Jürgen Roth, Infomail 1166, 15. Oktober 2021
Bis in die Nacht zum Montag, den 11. Oktober, liefen die Gespräche zwischen der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Deutschlands größtem kommunalen Klinikunternehmen Vivantes. Nach 34 Tagen Vollstreik hatte man sich wie 4 Tage zuvor bei den Universitätskliniken der Charité auf ein Eckpunktepapier geeinigt, das bis Ende November zu einem Tarifvertrag Entlastung (TVE) führen soll. Der Streik beim Vivantes-Mutterkonzern wurde daraufhin ausgesetzt. Bei der Charité ist er das seit 7. Oktober.
Im Kern soll der TVE die Angleichung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Berliner Krankenhäusern anstreben. Die Einigung ver.dis mit der Charité-Spitze im dortigen Eckpunktepapier zeigte in Anbetracht des Pflegepersonal- und Nachwuchsmangels auch bei der weit widerspenstigeren Verhandlungsführung Vivantes‘ schließlich Wirkung. Weitere Sturheit hätte die Gefahr einer Abwanderung eigenen Personals zur Charité heraufbeschworen.
Die neuen Eckpunkte folgen der gleichen Systematik. Bereich für Bereich wird geschaut, ob unterschiedliche Belastungssituationen und Unterbesetzung bestehen. Bei Charité und Vivantes soll ein Punktesystem eingeführt werden. Bei den 3 Uniklinikstandorten gibt es Belastungspunkte, wenn eine Abteilung unterbesetzt ist, Leiharbeitskräfte eingesetzt werden, oder nach Gewalterfahrungen. Bei der Charité können die Punkte dann in Freizeitausgleich, Erholungsbeihilfen, Kinderbetreuungszuschüsse, Altersteilzeitkonten oder Sabbaticals (längere Auszeiten) umgewandelt werden. Vivantes sprach in einer Mitteilung am Montag lediglich allgemein von einer Umwandlung in Entgelt oder Freizeit.
Während die Charité 3 neue Ausbildungsstationen und 1 multiprofessionelle Intensiv-Lehrstation einrichten will, will Vivantes die Ausbildungsbedingungen tariflich regeln, z. B. durch Ausstattung mit Notebooks. Der Konzern legte sich auch nicht auf Neueinstellungen fest, während die Landesunikliniken 700 neue Pflegekräfte binnen 3 Jahren anwerben wollen. Der TVE soll in beiden Konzernen eine Laufzeit von 3 Jahren aufweisen und bei Vivantes.
Die Tarifbewegung Entlastung startete schon 2012 an der Charité und führte dort 2015 zu einem TVE, der 2016 von ver.di gekündigt wurde. Grund: Die darin festgehaltenen Regelungen galten nur für einige Bereiche, waren zu wenig auf die Bedürfnisse abgestimmt und überdies nicht einklagbar. Auch wenn die Eckpunkte bei Vivantes weniger konkret als bei der Charité ausfallen oder schlechter scheinen, können wir davon ausgehen, dass der zukünftige TVE in beiden Krankenhausketten deutlich mehr Bereiche, darunter auch nicht-stationäre wie Kreißsäle, OPs und Funktionsabteilungen (Notaufnahmen/Rettungsstellen, Untersuchungsräume) umfassen wird als der von 2015 und zudem konkretere Entlastungsregelungen enthält. Susanne Feldkötter, Vizevorsitzende des ver.di-Landesbezirks Berlin-Brandenburg, bezeichnete die bei der Charité verabredeten Eckpunkte als einmalig. Sie sollten als „Leitwährung in der gesamten Branche“ gelten.
Möglich wurde dieser Erfolg durch einen langen und hartnäckig geführten Streik, der auch mit wirksamen Aktionen die breitere Öffentlichkeit und Bündnisse wie deutsche Wohnen & Co. enteignen oder Gesundheit statt Profite einbeziehen konnte. Zudem beteiligte sich die Gewerkschaftsbasis außergewöhnlich engagiert. Neben o. a. Mobilisierungen ermittelte jede Station ihre Personaluntergrenzen, stellte Notdienstpläne auf und brachte ihre Meinung zum Stand der Verhandlungen ein, sorgte für eine repräsentative Tarifkommission, in der zahlreiche unterschiedliche Disziplinen vertreten waren. In Gestalt der Teamdelegierten schuf diese breíte Bewegung Organe, die einerseits die AktivstInnen umfassen wie in gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörpern und somit zur Etablierung lebendiger ver.di-Betriebsgruppen in den Häusern beitragen, aber auch eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Umsetzung des TVE ausüben können.
