Jürgen Roth, Infomail 1145, 13. April 2021
Im Artikel „Systemrelevanz oder Gotteslohn?“ beschäftigten wir uns mit der Ablehnung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung des zwischen der Gewerkschaft ver.di und einem kleineren Unternehmerverband in der Altenpflege ausgehandelten Tarifvertrags durch die Caritas. Die dabei zutrage tretenden Verhältnisse beleuchten jedoch nur einen Aspekt einer viel umfassenderen Krise im Bereich der Pflegeversicherung.
Allgemein stellt sich das als Finanzierungsproblem dar. Der Spitzenverband der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen beklagt schon länger zu wenig öffentliche Mittel und zu hohe Eigenanteile in der Pflegeversicherung. Im Schnitt müssten HeimbewohnerInnen derzeit 2.068 Euro/Monat – nach anderen Berechnungen 2.015 – zahlen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn plant darum eine Begrenzung des Eigenanteils und einen Zuschuss des Bundes, setzt aber gleichzeitig auf private Vorsorge.
Ver.di rechnet mit folgenden monatlichen Durchschnittskosten pro Heimplatz: 455 Euro Investitionskosten, 774 Euro Verpflegung und Unterkunft, 786 Euro Eigenanteile. Die Durchschnittsrente beträgt demgegenüber aber nur 954 Euro.
Sylvia Bühler, im ver.di-Bundesvorstand für die Beschäftigten im Gesundheitswesen und für Gesundheitspolitik zuständig, fordert eine „gute pflegerische Versorgung und deren auskömmliche und gerechte Finanzierung“. Die hohen Belastungen führen schon im Normalbetrieb zur Flucht etlicher Pflegekräfte aus dem Beruf oder in Teilzeit. Derzeit ist die Personalausstattung in den Pflegeheimen von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich und nicht verbindlich genug geregelt. Auf Drängen von ver.di und einigen anderen Verbänden hat die Bundesregierung ein Verfahren zur Personalbemessung in der stationären Altenpflege in Auftrag gegeben, dessen Ergebnisse Heinz Rothgang, Professor für Gesundheitsökonomie an der Uni Bremen, jüngst vorgelegt hat. Demnach sind für eine adäquate Versorgung 115.000 zusätzliche Vollzeitstellen vonnöten. Die Bundesregierung hat zunächst jedoch gerade 20.000 Hilfskräfte (!) bewilligt. Nun will sie das Bemessungsverfahren erproben und evaluieren, also verwässern.
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den 15.400 Pflegeheimen und 14.700 ambulanten Pflegediensten und die Kampfkraft der dortigen Beschäftigten werden von ver.di so gering eingeschätzt, dass eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung für notwendig erachtet wurde. Nach deren Scheitern hat die Gewerkschaft außer Ratlosigkeit jedoch nichts anzubieten, schon gar nicht einen politischen Streik für die dringend nötige Umsetzung des Tarifvertrages, die im Interesse der gesamten ArbeiterInnenklasse liegt (siehe: Ver.di Publik 1/2021, Fachbereich 3, S. 3).
Wer soll die Personalaufstockung und bessere Entlohnung bezahlen? Aktuell ist jede/r 3. HeimbewohnerIn auf Sozialhilfe angewiesen. Dieser Anteil wird laut Deutscher Angestelltenkrankenkasse (DAK) kurzfristig auf 37 % steigen. Steigende Kosten kämen allein auf die Versicherten und Pflegebedürftigen zu. Im Gegensatz zu Kranken- und Rentenversicherung haben sich die Unternehmen in den 1990er Jahren „ihren“ Beitrag durch die Streichung des bundesweiten Feiertags Buß- und Bettag erkauft. Nur in Sachsen blieb dieser erhalten. Dafür werden dort die Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung vollständig vom Bruttolohn abgezogen.
