Markus Lehner, Neue Internationale 2021, Juli/August 2021
Offiziell waren die Präsidentschaftswahlen in Peru am 6. Juni gelaufen. Beim ersten Wahlgang Anfang April waren überraschenderweise der „linke“ Außenseiter Pedro Castillo (18,9 %) und die durch Korruptionsvorwürfe stark angeschlagene Establishment-Kandidatin Keiko Fujimori (13,4 %) vor allen anderen noch schwächer abgeschnitten habenden KandidatInnen gelegen. In der Stichwahl zwischen den beiden lag schließlich Castillo knappe 40.000 Stimmen (bei über 18 Millionen WählerInnen) vor Fujimori. Dieser enge Abstand führte zu einer Überprüfung durch die Wahlbehörden (in Peru das Jurado Nacional de Elecciones,, JNE; Nationales Wahlgericht). Das mag noch nachvollziehbar sein. Allerdings deutet die Dauer der „Überprüfung“ von über einem Monat samt der Mobilisierungen der Rechten darauf hin, dass hier etwas Tiefgehenderes vor sich geht.
Die Präsidentschaftswahl fand in einer äußerst zugespitzten Krisensituation statt. Erstens führten geringer werdendes Wirtschaftswachstum, das Sinken der Exporte und wachsende Schulden schon an sich in eine Wirtschaftskrise, die durch die Corona-Pandemie zum Desaster wurde. Zweitens mündete dies in einer enormen sozialen Krise. Der informelle Sektor stieg von ohnedies schon für Lateinamerika hohen 75 % der Bevölkerung auf an die 90 %. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter extremen Armutsbedingungen. Insbesondere in den ländlichen, von indigenen Menschen bewohnten Gebieten, aber auch in den Armutsvierteln der Hauptstadt Lima herrscht eine prekäre Versorgungslage für so gut wie alles. Drittens ist in der Pandemie das Gesundheitssystem praktisch zusammengebrochen. Peru hat mit fast 200.000 Toten bei 32 Millionen EinwohnerInnen die größte Corona-Opferzahl pro Kopf auf der Welt. Viele flüchteten aus den Städten, womit sich die Situation auf dem Land noch weiter verschlechterte.
Viertens befindet sich Peru seit mehreren Jahren in einer schweren politischen Krise. Die letzten 5 Jahre sahen 4 verschiedene Präsidenten und zwei Kongresswahlen. Die politischen Institutionen blockieren sich gegenseitig. Massenproteste gegen korrupte und unfähige Regierungen lösten sich mit Amtsenthebungsverfahren und Parlamentsauflösungen teilweise im Wochenrhythmus ab. Praktisch alle traditionellen Parteien sind diskreditiert oder befinden sich in Neuformierungsprozessen.
Schon 2011 war ein sogenannter Linker gegen Keiko Fujimori zum Präsidenten gewählt worden: der Ex-Offizier Ollanta Humala. Dieser hatte bei seinem Wahlantritt 2006 noch die „bolivarischen Revolutionen“ als Vorbild genannt, 2011 dann nur noch Brasiliens sozialdemokratischen Staatspräsidenten Lula da Silva. Den Versprechungen zur Verstaatlichung des Bergbaus und zum Ausbau des Sozialsystems folgte dann jedoch nichts – außer dass Humala seit Ende seiner in einen schwerwiegenden Korruptionsprozess rund um den brasilianischen Odebrecht-Konzern verstrickt ist. Die linksnationalistische UPP (Unión por el Perú; Union für Peru) genauso wie die traditionelle peruanische Partei des Linksnationalismus, die APRA (Alianza Popular Revolucionario Americana; Amerikanische Revolutionäre Volksallianz), sind seither diskreditiert und an den Rand des politischen Geschehens gedrängt.