Deren dringlichste Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass es keinen Abschluss ohne Urabstimmung, ohne Zustimmung der Basis geben darf. Eine Schwäche des Streiks bestand darin, dass es keinen Beschluss von unten, durch Streikvollversammlungen und von ihnen gewählte und jederzeit neu wählbare Streikkomitees über die Aussetzung des Streiks nach der Einigung auf die Eckpunktepapiere gab. Vielmehr wurde der Streikabbruch von oben ohne Debatte an der Basis verkündet und somit dem Hauptamtlichenapparat die Streikführung nicht strittig gemacht.
Mit dem Faustpfand ihres vorläufigen Erfolgs und ihren Arbeitskampferfahrungen muss sich die Berliner Krankenhausbewegung auch zur Vorreiterin einer bundesweiten für die gleichen Ziele (TVE, Angleichung an den TvöD) machen.
Nehmen wir also Feldkötters Leitwährungsgerede für bare Münze! Wir können damit beginnen, im 1. Schritt die Beschäftigten der Vivantes-Tochterunternehmen nicht im Regen stehenzulassen, so wie dies die Charité-Beschäftigten gezeigt haben, die am 9. Oktober auf die Straße gegangen sind, obwohl sie nach Einigung auf ihre Eckpunkte sich nicht mehr im Ausstand befanden. Am 13. hatten mehrere Hundert vor dem Roten Rathaus für die Angleichung an den TvöD bei den Vivantes-Servicegesellschaften demonstriert und ihren KollegInnen in den Mutterkonzernen zum Erfolg gratuliert. Am 14. Oktober wurde bei den VSG unter dem Moderator Platzeck weiter verhandelt und der Streik an diesem Tag ausgesetzt. Kommt es hier nicht aus eigener Kraft zu einem Abschluss, der mindestens den gleichen Tarif wie bei der Charité-Tochter CFM durchsetzt, muss die Berliner Krankenhausbewegung vom Senat fordern, die Übernahme des Tarifvertrags zu erzwingen.
Der 2. Schritt muss die Einberufung einer bundesweiten Krankenhauskonferenz, organisiert durch ver.di sein, die die Umsetzung der „Leitwährung“ auch in bundesweit gültige klingende Münze – TVE und TvöD für alle – voranbringen hilft. Vorrangig muss Druck aufgebaut werden, damit diese Ziele auch zusätzlich zum Gegenstand der anstehenden Lohn- und Gehaltsrunde der Bundesländer (TVöD-L) geraten können.
Den Teamdelegierten fällt eine weitere wichtige Rolle im Aufbau einer wirksamen Kontrolle über die Umsetzung des TVE zu. Kommt es nämlich nicht zu einer durch progressive Besteuerung des Kapitals und gesetzlicher Krankenversicherungspflicht für alle ohne Beitragsbemessungsgrenzen finanzierten massiven Neueinstellungswelle in der Pflege und steuern chefärztlich umgesetzte Renditeziele weiterhin die Krankenhausmedizin, dann drohen die Entlastungsregelungen, zu einem langfristigen individuellen Lebensarbeitskonten ohne Überstundenzuschläge zu verkommen. Von Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Behandlungsqualität blieben wir dann genauso weit entfernt wie jetzt.
Ein Manko gegenüber dem Abschluss von 2015 besteht darin, dass Interventionsmittel wie Bettensperrungen und Aufnahmestopps im zukünftigen TVE gar nicht mehr angedacht sind. Die Beschäftigten und PatientInnenorganisationen haben aber ein objektives Interesse an der Kontrolle von unten – auch wenn es beim Pflegepersonalmangel bleibt, dem akut durch Freizeitausgleich in ferner Zukunft nicht abgeholfen werden kann. Der Marburger Bund und die in ver.di organisierten ÄrztInnen können und müssen für vergleichbare Entlastungen beim ärztlichen Personal eintreten und notfalls streiken. Damit könnten eine weitere Bresche in das Finanzierungssystem nach Fallpauschalen geschlagen und die Tür zu einem rationalen, nichtkommerziellen, letztlich sozialistischen Gesundheitswesen eine Spalt weiter geöffnet werden.