Jürgen Roth, Infomail 1146, 15. April 2021
Schätzungen ergeben, dass in der Bundesrepublik jährlich zwischen 200.000 und 70.000 sogenannte Live-in-Betreuungskräfte in der Hauspflege arbeiten. Sie begleiten die hilfsbedürftigen Alten im Alltag, waschen sie, kaufen ein, kochen und leisten ihnen Gesellschaft. Es sind fast ausnahmslos Frauen, v. a. aus Polen. Viele haben erwachsene Kinder oder sind selbst Seniorinnen. Die meisten sind Quereinsteigerinnen ohne pflegerische oder medizinische Ausbildung.
Im Vergleich zum während der 1. Welle der Coronapandemie als systemrelevant gefeierten Krankenhaussektor und sogar zur ambulanten wie stationären Altenpflege, deren Relevanz sich weder in den Arbeitsbedingungen noch im Lohn niederschlägt, sind die Arbeitsverhältnisse in den Familien nochmals deutlich prekärer.
Die meisten mittel- und osteuropäischen Betreuungskräfte kommen über sogenannte Dienstleistungsverträge nach Deutschland, auch oft als „Müllverträge“ bezeichnet. Unternehmen können damit nämlich Renten- und Urlaubsansprüche umgehen. Eine polnische Agentur akquiriert einheimische Betreuungskräfte, während eine Partneragentur in der BRD einen Vertrag mit der Familie abschließt. Die PflegerInnen werden für eine bestimmte Zeit entsandt, bekommen am Monatsende rund 1.500 Euro Lohn, während die Familien oft das Doppelte bezahlen. Sozialabgaben werden in Polen gezahlt. Diese Art Verträge beschränkt sich nicht nur auf die Hauspflege. Das Statistische Amt der Europäischen Union schätzt, dass 2017 rund 27 % aller polnischen ArbeiterInnen in der EU über solche Werkverträge angestellt waren.
Das DGB-Netzwerk „Faire Mobilität“ berichtet, dass oft ein niedrigeres Gehalt angegeben wird als das tatsächlich ausgezahlte. Der Rest wird als Zulagen und Spesen für Fahrtkosten bzw. Verpflegung ausgewiesen, die nicht sozialversicherungspflichtig sind. Berüchtigt sind auch die Vertragsstrafen. Wer eine Vorerkrankung verschweigt und im Krankenhaus behandelt wird, muss die Behandlung selbst zahlen und bekommt oft noch eine Strafzahlung von ca. einem vollen Monatslohn auferlegt. Diese hohen Vertragsstrafen sollen zudem verhindern, dass Betreuungskräfte gegen schlechte Arbeitsbedingungen aufbegehren.
Laut Arbeitszeitgesetz darf die Arbeitswoche auch für HauspflegerInnen 48 Stunden nicht überschreiten. Eine Mindestruhezeit von 11 Stunden zwischen 2 Arbeitstagen ist ebenso Pflicht, wie es ausreichende Pausenzeiten sind. Doch da das deutsche Arbeitsrecht das Zusammenleben und -arbeiten von Menschen im Haushalt nicht regelt, stellt sich die Frage: Was gilt als Arbeitszeit z. B. bei gemeinsamen Mahlzeiten? In Einzelfällen bekommen die BetreuerInnen vor deutschen Arbeitsgerichten sogar Recht: so eine Bulgarin, die statt der vereinbarten 30 Wochenstunden rund um die Uhr für eine Seniorin zur Verfügung stehen musste. Interessanterweise wurde das Urteil sowohl von „Faire Mobilität“, sprich der Arbeit„nehmer“Innenseite, als auch vom Geschäftsführer des Verbands für häusliche Betreuung und Pflege e.V., Frederic Seebohm, begrüßt.
Letzterer verwies darauf, dass eine pflegerische Tätigkeit nicht mit den üblichen Arbeitszeiten zu bewältigen sei. Wenn jede Stunde, die eine Betreuungskraft für die Versorgung der pflegebedürftigen Person zur Verfügung stünde, mit dem Mindestlohn bezahlt würde, bräche die Branche zusammen und Mittelstandhaushalte könnten sich dann auch keine 2 oder 3 Live-ins mehr leisten. Diese Aussage ist doppelt bedeutsam. Erstens zeigt sie, wie weit auf Seiten mancher Arbeit„geber“Innen die Sozialpartnerschaft reicht. Zweitens wird deutlich, dass Entlohnung und Arbeitsbedingungen umso prekärer werden, je näher sie in der unmittelbaren menschlichen Reproduktion lokalisiert sind, die der Kapitalismus der heiligen Familie als Institution des „Privatlebens“ überlässt, die seine Vorstellung von Gesellschaft nichts angeht.
