Arbeiter:innenmacht

Frankreich nach Macrons Sieg: Kein Grund zur Klassenkollaboration!

Cancillería del Ecuador from Ecuador, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons

Dave Stockton, Infomail 1190, 31. Mai 2022

In der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen ist Emmanuel Macron für eine zweite Amtszeit in den Élysée-Palast zurückgekehrt. Er besiegte Marine Le Pen mit 58,55 % zu 41,45 % und damit mit einem größeren Vorsprung als von vielen erwartet. Dennoch erzielte Le Pen mit mehr als 13 Millionen Stimmen ein Rekordergebnis für die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung), die frühere Front National (FN; Nationale Front).

Macrons Sieg wurde von den Regierungen in der gesamten Europäischen Union und darüber hinaus mit Erleichterung aufgenommen. Bis zu ihrer Imagekampagne sprach sich Le Pen für den „Frexit“, den Austritt Frankreichs aus der EU, aus, versprach aber dennoch, im Namen der französischen Souveränität einen unerbittlichen Kampf gegen die Brüsseler Behörden zu führen. Bis kurz vor dem Wahlkampf war sie, wie der ungarische Präsident Viktor Orbán, eine Bewunderin von Wladimir Putin. Doch der Einmarsch ihres Freundes in der Ukraine führte dazu, dass sie ein Wahlkampfflugblatt einstampfen musste, das sie lächelnd neben ihm zeigte. Sie an der Spitze der zweitgrößten Volkswirtschaft und stärksten Militärmacht der EU zu haben, hätte die EU massiv destabilisiert, vor allem in einer Zeit des Krieges in Europa.

Der Sieg von Emmanuel Macron war jedoch kein großer Triumph, obwohl Doppelamtszeiten in Frankreich eine Seltenheit sind. Dies spiegelte nicht nur einfach die Tatsache wider, dass Macron sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken als arroganter „Präsident der Reichen“ weithin verhasst ist, sondern auch die, dass zum zweiten Mal in Folge kein/e Kandidat:in der reformistischen Linken oder der gaullistischen Rechten in der zweiten Runde antrat – der Sozialistischen Partei und der Republikaner, Parteien, die die französische Politik seit den 1970er Jahren dominierten.

Entfremdung und Macrons Sieg

Ein Ausdruck der weit verbreiteten Entfremdung war eine ganze Reihe von Demonstrationen, die nach der ersten Runde in ganz Frankreich ausbrachen. Schüler:innen, Student:innen sowie Bahnarbeiter:innen im Norden von Paris prangerten „eine Wahl zwischen Pest und Cholera“ an. Außerdem hat mehr als jede/r dritte Wähler:in keinem/r der beiden Kandidaten ihre/seine Stimme gegeben, und die Wahlbeteiligung lag bei knapp 72 %, dem niedrigsten Wert in einer zweiten Runde seit 1969. Offenbar haben mehr als drei Millionen Menschen ihren Stimmzettel ungültig gemacht oder leer abgegeben.

Le Pen konnte ihren Zuwachs im  Vergleich zu 2017 darauf zurückführen, dass sie sich auf soziale Themen konzentrierte, insbesondere auf die steigenden Lebenshaltungskosten für Erwerbstätige, und dass sie Themen mit sinkender Popularität wie Abtreibungsgegner:innenschaft, „Homo-Ehe“ und einen „Frexit“ aus der EU aufgab. Sie hat sogar ihre heftige Islamophobie etwas abgeschwächt, indem sie „großzügig“ zugab, dass Muslim:innen tatsächlich Franzosen und Französinnen sein können, aber an ihrer Forderung nach einem Verbot des Tragens des Hidschabs (Verschleierung) in der Öffentlichkeit und einem Referendum über härtere Einwanderungskontrollen festhielt.

Obwohl Le Pen und die RN nach keiner ernsthaften Definition des Begriffs Faschist:innen sind, wäre ein rassistische Populistin an der Spitze der ohnehin schon rassistischen französischen Polizei in der Tat eine Bedrohung für die 6,5 Millionen Einwander:innen oder Bürger:innen mit Migrationshintergrund in Frankreich (9,7 % der 67 Millionen Einwohner:innen) gewesen.

