Jürgen Roth, Neue Internationale 260, November 2021
Nach über 7 Wochen Vollstreik hat das Berliner Krankenhausunternehmen Vivantes für seine ausgelagerten Tochtergesellschaften gemeinsam mit VertreterInnen der Gewerkschaft ver.di ein Eckpunktepapier unterzeichnet, das in einem Angleichungstarifvertrag an den TVöD münden soll. Moderator Matthias Platzeck, brandenburgischer Ex-Ministerpräsident, bezeichnet es als akzeptabel. Bereits zuvor, am 7.10., gab es solche Eckpunkte bei der Charité nach 30 Streiktagen und 4 Tage später folgte der Vivantes-Mutterkonzern, beide mit Klauseln für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) in der Pflege. Die Streiks wurden nach der Einigung auf die Papiere jeweils beendet. Für Ende November rechnet man mit jeweiligen Haustarifverträgen.
Ver.di-Verhandlungsführerin Melanie Guba erkärte, alle Forderungen seien in dem Papier berücksichtigt worden: Mindestbesetzungsregelungen für alle Bereiche, darunter Stationen, OP-Säle und Notaufnahmen/Rettungsstellen; Regelung eines Belastungsausgleichs; Verbesserung der Ausbildungsbedingungen. War auf Intensivstationen bisher eine Pflegekraft für bis zu 4 PatientInnen zuständig, im Nachtdienst für 20 – 30, so soll der neue Personalschlüssel 1:1 bzw. 1:10 – 1:17 lauten. In den Kreißsälen soll es wieder möglich werden, dass eine Hebamme nur eine Frau bei der Geburt begleitet. Man hofft darauf, dass 250 freiberufliche Hebammen ihre Zusage einhalten, unter diesen verbesserten Umständen wieder als Angestellte in die Kliniken zurückzukehren.
Nach uns vorliegenden Informationen sieht der Belastungsausgleich im Fall der Unterschreitung der Mindestpersonalbesetzung eine freie Schicht für 5 in Überlastung vor. Die „Gesamtstrategie 2030“ der Charité will den Stellenanteil erhöhen wie auch akademisierte Gesundheitsfachberufe gewinnen. Dies ist eine Reaktion auf hohe Krankenstände, Wechsel von Voll- in Teilzeit und hoher Fluktuationsrate. Viele PflegerInnen üben ihren Beruf nur wenige Jahre aus.
Im Kern soll der TVE die Angleichung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Berliner Krankenhäusern anstreben. Die Einigung ver.dis mit der Charité-Spitze im dortigen Eckpunktepapier zeigte in Anbetracht des Pflegepersonal- und Nachwuchsmangels auch bei der weit widerspenstigeren Verhandlungsführung Vivantes‘ schließlich Wirkung. Weitere Sturheit hätte die Gefahr einer Abwanderung eigenen Personals zur Charité heraufbeschworen. Der Konzern hatte zuvor erst ab 12 Überlastungsschichten eine Freischicht offeriert (bei Auszubildenden 48!), weniger als die Hälfte des Angebots der Unikliniken. Es bleibt einer detaillierteren Untersuchung des künftigen TVE vorbehalten, inwieweit tatsächlich gleiche Verhältnisse wie an der Charité erzielt werden konnten. Vivantes hat als Vollversorger mit einem erheblichen Anteil Grundversorgung deutlich mehr Finanzierungsprobleme durchs System der Fallpauschalen (DRGs) als die Unikliniken. Gerüchten zufolge droht Bettenabbau nach dem Abschluss. „Leistung soll dem Personal folgen“ heißt übersetzt also, dass eine Beeinträchtigung der stationären Grund- und Notfallversorgung in den Bezirken droht. Die nächste Kampffront tut sich also auf.
Die neuen Eckpunkte folgen der gleichen Systematik wie an den Unikliniken Berlins. Bereich für Bereich wird geschaut, ob unterschiedliche Belastungssituationen und Unterbesetzung bestehen. Bei beiden Konzernen soll ein Punktesystem eingeführt werden. Bei den 3 Uniklinikstandorten der Charité gibt es Belastungspunkte, wenn eine Abteilung unterbesetzt ist, Leiharbeitskräfte eingesetzt werden, oder nach Gewalterfahrungen. Die Punkte können dann in Freizeitausgleich, Erholungsbeihilfen, Kinderbetreuungszuschüsse, Altersteilzeitkonten oder Sabbaticals (längere Auszeiten) umgewandelt werden. Vivantes sprach dagegen lediglich allgemein von einer Umwandlung in Entgelt oder Freizeit.
Während die Charité 3 neue Ausbildungsstationen und 1 multiprofessionelle Intensiv-Lehrstation einrichten will, möchte Vivantes die Ausbildungsbedingungen tariflich regeln, z. B. durch Ausstattung mit Notebooks. Der Konzern legte sich auch nicht auf Neueinstellungen fest, während die Landesunikliniken 700 neue Pflegekräfte binnen 3 Jahren anwerben wollen. Der TVE soll in beiden Konzernen eine Laufzeit von 3 Jahren aufweisen.