Letztlich sind Seebohms Aussagen nichts anderes als eine stellvertretende Rechtfertigung der sexistischen und rassistischen Arbeitsteilung im Kapitalismus, die in der billigen Auslagerung der Pflege an osteuropäische Frauen ihren zugespitzten Ausdruck findet.
Mittlerweile gibt es auch in Polen eine Gewerkschaft, die sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen polnischer Beschäftigter in Deutschland einsetzt, die „Alternatywa“. Ihre Mitbegründerin, Izabela Marcinek, beklagt zwar auch, dass nicht alle Frauen für diese Arbeit geeignet seien, dies nur für Geld täten, kein Interesse an alten Menschen hätten und zuweilen trinken und stehlen würden. Während also auch sie in die Klage einfällt, nicht ausreichend geeignete Betreuungskräfte zu finden, sieht sie jedoch zu Recht die Ursachen dafür in den prekären Arbeitsverhältnissen und appelliert an den polnischen Staat, die Dienstleistungsverträge abzuschaffen: „Viele Frauen denken: ,Wenn die Agentur mich nicht schützt, muss ich es selbst tun.’ Sie verlieren das Herz für die Arbeit.“
Das „Neue Deutschland“ (ND, 10./11. Oktober 2019, S. 12/13) nennt zwei Alternativen. Zum einen sei das „Selbstständigenmodell“, sprich die Anmeldung eines Gewerbes, in Deutschland bisher kaum genutzt. Österreich formalisierte 2007 die häusliche Betreuung als dritte Säule neben der ambulanten und stationären Altenpflege. Die staatliche Bezuschussung der BetreuerInnen und ein Anschluss an die professionelle ambulante Pflege sei so möglich. Seebohm findet dieses System ideal, handelt es sich doch um eine weitere Form prekarisierter Beschäftigung, um Scheinselbstständigkeit, um die „Ich-AG“ – und das spart allemal Sozialabgaben. WissenschaftlerInnen und GewerkschafterInnen wenden dagegen ein, dass zentrale Merkmale der Selbstständigkeit – keine Weisungsgebundenheit und freie Zeiteinteilung – in der Praxis häuslicher Betreuung nicht einhaltbar seien.
„Faire Mobilität“ bevorzugt daher das „Arbeitgebermodell“. Die Familie ist hier Chefin und erteilt Weisungen. Die Live-in-Kraft erhält einen deutschen Arbeitsvertrag und Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Jahresurlaub. Angewandt wird ein solches Modell selten (z. B. bei der Caritas in Paderborn). Häufig müssen die Familien offenlegen, wie sie ihre/n pflegebedürftige/n Angehörige/n unterstützen, um zu zeigen, dass die Arbeitszeit der/s Live-in-Beschäftigten zumindest theoretisch einzuhalten ist; z. B. mit ambulanten Pflegediensten oder Eigenleistungen. Jede Entlastung der angestellten Person bringt jedoch eine zusätzliche finanzielle Belastung für die Familien mit sich, will sie das Einhalten der Arbeitszeit der/s BetreuerIn gewährleisten. Seebohm kritisiert – diesmal zu Recht –, mit diesem Beschäftigungsverhältnis seien alle Unsicherheiten auf die Angehörigen abgewälzt.
Die Soziologin mit Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Uni Frankfurt/M., Ewa Palenga-Möllenbeck, beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit die Frauen in der Hauspflege selber zur Ethnisierung und Vergeschlechtlichung ihrer Tätigkeit beitragen. Polnischen Frauen werde von deutscher Seite Pragmatismus und Warmherzigkeit zugeschrieben, doch das beruhe auf Gegenseitigkeit. Viele seien stolz darauf, es besser als deutsche Pflegekräfte und Familienmitglieder zu machen und dies werte ihre prekäre Beschäftigung moralisch auf. Die nicht nur unterirdisch entlohnte, sondern auch emotional und psychisch belastende Arbeit würde von keiner deutschen Arbeitskraft geschultert. Diese „moral economy of care“, wie es auf soziologischem Neudeutsch heißt, nütze jenen Frauen, die Arbeit mache für sie Sinn, deshalb würden sie aufopferungsvoll alles geben. Damit stünden sie nicht nur die damit verbundene Bürde psychisch durch, sondern würden auch ihren Stolz, ihre eigene Marke als ausländische Arbeitskraft stärken.
In Bezug auf die Geschlechterrollen in den Familien in Polen oder der Ukraine merkt die Soziologin an, dass eine Frau, welche zuvor der Erwerbsarbeit nachging, die klassische Hausfrauenrolle dann ausfülle, wenn der Mann die klassische Brötchenverdienerrolle spielen könne. Ginge sie ins Ausland, kümmerten sich oft Nachbarinnen und Familienmitglieder, v. a. Großmütter, nicht die Männer um Familie und Kinder. Polnische Frauen teilen sich überdies häufig eine bezahlte Pflegestelle: kehre die Mutter zurück, übernehme sie von der Oma die Sorgearbeit im Haus und diese trete ihre Nachfolge im Ausland an.