Seit 2013 wurde damit die „Frente Amplio“ (Breite Front) zur stärksten parlamentarischen Kraft der Linken. Sie war ein Bündnis der kommunistischen Partei, mehrerer sozialdemokratischer und grüner Parteien sowie linksbürgerlicher Gruppierungen. Bei den Parlamentswahlen 2016 erhielt sie 20 von 130 Sitzen im Kongress. Ihre bekanntesten Führungsfiguren sind einerseits die Sozialistin Verónika Mendoza und der Priester und Umweltaktivist Marco Arana. Aufgrund des Versuchs von Arana, die Front mehr oder weniger in eine von ihm geführte grüne Partei umwandeln zu wollen, spaltete sich der Wahlblock. Die sozialistisch orientierten Parteien formten neue Wahlallianzen, die 2021 als „Gemeinsam für Peru“ (Juntos por el Perú, JPP) antraten, mit 7,8 % für Mendoza als deren Spitzenkandidatin (bei der Wahl 2016 hatte sie noch über 18 % erhalten).
Überraschenderweise etablierte sich 2021 jedoch die bis dahin eher unbekannte Partei Perú Libre (Freies Peru) als stärkste „linke“ Kraft. Diese Partei war ursprünglich das Produkt eines Provinzgouverneurs, Vladimir Cerrón, der damit über seine randständige Provinz Junin (im zentralen Hochland von Peru) ein nationales Standbein aufbauen wollte. Auch wenn er seiner Partei nach außen ein „marxistisches“ und „leninistisches“ Profil gab, war er zu eigentümlichen Wahlbündnissen z. B. mit der libertären Partei bereit (seine Präsidentschaftskandidatur 2016 blieb aber jenseits der Wahrnehmungsschwelle). Aufgrund schwerwiegender Korruptionsvorwürfe in Zusammenhang mit seiner Gouverneurstätigkeit war aber klar, dass er selbst nicht für die Partei zur Wahl 2021 antreten konnte.
Zunächst wurde mit der JPP über eine gemeinsame Kandidatur verhandelt, die aber in dieser wegen des „kriminellen“ Rufes von Cerrón auf große Vorbehalte stieß. Daher entschloss man sich schließlich, getrennt anzutreten und für die Perú Libre Pedro Castillo aufzustellen – der kein Berufspolitiker ist, sondern Grundschullehrer. Landesweite Bekanntheit erlangte er 2017 als kompromissloser und der Basis verpflichteter Anführer des Lehrerstreiks. Damals schon verband er die gewerkschaftlichen Forderungen der LehrerInnen mit einer Anprangerung des Elends der SchülerInnen selbst, mit dem die Schulen vollkommen überfordert sind. Seine Glaubwürdigkeit als unbestechlicher Anwalt der sozial Schwachen katapultierte Castillo in der Situation der aktuellen Krise sofort an die Spitze der Umfragen zur Präsidentschaftswahl.
Auch wenn die Rechte bis zur Stichwahl eine Unmenge an antikommunistischer Polemik gegen Castillo lostrat, konnte dies offensichtlich seine Popularität insbesondere in den sozial benachteiligten Regionen von Peru, aber auch in den Armenvierteln von Lima nicht entscheidend schwächen. Dabei sind weder seine Partei Perú Libre noch Castillo selbst eine gefestigte linke Kraft. Seine Wahlversprechen drehten sich um eine „neue Verfassung“, die die neoliberalen Reformen der Fujimori-Zeit zurückdrehen sollte, und um die Verstaatlichung des Bergbausektors – nichts anderes als das, was zuvor auch die LinksnationalistInnen wie Humala versprochen hatten. Dazu kommt, dass Castillo abseits der sozialen Forderungen ein äußerst konservatives Programm vertritt: gegen eine Liberalisierung des strengen Abtreibungsrechtes, gegen die Homo-Ehe, gegen eine Beschränkung der Vorrechte der katholischen Kirche etc. Skandalös war auch ein Interview, in dem er die fürchterlichen Ausmaße der Femizide in Peru herunterspielte und diese als Auswuchs von Langeweile wegen der hohen Arbeitslosigkeit verharmloste.
