Susanne Kühn, Infomail 1187, 3. Mai 2022
203.500 Menschen beteiligten sich lt. DGB an den Demonstrationen und Kundgebungen der Gewerkschaften am 1. Mai 2022. Nach zwei Jahren Corona-Pause fällt auf, dass die Mobilisierung weit unter den Zahlen von 2019 liegt, als der DGB von 381.500 sprach.
Allein diese Zahlen sollten in den Gewerkschaftszentralen Anlass zur Sorge – und auch zur politischen Selbstkritik – bieten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Spitzen der DGB-Einzelgewerkschaften und deren Redner:innen loben sich vor allem selbst.
Während der Pandemie hätten sie für Gesundheitsschutz gesorgt und für fairen Lastenausgleich. Kein Wort davon, dass sie gegen mangelnde Schutzmaßnahmen und den Notstand im Gesundheitswesen nicht gekämpft, vielmehr Streiks, Aktionen und ganze Tarifrunden abbliesen und verschoben haben. Kein Wort davon, dass die Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahren massive reale Einkommensverluste hinnehmen musste, während die Preis z. B. am Wohnungsmarkt weiter anzogen. Kein Wort davon, dass sie alles getan haben, um vorübergehenden Schließungen in der Großindustrie zu verhindern, die Interessen der Lohnabhängigen und den Gesundheitsschutz über zwei Jahre den kurzfristigen Profitinteressen des Kapitals untergeordnet haben.
Auf den nationalen Schulterschluss während der Pandemie soll nun offenbar der Burgfrieden während des Kriegs um die Ukraine folgen. So stimmt DGB-Chef Hoffmann in das bürgerliche Narrativ ein. Der reaktionäre Angriff des russischen Imperialismus auf die Ukraine wird nicht als Teil eines größeren, globalen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt begriffen, sondern als einer auf „unsere“ Werte: „Dieser menschenverachtende Krieg ist ein Angriff auf die europäische Friedensordnung und auf unsere Demokratie.“
Nachdem der eigenen herrschenden Klasse eine grundsätzliche Unterstützung versichert wurde, dürfen natürlich einige „friedenspolitische“ Phrasen nicht fehlen: „Wir sagen Nein zu Militarisierung und massiver Aufrüstung. Wir brauchen dieses Geld für Zukunftsinvestitionen in die Transformation. Und wir brauchen es für die Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaats. Militärische Friedenssicherung darf niemals zulasten des sozialen Friedens erkauft werden.“
Daher soll die Anhebung des Rüstungsetats nicht dauerhaft erfolgen, sondern nach dem Waffengang mit Russland beendet werden. Solange der aber noch nicht zu „unseren“ Gunsten entschieden ist, geht die Aufrüstung in Ordnung, sofern sie nicht „zulasten des sozialen Friedens“ erkauft würde. Der Verweis darf keinesfalls als Kritik an der Regierung missverstanden werden. Vielmehr soll er daran erinnern, dass die Gewerkschaftsführung für die Burgfriedenspolitik auch Entgegenkommen, also einen sozialchauvinistischen Bonus, erwartet.
Um die Nähe zur Regierung und damit zum Staat des Kapitals auch am Ersten Mai zu demonstrieren, durften neben der DGB-Prominenz die Redner:innen aus der „Politik“, vornehmlich aus der SPD, nicht fehlen. So hatte Kanzler Scholz seinen Auftritt in Düsseldorf, in München war Oberbürgermeister Reiter, in Berlin Franziska Giffey geladen.
Dass führende SPD-Politiker:innen, zumal solche mit Regierungsfunktionen, auf den Ersten-Mai-Kundgebungen als zentrale Redner:innen auftreten dürfen, gehört zum üblichen Ritual einer Gewerkschaft, die sozialdemokratisch geprägt und dominiert ist.
Neu – und positiv – war jedoch, dass die Teilnehmer:innen wichtiger Kundgebungen wie in Düsseldorf, Berlin und München das Gedöns der sozialdemokratischen Regierungsleute nicht einfach über sich ergehen ließen, sondern mit Sprechchören, Pfeifkonzerten, Buhrufen ihre Kritik und Ablehnung der Kriegspolitik der Regierung und der klassenfeindlichen Politik in Bund, Ländern und Kommunen zum Ausdruck brachten.
Olaf Scholz wurde zu Recht für seine Milliardenaufrüstung, Sanktionen und Waffenlieferungen angegriffen, die Deutschland als NATO-Staat faktisch zu einer Kriegspartei in der Ukraine machen.
In München wurde Oberbürgermeister Reiter ausgepfiffen, weil sich der SPD-Politiker gegen den Erzieher:innenstreik in seiner Stadt gestellt hatte. Linke Gewerkschafter:innen enthüllten Schilder gegen den Krieg.