Spahn will in dieser Situation nur den pflegebedingten Eigenanteil auf höchstens 700 Euro monatlich für längstens 3 Jahre deckeln. Die Länder sollen 100 Euro pro Monat und Person an Investitionskosten übernehmen. Selbst mit dieser Bremse müsste noch ein Viertel der BewohnerInnen „Hilfe zur Pflege“ beantragen.
Konsequent wäre, so Barbara Suser, bei ver.di für Pflegepolitik zuständig, alle Pflegekosten durch die Pflegeversicherung zu finanzieren, wie es bei ihrer Einführung 1995 auch gedacht gewesen sei. Eine „Solidarische Pflegegarantie“ soll wie die gesetzliche Krankenversicherung alle Risiken übernehmen und die Leistungen dürften entsprechend der Lohnentwicklung dynamisiert werden. Zudem müssten die Bundesländer ihrer Pflicht zur Finanzierung von Investitionen nachkommen (455 Euro), die bislang größtenteils den BewohnerInnen auferlegt würde.
Sie schlägt daher vor, die gesamte Bevölkerung, also alle Einkommensarten in die Versicherung einzubeziehen und die Trennung zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung aufzuheben. Für die große Masse würde das eine umfassende Pflegegarantie mit ausreichend und besser bezahltem Personal bedeuten. Die Pflegeversicherung würde dabei durchschnittlich um 5 Euro/Monat erhöht werden. Bühler will dieses Vorhaben mit allen Pflegebedürftigen und ihren Familien, Arbeit„geber“Innen und PolitikerInnen, „die das Gemeinwohl im Sinn haben“, umsetzen. Wie blauäugig ist doch dieses krampfhafte Festhalten an der SozialpartnerInnenschaft mit Staat und Kapital angesichts des Scheiterns viel bescheidenerer Pläne wie dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag! Klassenkampf kommt für diese Spitzengewerkschafterin noch nicht mal als Wort vor, geschweige denn als bitter notwendige Realität angesichts verheerender Zustände in diesem systemrelevanten Bereich.
Die Vorschläge gehen immerhin in die richtige Richtung und übertreffen die Pläne der Bundesregierung deutlich. Wir kritisieren aber nicht nur, dass ver.di überhaupt keine Mobilisierung der KollegInnen dafür ins Auge fasst. Die Gewerkschaft fordert auch nicht, dass als erster Schritt die Rücknahme der Streichung des Feiertags und Wiedereinführung der traditionellen paritätischen Finanzierung wie in den anderen Zweigen der gesetzlichen Sozialversicherung erfolgen muss. Zudem macht sie nicht genug deutlich, dass dieses Prinzip bei allen Illusionen in Staat und Unternehmen gegenüber manchen Vorstellungen von Bürgerversicherung verteidigt gehört. Deren AnhängerInnen wie auch einige UnterstützerInnen des bedingungslosen Grundeinkommens möchten sich die Versicherungspflicht für alle gern durch Verzicht auf die sogenannten Lohnnebenkosten für die Unternehmen erkaufen. Da diese jedoch in Wirklichkeit der Verfügung der ArbeiterInnenklasse entzogene Bestandteile ihres Arbeitslohns darstellen, läuft die Forderung nach deren Kürzung letztlich auf eine Minderung des Arbeitslohns hinaus, also eine Umverteilung zugunsten des Kapitals.
Demgegenüber stellt selbst das tradierte Sozialversicherungswesen trotz seiner Illusionen in den „Unternehmensanteil“ und die staatliche Oberaufsicht einen Fortschritt dar. Dieses auf die Bismarck’sche Reform von oben zurückgehende System verkörpert sowohl eine Verallgemeinerung der Versicherung für alle Lohnabhängigen, also eine wichtige Errungenschaft der ArbeiterInnenklasse, als auch eine Verstaatlichung der einzelnen proletarischen beruflichen Hilfskassen, also die Ausschaltung der Kontrolle und Verwaltung durch die Lohnabhängigen bzw. von diesen gewählte Gremien.