An den Streiks nicht beteiligt war das CFM, das ausgelagerte Tochterunternehmen der Charité. Hier war nach mehrjährigem Kampf eine Angleichung an den TVöD zustande gekommen. Es herrschte dort also Friedenspflicht.
Im Tarifkonflikt bei den Tochtergesellschaften der landeseigenen Vivantes-Kliniken (VSG u. a.) sollen die Beschäftigten bis 2025 schrittweise mehr Geld erhalten Je nach Tochter sollen ihre Löhne und Gehälter in den kommenden vier Jahren nach und nach auf 91 beziehungsweise 96 Prozent des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) steigen. Darauf einigten sich die Gewerkschaft ver.di und das Klinikum Mitte der letzten Oktoberwoche in einem Eckpunktepapier.
„Insbesondere in den unteren Lohngruppen bedeutet das in Zukunft deutlich höhere Einkommen und deutlich mehr Gerechtigkeit“, teilte Verdi-Verhandlungsführer Ivo Garbe mit. Die Gewerkschaft hatte eine Übernahme des TVöD für sämtliche Tochter-Beschäftigte gefordert. Der Kompromiss stelle die Arbeit„geber“Innenseite vor „große finanzielle Herausforderungen“, erklärte der kommissarische Vorsitzende der Vivantes-Geschäftsführung, Johannes Danckert gegenüber dem Ärzteblatt. Diese müssten gemeinsam mit dem Land Berlin bewältigt werden.
Die VSG gestand vorher lediglich eine Angleichung an den TVöD bis 2028 zu ohne Angaben zu Zeitzuschlägen und Zulagen. Zudem wollte sie die Medizinischen Versorgungszentren und das Labor Berlin (gemeinsame Tochter mit der Charité) von den Verhandlungen ausnehmen. Es bleibt also abzuwarten, ob die konkreten Details auch eine Verbesserung bei den Zuschlägen enthalten und alle ausgegliederten Bereiche umfassen. Ferner ist genau darauf zu achten, ob es eine Art Notlagentarifklausel gibt, der zufolge die Angleichung im Fall wirtschaftlicher Schieflagen ganz oder teilweise ausgesetzt werden kann.
Kommt es hier nicht zu einem Abschluss, der mindestens den gleichen Tarif wie bei der Charité-Tochter CFM durchsetzt, muss die Berliner Krankenhausbewegung vom Senat fordern, die Übernahme des CFM-Tarifvertrags zu erzwingen.
Ob die neue Landesregierung sich für Danckerts Ansinnen aufgeschlossen zeigen wird, bleibt fraglich, ist doch die Krankenhausfinanzierung weitestgehend von DRGs abhängig, die einen enormen Preisdruck ausüben. Die Hoffnung vieler Streikender auf ein Machtwort des Senats im Arbeitskonflikt zu ihren Gunsten hat bereits einen herben Dämpfer erhalten. Sie wird es auch bzgl. der Finanzierungsmöglichkeiten durch „die Politik“.
Möglich wurde dieser Erfolg durch einen langen und hartnäckig geführten Streik, der auch mit wirksamen Aktionen die breitere Öffentlichkeit und Bündnisse wie Deutsche Wohnen & Co. enteignen oder Gesundheit statt Profite einbeziehen konnte. Zudem beteiligte sich die Gewerkschaftsbasis außergewöhnlich engagiert. Fast jeder Bereich stellte ein/e SprecherIn auf den Kundgebungen, darunter auch engagierte und gute RednerInnen der Töchter. Neben o. a. Mobilisierungen ermittelte jede Station ihre Personaluntergrenzen, stellte Notdienstpläne auf und brachte ihre Meinung zum Stand der Verhandlungen ein, sorgte für eine repräsentative Tarifkommission, in der zahlreiche unterschiedliche Disziplinen vertreten waren. In Gestalt der Teamdelegierten schuf diese breite Bewegung Organe, die einerseits die AktivstInnen umfassen wie in gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörpern und somit zur Etablierung lebendiger ver.di-Betriebsgruppen in den Häusern beitragen, aber auch eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Umsetzung des TVE ausüben könnten. Streik als Schule des Klassenkampfs: Dies stellt alles ein leider zu seltenes Vorbild für Arbeitsauseinandersetzungen dar.
Auch wenn die Eckpunkte bei Vivantes weniger konkret als bei der Charité ausfallen oder schlechter scheinen, können wir davon ausgehen, dass der zukünftige TVE in beiden Krankenhausketten deutlich mehr Bereiche als 2015, darunter auch nicht-stationäre wie Kreißsäle, OPs und Funktionsabteilungen (Notaufnahmen. Rettungsstellen, Untersuchungsräume) umfassen wird als der von 2015 und zudem konkretere Entlastungsregelungen.
Doch ist es der TVE, der nun all das regelt, was vorhergegangene Tarifkämpfe – denken wir nur an den 2015 bei der Charité erkämpften – nicht vermochten? Und finanzieren sich zusätzliche Pflegekräfte durch das Bundespflegepersonalstärkungsgesetz wie von selbst? Lt. unseren Informationen sind die Ausgleichsschichten in den nächsten 3 Jahren gedeckelt: 2022 max. 5, 2023 10, 2024 15 Tage.
Das o. a. Gesetz und die Herausnahme der Pflegekosten aus den Fallpauschalen (DRGs) seit Anfang 2020 bedeuten mitnichten die Selbstkostenerstattung durch die Krankenkassen, sondern eine Rückkehr zu langwierigen Budgetverhandlungen mit ihnen wie vor Einführung der DRGs. Kommt es dann eben nicht zur gewünschten Personalaufstockung, wird auch der Freizeitausgleich schnell an seine Grenzen stoßen.
Eine Schwäche des Streiks bestand darin, dass es keinen Beschluss von unten, durch Streikvollversammlungen und von ihnen gewählte und jederzeit neu wählbare Streikkomitees über die Aussetzung des Streiks nach der Einigung auf die Eckpunktepapiere gab. Vielmehr wurde der Streikabbruch von oben ohne Debatte an der Basis verkündet und somit dem Hauptamtlichenapparat die Streikführung nicht strittig gemacht. Mit einigen Teamdelegierten wurde zwar gesprochen, mit anderen dafür aber nicht. Doch darüber hätten Streikvollversammlungen bzw. von diesen gewählte Komitees allein entscheiden müssen. Hier rächte sich, dass die Teamdelegierten zwar eine Schnittstelle zur Tarifkommission, in der stets Hauptamtliche den Ton angeben, verkörperten und darüber den Druck der Basis weitergaben, aber diese nicht zur selbstermächtigenden Souveränin über den Streikverlauf machen konnten. Dazu hätten Vollversammlungen jederzeit von ihnen abwählbare Streikkomitees mit der operativen Arbeitskampfführung bevollmächtigen müssen.
Den Teamdelegierten fiele eine weitere wichtige Rolle im Aufbau einer wirksamen Kontrolle über die Umsetzung des TVE zu. Kommt es nämlich nicht zu einer durch progressive Besteuerung des Kapitals und gesetzlicher Krankenversicherungspflicht für alle ohne Beitragsbemessungsgrenzen finanzierten massiven Neueinstellungswelle in der Pflege und steuern chefärztlich umgesetzte Renditeziele weiterhin die Krankenhausmedizin, dann drohen die Entlastungsregelungen, zu langfristigen individuellen Lebensarbeitszeitkonten ohne Überstundenzuschläge zu verkommen.
Ein Manko gegenüber dem Abschluss von 2015 besteht also darin, dass Interventionsmittel wie Bettensperrungen und Aufnahmestopps im zukünftigen TVE gar nicht mehr angedacht sind. Die Beschäftigten und PatientInnenorganisationen haben aber ein objektives Interesse an der Kontrolle von unten, v. a. wenn es beim Pflegepersonalmangel bleibt. Der Marburger Bund und die in ver.di organisierten ÄrztInnen können und müssen für vergleichbare Entlastungen beim ärztlichen Personal eintreten und notfalls streiken.
Nach der Urabstimmung über die TVs muss der beispielhafte Kampf an den Berliner Krankenhäusern als Ausgangspunkt für eine bundesweite Bewegung für Entlastung und Angleichung an den TVöD wirken. Der 1. Schritt muss die Einberufung einer bundesweiten Krankenhauskonferenz, organisiert durch ver.di, sein.
Akut müssen in der anstehenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder die Anliegen vergleichbarer KollegInnen vollständig aufgenommen werden. Doch ver.di plant lediglich eine Gehaltsrunde. Die Interessen der Pflegekräfte an Entlastung werden an einem bedeutungslosen Gesundheits(katzen)tisch vorgetragen, aber sie müssen zum Verhandlungsgegenstand und streikfähig gemacht werden!
Sich an die Seite der streikenden KollegInnen zu stellen und dafür alle Beschäftigten, die ein Interesse an einem funktionierenden Gesundheitssystem unter guten Arbeitsbedingungen hegen, zu mobilisieren, wäre die Aufgabe aller DGB-Gewerkschaften über die laufende Tarifrunde hinaus. Mit einer solchen Mobilisierung, einem politischen Streik, würden die Regierenden in die Knie gezwungen werden können. Dies wäre der Weg für einen erfolgreichen Kampf gegen Privatisierungen und mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung des gesamten Gesundheitssektors.