Hinzu kommt, dass Perú Libre zwar jetzt auch stärkste Partei im Kongress ist (mit 37 von 130 Abgeordneten), aber stark auf Koalitionspartnerinnen, auch jenseits der JPP, angewiesen ist. Letztere stellt zudem gegenüber der Newcomerpartei PL auch sehr viel mehr „ExpertInnen“ für die Regierungsarbeit. Daher stammen auch bereits die wichtigsten WirtschaftsberaterInnen von Castillo aus diesem Teil des politischen Establishments. Und natürlich haben sie Castillo bereits Erklärungen zu Themen Verstaatlichung der Bergbauindustrie diktiert, die die globalen Märkte beruhigt haben. Man muss nur ins Nachbarland Chile blicken, um zu sehen, wie auch der Prozess der Bildung einer verfassunggebenden Versammlung in vom Kapital kontrollierte Bahnen gelenkt werden kann.
Die entscheidende politische und ökonomische Wende in Peru, die mit den verschiedenen Experimenten des Linksnationalismus gebrochen hat, vollzog sich in den 1990er Jahren unter Keiko Fujimoris Vater Alberto. Wie in ganz Lateinamerika kam es mit dem „verlorenen Jahrzehnt“ in den 1980er Jahren zu einem völligen Buch mit dem Modell der sog. importsubstituierenden Industrialisierung. In Peru speziell bedeutete dies die völlige Abkehr von staatlicher Industrialisierung und den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen des Landes an internationale Konzerne. Marktliberalisierung und Neoextraktivismus gingen einher mit Abbau von Gewerkschaftsrechten, von sozialen Sicherungssystemen und einer extrem brutalen militärischen Bekämpfung jeglichen Widerstands, nicht nur der atavistischen maoistischen Guerilla des „Leuchtenden Pfades“. Bei Letzterem entwickelte das Fujimori-Regime auch einen extremen Rassismus gegen indigene Menschen, der bis zu Zwangssterilisierungsprogrammen führte. Fujimori ist überhaupt ein Beweis dafür, wie eng Rassismus und Liberalismus in Wirklichkeit immer noch verbunden sind.
Auch wenn er später bei Teilen des Establishments in Ungnade fiel (er wurde 2009 aufgrund seiner offensichtlichen humanitären Verbrechen zu 25 Jahren Haft verurteilt), so wurde von keiner der folgenden Regierungen grundlegend etwas am neoliberalen Zuschnitt seiner Reformen verändert. Auch Castillos Versprechen, eine Verfassung zu begründen, die das „System Fujimori“ beendet, wird nicht umzusetzen sein, wenn es nicht eine grundlegende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse samt Zerschlagung des bestehenden (bewaffneten) Staatsapparates geben sollte.
Allerdings ist offensichtlich, dass selbst die sehr vagen Ankündigungen von Castillo für die Herrschenden in Peru einen Grund zur Nervosität liefern. Dies war schon sichtbar an der krassen antikommunistischen Rhetorik während des Wahlkampfes, mit der die Gefahr eines neuen Venezuela beschworen wurde. Nach dem knappen Wahlerfolg von Castillo am 6. Juni setzte dann eine beispiellose Kampagne gegen die drohende Amtsübernahme durch den „Kommunisten“ ein.
Schon Donald Trump hat gezeigt, wie heutzutage die extreme Rechte mit Wahlen umgeht. Ein nicht passendes Wahlergebnis wird einfach als Betrug deklariert und alle entgegenstehenden Beweise werden als Fälschungen abgewiesen. Der Wahrheitsgehalt ist dabei nicht entscheidend, sondern die Massivität der Mobilisierung für den Wahlfälschungsvorwurf, der eine genügend umstürzlerische Wirkung entfalten muss. Dabei spielen Rassismus und Klassenhass eine wesentliche Rolle. Das Zentrum des Wahlbetrugsvorwurfs ist eigentlich, dass bestimmte „minderwertige“ Menschen gar nicht wählen können dürften bzw. sich das Wahlrecht irgendwie „unrechtmäßig“ erschwindelt hätten. Dazu kommen natürlich große „globalistische“ Verschwörungen, die die Wahlmaschinen oder die Wahlbeobachtung manipuliert hätten (der antisemitische Unterton mag dabei einmal offener, einmal wenig zum Vorschein kommen).