Ausgehend von dieser Verteidigung eines wichtigen, aber widersprüchlichen Schutzes gegen die Zumutungen der freien Marktwirtschaft fordern wir:
Das in der reformistisch dominierten ArbeiterInnenbewegung vorherrschende ideologisierende Gerede vom „Sozialstaat“ drückt letztlich die höchst irdische heilige Dreifaltigkeit der SozialpartnerInnenschaft zwischen ArbeiterInnenklasse, Kapital und Staat aus, erkauft mit der Knebelung der von ArbeiterInnen gegründeten Hilfskassen. Um Illusionen in diese drittelparitätische Knebelung an Unternehmen und ihren Staat zu durchbrechen, reicht bloße Kritik an ihnen nicht aus. Damit die Klasse damit auch im wirklichen Leben zu brechen beginnt, müssen die Lohnabhängigen zur Verteidigung der bestehenden Errungenschaften mobilisiert werden. Nur im Kampf werden sie als Klasse erkennen, dass die eigene Kontrolle über die Versicherungskassen notwendig ist. Wie oben ausgeführt, stellen Sozialabgaben einen Teil des kollektiven Arbeitslohns dar. Folglich sollten für die vollständige Selbstverwaltung bzw. Kontrolle durch die Arbeitenden allein ihre Organisationen zuständig sein:
Die Krise der Pflegeversicherung verdeutlicht auch, dass der Kapitalismus immer wieder alle erkämpften Reformen, alle Bollwerke der ausgebeuteten Klasse angreift. In Zeiten der Krise gerät darüber hinaus das traditionelle Sozialversicherungswesen in eine Situation, in der die Schere zwischen Einnahmen und Ausgaben sich öffnet. Durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit etc. sinkt die Lohnsumme als grundlegende Einnahmequelle. Gleichzeitig steigen die Ausgaben, v. a. in der Arbeitslosenversicherung.
Auf der Anbieterseite operieren private, kapitalistische bzw. staatliche und frei-gemeinnützige Träger nach dem Prinzip der Rationalität jeden Kapitals. Für sie stellen Versicherungen einen möglichst profitablen Geschäftszweig wie jeden anderen dar. Letztlich kann diese Tendenz im Kapitalismus nie überwunden wurden werden. Erst auf Grundlage der Enteignung der herrschenden Klasse kann der gesamtgesellschaftliche Produktions- und Reproduktionsfonds, also die materielle Basis der Gesellschaft kollektiv und demokratisch kontrolliert und geplant entwickelt werden.
Der Kampf um ArbeiterInnenkontrolle im Rahmen der bestehenden Gesellschaft stellt dabei eine Übergangsforderung dar, einen Schritt, die privaten Profitinteressen zurückzudrängen und zugleich die Stellung der Lohnabhängigen zu stärken. Das macht aber auch verständlich, warum eine solche Kontrolle nur im Klassenkampf, durch politische Massenstreiks errungen werden und warum sie selbst im Kapitalismus nur als Übergangsform existieren kann. Nehmen wir einmal an, die Sozialversicherung würde von gewählten Gremien der Lohnabhängigen kontrolliert und die UnternehmerInnen hätten darin nichts zu sagen, so würden letztere diese Errungenschaften bei erster Gelegenheit in Frage stellen und angreifen. Der Klassenkampf würde sich also verschärfen, bis zum Kampf um die Reorganisation der gesamten Gesellschaft im Interesse der Mehrheit, bis hin zu einer sozialistischen Umwälzung. Diese innere Logik erklärt freilich auch, warum die reformistischen Parteien wie SPD und DIE LINKE sowie die Gewerkschaftsbürokratie an der SozialpartnerInnenschaft eisern festhalten wollen, selbst wenn sie das Kapital aufkündigt. Eine klassenkämpferische Opposition in den Gewerkschaften, alle linken und klassenkämpferischen Kräfte müssen hingegen einen Bruch mit der SozialpartnerInnenschaft einfordern und einen entschlossenen gemeinsamen Kampf. Dazu schlagen wir folgende Losungen vor: