutralität waren die Mitgliedschaft in der Partnerschaft für den Frieden (1994), die EU-Mitgliedschaft (1995) und vor allem die 2016 vom Parlament verabschiedete Absichtserklärung (Memorandum des Verständnisses), mit der der Weg für die Annahme von NATO-Unterstützung im Krisenfall geebnet und NATO-Truppen die Durchführung von Übungen auf schwedischem Hoheitsgebiet gestattet wurde. Erwähnenswert ist auch die schwedische Beteiligung an früheren NATO-geführten Interventionen in Afghanistan, im Kosovo und im Irak. In der Öffentlichkeit und gegenüber den Wähler:innen wurde dies alles mit einer Rhetorik über „200 Jahre Frieden“ gepaart (was offensichtlich die direkte schwedische Beteiligung an imperialistischen Kriegen im Ausland und/oder den Gewinn daraus ausschließt) und darüber, wie „die Neutralität Schweden gut gedient hat“.

In Schweden haben sich offen bürgerliche Parteien im Parlament für eine NATO-Mitgliedschaft ausgesprochen, während die Sozialdemokratische Partei, die Linkspartei und die Grünen dagegen waren. Bemerkenswert ist, dass die rassistischen Schwedendemokrat:innen, die seit 2010 im Parlament vertreten sind, ursprünglich ebenfalls gegen die NATO (und die EU) waren und eine eher isolationistische Linie vertraten. Dies bedeutete, dass die formale militärische Neutralität über eine solide Mehrheit im Parlament verfügte, auch wenn sie stark ausgehöhlt wurde. Noch auf dem sozialdemokratischen Kongress im November letzten Jahres erklärte Verteidigungsminister Peter Hultqvist: „Es wird keinen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft geben, solange wir eine sozialdemokratische Regierung haben. Solange ich Verteidigungsminister bin, werde ich mich definitiv nicht an einem solchen Prozess beteiligen. Das kann ich garantieren.“

Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine änderte sich dieser Standpunkt natürlich schnell. Mit einer noch nie dagewesenen Pro-NATO-Offensive in den bürgerlichen Medien wurde die Diskussion in Schweden schnell auf die Frage gelenkt, wann und nicht ob das Land der NATO beitreten sollte. Die Sozialdemokrat:innen waren anfangs zurückhaltend und argumentierten nicht, dass eine NATO-Mitgliedschaft an sich schlecht, sondern jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei, um die schwedische Verteidigungsdoktrin zu ändern, und man damit bereits auf einem schmalen Grat wandle. Als Finnland seinen NATO-Beitrittsprozess einleitete, hielten es die schwedischen Sozialdemokrat:innen für angebracht, sich ruhig zu verhalten und den Finn:innen den Vortritt zu lassen. Kurz gesagt, die schwedische Sozialdemokratische Partei war angesichts der bevorstehenden Wahlen im September 2022 darauf bedacht, dass dieses Thema in der Versenkung verschwindet. Sie wollte lieber die letzten Reste der „Neutralität“ loswerden, als die Wahl in der NATO-Frage zu verlieren oder – schlimmer noch – das Thema in einer Wahlperiode mit den verbliebenen Abweichler:innen in der eigenen Partei oder Wähler:innenschaft ausfechten zu müssen. Als der Krieg begann, ließen auch die Schwedendemokrat:innen ihren Widerstand gegen die NATO-Mitgliedschaft schnell fallen und zeigten damit, dass ihre angebliche „NATO-Opposition“ wenig mit Antiimperialismus zu tun hatte. Damit war der Weg für einen Beitrittsantrag frei.

Erstaunlicherweise wurde diese rasche Kehrtwende, die eine jahrzehntelange schwedische Militärpolitik auf den Kopf stellte, vollzogen, ohne dass die Wähler:innen oder gar die organisierte Arbeiter:innenklasse nach ihrer Meinung gefragt wurden. Im September hatte eine klare Mehrheit für Parteien gestimmt, die die NATO-Mitgliedschaft ablehnen. Nun hat sich innerhalb weniger Wochen alles geändert. Und selbst innerhalb der Sozialdemokratischen Partei wurde kein außerordentlicher Kongress einberufen. Die Mitglieder wurden nicht einmal befragt. Die Entscheidung, die in klarem Widerspruch zu dem steht, was nur Monate zuvor auf dem Parteitag beschlossen worden war, wurde auf der obersten Ebene der Partei getroffen, ohne jeden Anschein von interner Demokratie – selbst als die einflussreichen Parteiorganisationen der Frauen, der Jugend, der Student:Innen und der religiösen Sozialdemokrat:innen ihren Widerstand dagegen öffentlich machten.

GAM: Wie sieht es mit der Opposition aus?