Auch in Peru sind die Beweise für Wahlbetrug praktisch nicht vorhanden. Alle WahlbeobachterInnen haben dem Verfahren ein mustergültiges Zeugnis ausgestellt. Selbst die sonst bei linken Erfolgen eher „kritischen“ BeobachterInnen der OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) oder der USA haben nichts von Betrug wahrgenommen. Trotz alledem hat Fujimori eine wahre Armada der besten AnwältInnen des Landes aufstellen können, die das Wahlgericht mit Klagen im Umfang von 200.000 Stimmen überrollt hat. Auch wenn dieses bisher nichts gefunden hat, das größere Unregelmäßigkeiten erkennen lässt, wurde damit genug Sand ins Getriebe geworfen, um parallel mit rechten Massenprotesten starten zu können. Ein immer größer werdender rechter Mob droht mit immer aggressiveren Ausschreitungen – bei den Kundgebungen werden die Konquistadorenkreuze zusammen mit dem Hitlergruß gezeigt, um zu betonen, dass Peru „europäisch“ ist und nicht in die Hände „kommunistischer Indios“ kommen dürfe. Dazu kommen Aufrufe tausender Ex-Militärs, die ihre aktiven KameradInnen dazu auffordern, „Peru vor dem Kommunismus“ zu retten. Auch Nobelpreisträger wie der Dichter Vargas Llosa erklären sich inzwischen für den Eingriff des Militärs zur „Rettung des Vaterlands“. Tatsächlich ist bei einer weiteren Verzögerung der Verkündung des endgültigen Wahlresultats und gleichzeitiger Paralyse des Kongresses ein Eingreifen des Militärs womöglich nicht mehr in weiter Ferne.
Die rechte, antidemokratische Mobilisierung muss mit aller Macht in die Schranken gewiesen werden. Bei aller Kritik an Castillo und den linksreformistischen und populistischen Parteien, die er vertritt, müssen die demokratischen Rechte samt der Anerkennung von Wahlergebnissen verteidigt werden. Dies bedeutet auch, dass gegen die gewaltsamen Proteste der Rechten auch entsprechende Massenmobilisierungen und Selbstverteidigungsauschüsse von ArbeiterInnen, Indigenen, der ländlichen Armut sowie aller anderen unterdrückten Sichten der Gesellschaft organisiert werden müssen. Gegen jegliche Versuche, die demokratischen Rechte auf autoritäre Weise – sei es durch einen Militärputsch oder durch eine Aberkennung des Wahlsiegs durch die Wahlkommission – zu unterdrücken, muss der Generalstreik auf Grundlage der Basisorgane des Gegenprotestes und der Gewerkschaften organisiert werden. Diese Mobilisierung der ArbeiterInnen, Indigenen und armen Bauern/Bäuerinnen muss auch genutzt werden, um die von Castillo versprochene verfassunggebende Versammlung in ein Organ zu verwandeln, deren Wahl und Einberufung von ebendiesen Organen kontrolliert und überwacht wird.
In einer solchen verfassunggebenden Versammlung müssten RevolutionärInnen einen offenen Kampf für eine sozialistische Umwandlung, für die Enteignung des peruanischen und ausländischen Großkapitals unter ArbeiterInnenkontrolle, für die Streichung der Auslandschulden und die Enteignung des Großgrundbesitzes führen. Sie müssten für einen Sofortplan zur Bekämpfung von Armut und Pandemie eintreten.
Um dies zu sichern, wird der Kampf selbst den Rahmen einer solchen Versammlung sprengen müssen. Für eine sozialistische Umwälzung muss der bestehende bürgerliche Staats- und Repressionsapparat zerschlagen werden und die einfachen SoldatInnen müssen auf die Seite der Massen gezogen werden, indem sie sich weigern, den putschistischen Gelüsten der Rechten zu folgen und SoldatInnenkomitees und -räte bilden, die unabhängig vom militärischen Kommando agieren. Vor allem aber müssen die Strukturen des Kampfes gegen einen möglichen Putsch und für entschiedene Reformen in Räte und bewaffnete Organe zur Verteidigung dieser Umwälzung weiterentwickelt werden. Angesichts des Zustandes der Linken in Peru wird diese Zielsetzung letztlich nur erreicht werden können, wenn sich im Kampf um proletarische Unabhängigkeit in dieser Linken eine tatsächliche revolutionäre ArbeiterInnenpartei herausbildet, um diesen zum Sieg zu führen!