Der größte Erfolg Macrons besteht darin, dass er die traditionellen Parteien, sowohl die linken als auch die rechten, an den Rand der Wähler:innenschaft gedrängt hat. So erreichte Anne Hidalgo von der Sozialistischen Partei (PS) in der ersten Runde lächerliche 1,7 %, weniger als Fabien Roussel von der Kommunistischen Partei (PCF) mit 2,28 %, während selbst die Vertreterin der gaullistischen Les Républicains (Die Republikaner:innen), Valerie Pécresse, nur 4,7 % erzielen konnte.

Dennoch hat sich Macrons eigene Partei, La République En Marche (Die Republik auf dem Marsch), kaum eine solide Basis in der Bevölkerung geschaffen. Vielmehr handelt es sich um eine wurzellose Ansammlung ehrgeiziger Amtsinhaber:innen, die sowohl von rechten als auch von linken Parteien angezogen werden, um eine Präsidentschaft der Fünften Republik zu unterstützen, die unter Macron noch bonapartistischer wurde. Und da dies seine letzte Amtszeit ist, ist es fraglich, ob die Partei ihn überleben wird. Die französische Wahlpolitik ist, offen gesagt, von Grund auf instabil. Im Moment ist die Wirtschaft relativ solide verglichen mit vielen anderen in der EU, aber ein ernsthafter Absturz in die Rezession, ausgelöst durch Stagflation und Krieg, könnte, wie es in Frankreich immer möglich ist, zu großen Protesten führen, wie wir es bei den Nuit debout – Protesten gegen die „Reform“ des Arbeitsrechts im Jahr 2016 und den Gilets jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018 – 2019 gesehen haben.

Mélenchon und die Parlamentswahl

Der einzige verbliebene Verfechter der Linken in der Mainstream-Politik ist nun Jean-Luc Mélenchon, der mit 21,95 % der Stimmen im ersten Wahlgang nur um 420.000 Stimmen von Le Pen (mit 23 %) geschlagen wurde. Er hat sofort eine Kampagne für die Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni gestartet, mit dem Ziel, die Partei des Präsidenten zu überflügeln und Macron zu einer Cohabitation (Zusammengehen) mit ihm als Premierminister zu zwingen.

Viele derjenigen, die sich im zweiten Wahlgang der Stimme enthalten haben, schließen sich nun bei den Parlamentswahlen dem Block von Mélenchon an.

Dessen „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (NUPES) hat sich Anfang Mai nach dreiwöchigen Verhandlungen gegründet. Sie behauptet, die gesamte „Linke“ zu vereinen, zum ersten Mal seit der Wahl der „Gauche Plurielle“ (plurale Linke)-Regierung von Lionel Jospin (1997 – 2002). Ihr gehören nun die Grünen, die PCF und die SP an. Sogar die Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) wurde eingeladen, ihr beizutreten, hat dies aber letztendlich abgelehnt.

Mélenchon versprach in seiner einstündigen Rede auf der Gründungsveranstaltung der NUPES einen „Bruch“ mit dem neoliberalen System, das „seit 40 Jahren den Planeten beherrscht, die Gesellschaften plündert, die Natur ausbeutet und die Menschen vernichtet“ – was er „Finanzkapitalismus“ nennt.  Aber natürlich geht es bei diesem „Bruch“ nicht um den Kapitalismus selbst, auch wenn er von einer Sechsten Republik spricht. Einige Linke haben behauptet, eine Regierung Mélenchons könne Reformen bringen, wie sie unter Léon Blum 1936 – 1938 durchgeführt wurden. Das ist jedoch nicht zu erwarten. Denn erstens handelt es sich bei den heute beteiligten Parteien um langjährige reformistische Arbeiterparteien (PCF, SP) oder kleinbürgerlich-populistische Formationen wie LFI (Unbeugsames Frankreich) oder EELV (Europäische Ökologie – die Grünen) und zweitens waren Blums Reformen vor allem aus der Angst vor einer Welle von Fabrikbesetzungen und Streiks heraus durchgeführt worden.