AM: In Schweden blieben die Grünen und die Linkspartei nach der Wende der Sozialdemokratischen Partei formell gegen die NATO. In Ermangelung einer klaren antiimperialistischen Linie – die Schweden auch als imperialistisches Land analysiert, ob es nun der NATO angehört oder nicht – gaben die beiden Parteien jedoch schnell dem Druck nach und entschieden sich stattdessen dafür, ihre traditionelle, vermeintliche Opposition zum Militarismus zu revidieren. Als die sozialdemokratische Regierung im März ankündigte, dass die Militärausgaben auf 2 % des schwedischen Bruttoinlandsprodukts angehoben werden sollten, unterstützten die Grünen und die Linkspartei dies sofort und behaupteten, dass diese enormen Zuwendungen an die Kriegsindustrie notwendig seien, um die „Neutralität zu verteidigen“ – ohne zu erwähnen, dass diese Ausgabenerhöhung zufällig auch eine Bedingung für die NATO-Mitgliedschaft darstellt.

Die Vorsitzende der Linkspartei, „Nooshi“ (Mehrmoosh) Dadgostar, hat zu einem Referendum aufgerufen, es aber als eine Möglichkeit bezeichnet, der NATO-Mitgliedschaft eine demokratische Form zu verleihen, und nicht als Weg, sich ihr ernsthaft zu widersetzen. Und das ist natürlich alles, was ein unter diesen Umständen abgehaltenes Referendum wirklich wäre – ein Stempel der Zustimmung. Neben der Unterstützung der Wiederaufrüstung (die sofort den Aktienkurs und die Gewinne des schwedischen Rüstungsunternehmens SAAB in die Höhe trieb) hat Dadgostar erklärt, dass die im Parteiprogramm verankerte Forderung der Linkspartei, „die NATO aufzulösen“, etwas sei, „das in eine andere Zeit gehört“, und ist sogar von der Ablehnung der bereits bestehenden Kooperationsabkommen mit der NATO abgerückt.

Da ein großer Teil der radikalen Linken in Schweden in den letzten zehn Jahren in der Linkspartei aufgegangen ist, bleibt nur ein begrenzter Raum für eine tatsächliche Opposition gegen die NATO, die sich bisher hauptsächlich auf Proteste und Demonstrationen auf der Straße beschränkte. Am 1. Mai plädierte das Arbetarmakt-Kontingent bei den Demonstrationen in Stockholm für den „revolutionären Kampf gegen den Imperialismus – Nein zur NATO“, ein Transparent, das viel Aufmerksamkeit erregte.

Auch in Finnland hat das Linksbündnis kürzlich seine frühere Position geändert, die Neutralität zur Bedingung für die Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung zu machen, und die Partei ist nun gespalten in der Frage, ob sie weiterhin gegen die NATO sein soll. Die Parteivorsitzende Li Sigrid Andersson hat erklärt, dass das imperialistische EU-Projekt eine brauchbare Alternative zur NATO sein könnte.

Mit den anhaltenden Protesten in Schweden hat sich die Aufmerksamkeit nun auf die Türkei verlagert, die derzeit die schwedische und finnische Mitgliedschaft im Militärbündnis blockiert, solange die sozialdemokratische Regierung nicht den Forderungen Erdoğans nachkommt, jegliche Unterstützung für die kurdische YPG einzustellen, die Waffenexporte in die Türkei wieder in vollem Umfang aufzunehmen und – in bizarrer Weise – in Schweden lebende türkische Oppositionelle an die Türkei auszuliefern. Dies ist ein erster Vorgeschmack auf das Leben im autoritären, imperialistischen NATO-Bündnis, und es ist wichtig, Druck auf die schwedische Regierung auszuüben, damit sie alle derartigen Forderungen zurückweist, wie es kurdische und schwedische Demonstrant:innen am vergangenen Wochenende bei einem Protest vor dem Hauptquartier der Sozialdemokratischen Partei in Stockholm gefordert haben. Weitere wichtige Themen sind die Ablehnung von NATO-Stützpunkten in Schweden sowie der Druck auf die Regierung, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten, den Schweden initiiert hat, aus dem es dann aber unter dem Druck der USA unglaublicher Weise ausgestiegen ist.

Für Arbetarmakt gibt es keine Notwendigkeit, zwischen der Aufrüstung für die NATO oder für den schwedischen „neutralen“ Imperialismus zu wählen. Wir stehen mit Stolz in der sozialistischen Tradition von Liebknechts „keinen Mensch, keinen Pfennig für dieses System“. Auch wenn der NATO-Antrag eingereicht wurde, ist die Angelegenheit noch lange nicht erledigt. Als Internationalist:innen werden wir unseren Teil dazu beitragen, die Frage des Widerstandes gegen alle imperialistischen Blöcke zu stellen – bis zur Wahlperiode und darüber hinaus. Wenn Leser:innen der Neuen Internationale mehr über diesen Kampf wissen wollen, können sie sich gerne an uns wenden oder unsere Website besuchen.

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