Man muss Palenga-Möllenbeck dankbar sein für die detaillierten und tiefen Einblicke in die alltägliche Realität dieser besonderen Art Altenpflege, die oft im Graubereich des Legalen operiert. Die Wissenschaftlerin hält sich zudem wohltuend mit einer moralischen Wertung über Einstellungen und Gefühle der betroffenen Frauen zurück. Es ist der stumme Zwang der barbarischen kapitalistischen Verhältnisse, der sie nach letztlich billigem Trost suchen lässt. Es steht uns nicht an, das einfach und bloß moralisch zu verurteilen. Doch bei allem Verständnis dürfen wir ähnlich wie bei Ross und ReiterIn, die in die gleiche Richtung gehen, nicht vergessen, wer kommandiert – die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse – und wer gehorcht – ihre prekär ausgebeuteten Opfer!
Palenga-Möllenbeck fordert grundsätzliche Arbeit„nehmer“Innenrechte, regulierte Arbeitszeit, angemessene Bezahlung, systematische Lohnfortzahlung bei Krankheit und die Garantie, dass die Live-in-Pflegekräfte nicht pausenlos allein bereitstehen müssen, sondern auch andere Formen der Unterstützung einbezogen werden, etwa professionelle Pflegedienste oder teilstationäre Aufenthalte.
So weit, so gewerkschaftsnah und gut! Doch weiter: „Man läuft allerdings Gefahr, dass in so einem ,Pflegemix’ die weniger formalisierte, vergeschlechtlichte, ethnisierte Arbeit der Migrantinnen durch die professionelle Ergänzung weiter abgewertet wird. (…) Diese Arbeit komplett abzuschaffen, kommt mir gegenüber den betreuenden Pflegekräften aber bevormundend vor.“ (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1142884.altenpflege-osteuropaeisch-weiblich-aelter-und-aufopfernd.html)
Hier liegt der Hase im Pfeffer! Weil sich die Soziologin diese Arbeit schlicht nur als informelle vorstellen kann, weil die für den Pflegebereich zuständigen Gewerkschaften keine besseren Alternativen vorzuweisen haben als das „Arbeitgebermodell“ mit seinen Folgen für die Retraditionalisierung der Geschlechterrollen in den deutschen Familien, verfügen sie nicht über den Schlüssel, der ihnen im ersten Schritt die Tür zum Normalarbeitsverhältnis in der gesamten Branche öffnet. Diesen Schlüssel muss man sowohl den „SozialpartnerInnen“ wie dem bürgerlichen Staat entreißen! Die Methode nennt man übrigens Klassenkampf.
Die vollständige Gleichstellung dieses weiblichen und rassistisch unterdrückten Prekariats mit allen anderen, tariflich gesicherten Lohnarbeitsverhältnissen setzt zunächst die finanzielle Stärkung der gesetzlichen Pflegeversicherung voraus. Wir haben unsere Vorstellungen im Artikel Ver.di und die gesetzliche Pflegeversicherung ausführlich dargelegt.
Doch müssen wir auch fordern, dass die Live-in-Pflege als 3. Säule abgeschafft gehört und dass alle Beschäftigten in der Gesundheits- und Altenpflege zu Fachkräften qualifiziert werden, die zwischen Krankenhaus, Altenheim, ambulanten Diensten und Familien rotierend einsetzbar sind. Wie im Gesundheitswesen herrscht gerade in Deutschland auch in der Altenpflege zwischen stationärem und ambulantem Bereich eine fast unüberwindbare Kluft. Diese muss vollkommen überbrückt werden. Die Betreuung bzw. Behandlung sollte so weit wie möglich am Lebensmittelpunkt der zu Betreuenden/PatientInnen erfolgen. Dazu erfordert es zum Beispiel:
Dies alles würde Gesundheitsvorsorge und Pflege nicht nur sicherer machen und näher an die hilfesuchende Person bringen, sondern auch rationeller und volkswirtschaftlich günstiger ausgestalten.
Zudem geben diese Eckpunkte einen Vorgeschmack auf das Leben, das die traditionelle Familie nach und nach ersetzen wird, was wir auf diesem Sektor mit wirklicher Vergesellschaftung, Sozialisierung des gesamten Reproduktionssektors meinen. Im Kommunismus sollte es keinen Unterschied in Aufmerksamkeit, Liebe, Zuneigung und Fürsorge ausmachen, ob man mit Menschen biologisch und gesetzlich verwandt ist oder nicht. Ohne Einbußen jeglicher Art wird die Gesamtgesellschaft zur neuen wirklich partnerschaftlichen Gemeinsacht werden, wir alle miteinander eng verwandt. Vielleicht enger als mit biologisch oder gesetzlich bestimmten Verwandten, die wir uns nur bedingt aussuchen können …