NPA

Die Einladung an die NPA, der NUPES beizutreten, war auf den ersten Blick ungewöhnlich, und ihre Führung nahm die Einladung Mélenchons zu Gesprächen gerne an. Der Gewinn von Sitzen in der Nationalversammlung war für eine Partei, die nur 0,77 % der Stimmen erhielt, verlockend. Doch der Einstieg in die NUPES erwies sich als zu großer Sprung. Die NPA hat sich zurückgezogen, weil sie die Anwesenheit der PS als Hauptproblem ansieht, die in ihrer Regierungszeit eine neoliberale Politik verfolgt hat. Ein Grund dafür ist, dass die LFI es versäumt hat, der NPA eine beträchtliche Anzahl von Sitzen anzubieten, auch für ihren Präsidentschaftskandidaten Philippe Poutou, obwohl er bereits bei den Wahlen in Bordeaux auf einer gemeinsamen Plattform mit der LFI kandidierte. Der entscheidende Grund war jedoch wahrscheinlich, dass fast die Hälfte des NPA-Nationalrats eine Kandidatur auf der NUPES-Liste strikt ablehnte. Der Beitritt zur NUPES hätte die NPA spalten können, die sich bereits in einer prekären Lage befindet, nachdem sie die großen Hoffnungen von vor etwa zehn Jahren, die antikapitalistischen Straßenbewegungen des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts zu repräsentieren, verschwendet hat.

Ob eine/r der Kandidat:innen der NUPES-Parteien ein kritisches Votum der Arbeiter:innenschaft verdient, wird sich bald zeigen. Mélenchon, der schon immer ein politisches Chamäleon war, wenn es um Parteien und Programme ging, könnte sich nach links wenden, um die Stimmen der Gewerkschaften zu gewinnen, wie er es bereits mit den Umweltschützer:innen und Feministinnen getan hat.

Aber die Tatsache, dass die beiden größten Gewerkschaftsverbände, die CFDT und die CGT, die selbst dazu aufgerufen haben, für Macron zu stimmen, um „den Faschismus zu stoppen“, nun anbieten, mit ihm einen Dialog über soziale Fragen zu führen, einschließlich natürlich seiner „Reformen“, verheißt nichts Gutes für den Klassenkampf.

Sollte Mélenchon eine Mehrheit in der Nationalversammlung gewinnen und sich Macron „aufdrängen“ können, würde die Kohabitation eine Art Koalition darstellen, gegen die Le Pen und andere rechte Kräfte dann die Rolle der eigentlichen Opposition spielen könnten. Macron würde mit dem Argument „nach mir die Sintflut“ bald die Oberhand gewinnen.

In der Tat steht die französische Arbeiter:innenklasse vor der Qual der Wahl: Klassenkampf oder Klassenkollaboration unter „republikanischem“ und „linkspopulistischem“ Deckmantel. Die Bürokratien der wichtigsten Gewerkschaftsverbände (CFDT und CGT) haben derweil ihre Entscheidung  getroffen. Sie haben bereits zugestimmt, mit dem „Präsidenten der Reichen“ politisch zu verhandeln. Zweifellos sehen sie es als großen Fortschritt an, dass ein vermeintlich „gedemütigter“ Macron im Gegensatz zu 2017 nun mit ihnen über seine neoliberalen Reformen verhandeln muss. So billig sind diese Damen und  Herren zu kaufen!

Die einzige Möglichkeit, die Wahl zwischen Le Pens Pest oder Macrons Cholera zu bekämpfen, besteht darin, den Weg der Massenmobilisierung auf den Straßen, der Massenstreiks in den Betrieben und der Besetzungen in den Bildungseinrichtungen, des Widerstands gegen die Polizei in den Vororten zu eröffnen. Schließlich ist Frankreich eines der wenigen Länder in Europa, in dem soziale Bewegungen keine Seltenheit darstellen.

Die Kräfte, die es wirklich sowohl mit einem neoliberalen, antidemokratischen Präsidenten als auch mit der erstarkten RN aufnehmen können, sind die kämpferische Basis in den Gewerkschaften und die Jugend, die schon immer den Großteil der antikapitalistischen, antikriegerischen und antirassistischen Kämpfer:innen gestellt haben. Sie haben die Nationale Front und die faschistischen Schläger:innen in der Vergangenheit abgewehrt und sie können sie wieder zurückschlagen, wenn die Enttäuschung über Le Pens Wahlversagen eine echte faschistische Straßenkampfbewegung aus dem Kleinbürger:innentum, das durch die verschärfende Wirtschaftskrise ruiniert ist, hervorbringt.

In der Zwischenzeit müssen sich die Aktivist:innen in den Gewerkschaften und der extremen Linken von den ersten Tagen der neuen Präsidentschaft an an die Spitze des Widerstands gegen Macrons Reformen stellen, unabhängig davon, ob Jean-Luc Mélenchon sein Premierminister wird oder nicht.

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