Einen Höhepunkt der Aktionen erlebten wir in Berlin. Schon DGB-Chef Hoffmann wurde bei seiner Rede immer da von Sprechchören unterbrochen, wo er offen oder implizit die Kriegs- und Rüstungspläne der NATO, der EU oder der Bundesregierung unterstützte.
Eine gebührenden Empfang bereiteten mehrere Hundert Unterstützer:innen des klassenkämpferischen Blocks bei der Abschlusskundgebung in Berlin der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey. Sie kann auf eine lange unrühmliche Geschichte zurückblicken, sei es als Unterstützerin rassistischer Abschiebungen, von Privatisierungen und zahlreichen anderen arbeiter:innenfeindlichen Maßnahmen.
In den letzten Jahren und als Regierungschefin eines angeblich linken rot-grün-roten Senats steht die Verhinderung der Enteignung der Immobilienkonzerne ganz oben auf ihrer Agenda. Statt dem Votum einer klaren Mehrheit von über einer Millionen Berliner:innen, die für die Enteignung von Deutsche Wohnen und Co. gestimmt haben, zu folgen, will Giffey dieses zur Zeit in einer sog. Expert:innenkommission politisch entsorgen.
Dennoch sollte sie als eine Hauptrednerin die Leute mit leeren Phrasen einseifen. Doch dazu kam es nicht. Nicht nur die Genoss:innen der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und der Klassenkämpferische Block, den auch die Gruppe Arbeiter:innenmacht und REVOLUTION mitorganisierten, sorgten für lautstarken Protest und intonierten Sprechchöre wie „Volksentscheid – umsetzen“ und „Enteignung – jetzt!“ Auch viele andere Gewerkschafter:innen unterstützten die Rufe und das Pfeifkonzert. Als schließlich ein Ei Richtung Giffey flog, brach sie ihre Rede ab.
Nachträglich entrüstet sich Giffey über dieses „undemokratische“ Vorgehen und den „tätlichen Angriff“. Dabei sollte doch eher die Frage gestellt werden, was der Wurf eines Eis im Vergleich zum Rauswurf all der Mieter:innen, die nach Zwangsräumungen ihre Wohnung verloren, darstellt.
Ver.di Berlin entrüstet sich in einer Pressemitteilung vom 2. Mai über den „verabscheuenswürdigen“ Angriff. Schließlich sei der „Dialog mit demokratischen Parteien und der politischen Führung der Stadt sehr wertvoll.“
Dass eine Person, die einen Volksentscheid zur Enteignung der Immobilienkonzerne hintertreibt, Geflüchtete abschieben lässt, die S-Bahn privatisieren will und auch ansonsten dem Kapital den roten Teppich ausrollt, ausgerecht bei der Mai-Demonstration der Gewerkschaften eine zentrale Rede halten sollte, verdeutlicht die Krise der Gewerkschaften in Deutschland.
Die Krise hat gleich mehrere Namen: Sozialpartner:innenschaft und nationale Einheit mit der Regierung sind nur zwei davon. Diese Politik der Klassenzusammenarbeit dient nicht den Lohnabhängigen, sondern dem Kapital und seiner Regierung. Die schrumpfenden Demonstrationen sind nur ein numerischer, alarmierender Ausdruck einer Politik, die seit Jahren zum weiteren Niedergang der Gewerkschaften geführt hat und diese an die herrschende Klasse und die Regierung kettet.
Die Proteste gegen Scholz, Reiter, Giffey verdeutlichen jedoch, dass sich Widerstand, Opposition gegen den sozialpartnerschaftlichen Kurs und die Unterstützung der Kriegspolitik der Regierung regt. Die Tatsache, dass sie nirgendwo ernsthaft vom Apparat verhindert werden konnten, sondern bei vielen Gewerkschafter:innen, darunter auch Kolleg:innen aus der Sozialdemokratie, auf ein positives Echo stießen, zeigt, dass die reformistischen Apparate in Zeiten der Krise, der „Zeitenwende“ auch Risse bekommen, Risse, die wir vertiefen müssen.
Wir brauchen keine Politik der falschen Toleranz gegenüber Leuten wie Giffey. Wir brauchen keinen Kuschelkurs mit den politischen Vertreter:innen des Kapitals, selbst wenn sie sich „arbeiter:innenfreundlich“ geben. Stattdessen benötigen wir einen Bruch mit der Politik der Unterordnung unter das „nationale“ Interesse, unter die imperialistische Politik des deutschen Staates und unter die Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals. Wir brauchen keine Politik des „sozialen Friedens“, sondern eines des Klassenkampfes.
Das heißt aber auch, dass wir in den Betrieben und Gewerkschaften eine oppositionelle, antibürokratische Kraft aufbauen müssen, die eine politische Alternative zum Apparat und zur reformistischen Führung liefert – eine klassenkämpferische Basisbewegung. Der Aufbau der VKG in den einzelnen Städten, die Gewinnung weiterer Strömungen in den Gewerkschaften und von kämpferischen Aktivist:innen stellen einen nächsten wichtigen Schritt in diese Richtung dar.