Liga für die Fünfte Internationale, 3. Juni 2021, Neue Internationale 256, Juni 2021
Die massive Reaktion des palästinensischen Massen auf die israelischen Siedler- und Polizeiprovokationen in Sheikh Jarrah und an der al-Aqsa-Moschee, die anschließende Bombardierung des Gazastreifens und der politische Sieg des Widerstandes, der die israelische Regierung und die IDF zu einem Waffenstillstand zwingen konnte, haben zu einem politischen Raum für die Befreiungsbewegung geöffnet.
Weltweit gingen Millionen auf die Straße in Solidarität mit den Unterdrückten. In Palästina selbst erhoben sich die Massen in allen Teilen des Landes, im Westjordanland, in Ostjerusalem, in Israel und im Gazastreifen sowie wie in der Diaspora in den arabischen Ländern oder im Westen. Wir wurden ZeugInnen eines vereinten Widerstands in einem Ausmaß, wie man es seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, was eine neue Entschlossenheit an der Basis widerspiegelt. Darüber hinaus markierte der Generalstreik eine neue, gemeinsame Aktion von ArbeiterInnen und KleineigentümerInnen. Vor allem aber betrat eine neue Generation kämpferischer Jugendlicher die politische Bühne.
Das schiere Ausmaß der Mobilisierungen stellte bestehende Vorstellungen von dem, was möglich ist, in Frage und warf Fragen nach den zukünftigen Zielen, der Strategie und Taktik der Bewegung auf. Kurzum, es erhob und erhebt sich die Frage nach einem Kampfprogramm. Die Aussicht, dass eine neue Vorhut entsteht, ist besonders wichtig, da sie die Möglichkeit eröffnet, die Führungskrise zu überwinden, die die gesamte palästinensische Nation lange Zeit heimgesucht hat. Diese neue Avantgarde kann zur Basis einer neuen Führung der ArbeiterInnenklasse werden, die den nationalen, demokratischen Kampf mit der sozialistischen Transformation verbinden kann; mit dem Ziel, einen einheitlichen Säkularen, demokratisch und sozialistisch Staat zu schaffen.
Während die Hamas und einige der anderen entschlosseneren Kräfte sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken sicherlich ihr Prestige und ihre Unterstützung gesteigert haben, wäre es falsch, dies als stabile, unerschütterliche politische Loyalität oder umfassende Zustimmung zu betrachen. Die Hamas und andere Kräfte haben vor allem von dem völligen Versagen der Fatah-Mehrheit und der Palästinensischen Nationalen Autonomiebehörde (PNA) profitiert, irgendeine Führung gegen die Strategie der israelischen Regierung von Vertreibungen und Siedlungen anzubieten. Im Gegenteil, ihre eigene Verhandlungsstrategie für das Hirngespinst einer Zweistaatenlösung hat sie zu nichts anderem als KollaborateurInnen gemacht, nicht nur mit dem US- und EU-Imperialismus und reaktionären arabischen Regimen wie Ägypten, sondern mit dem zionistischen Staat selbst.
Im Vergleich dazu hat der Heroismus der KämpferInnen der Hamas und des Islamischen Dschihad, der Volksfront zur Befreiung Palästinas, PFLP, und des radikaleren Flügels der Fatah natürlich die Massen inspiriert und ihre Autorität gestärkt. Dennoch verfügen auch sie weder über eine Strategie noch erfolgreiche Methoden des Kampfes, die die Befreiung des palästinensischen Volkes erringen können.
Der Generalstreik war in erster Linie ein Ergebnis des Drucks der Massen in Richtung auf die Methoden der Massenaktion der ArbeiterInnenklasse, die alle unterdrückten Klassen und Schichten der palästinensischen Nation hinter sich vereinte. Er markierte einen klaren Bruch mit den bevorzugten Methoden sowohl der IslamistInnen als auch der säkularen nationalistischen und linksnationalistischen/stalinistischen Kräfte. Die Formen der Selbstorganisation von unten, der lokalen Koordination des Streiks auf kommunaler Ebene, zeigen den Weg nach vorn und das Potenzial für eine neue Intifada, die auf der Massenaktion der ArbeiterInnenklasse fußt und allen unterdrückten Teilen der palästinensischen Gesellschaft eine Führung bietet.
Die letzten Wochen haben auch beträchtliche Spaltungen innerhalb des zionistischen Lagers offenbart, und diese werden mit dem Strategiewechsel der USA und anderer westlicher Mächte wahrscheinlich noch zunehmen. Netanjahu mag durch eine prinzipienlose Koalition von der extremen Rechten bis zu vermeintlichen Linken aus dem Amt entfernt werden und dies mag kurzfristig eine Neuwahl vermeiden, aber es wird die innere politische Krise des israelischen Staates nicht beenden.
Während der Waffenstillstand wahrscheinlich für das nächste Jahr, vielleicht auch länger, halten wird, werden alle grundlegenden Probleme ungelöst bleiben, auch wenn die USA und die EU sowie regionale Mächte wie Ägypten versuchen werden, den Druck für eine weitere Runde von Pseudoverhandlungen über eine „Zweistaatenlösung“ zu erhöhen. Es ist auch gut möglich, dass es über Ägypten und einige Finanzmittel von imperialistischen oder arabischen Staaten Versuche geben wird, die Hamas einzubinden und zu befrieden.
Wie weit die Lösung eines der grundlegenden Probleme entfernt ist, zeigt sich an den anhaltenden Kämpfen in der Westbank, in Ostjerusalem und in Israel selbst. Es gab große Zusammenstöße zwischen PalästinenserInnen, die ihre Häuser auf den Straßen verteidigten, und der Polizei und den rechten zionistischen Kräften. Die Aufgabe besteht nun darin, diesen Massenkampf gegen Zwangsräumungen und für gleiche Rechte fortzusetzen und zu verallgemeinern.
Die wichtigsten Forderungen sind:
Diese und andere unmittelbare demokratische Forderungen werden nicht durch Verhandlungen durch die Hintertür zwischen dem israelischen Staat und der PNA, vermittelt durch arabische Regime und imperialistische Mächte, gewährt werden. Sie müssen durch Massenkämpfe errungen werden.
Wir brauchen Massendemonstrationen, Proteste, Besetzungen und Streiks, aufbauend auf den Erfahrungen und Formen der Selbstorganisation, die in der letzten Periode entwickelt wurden, insbesondere durch die Organisation des politischen Massenstreiks im Mai. Der Kampf muss von lokalen Aktions- und Streikkomitees in den Betrieben geführt und organisiert werden. Massenaktionen und Streiks müssen von Selbstverteidigungsorganisationen gegen rechte SchlägerInnen, bewaffnete SiedlerInnen und israelische Streitkräfte geschützt werden. Die Sicherheitskräfte der PNA müssen von diesen Aktionskomitees kontrolliert und reorganisiert werden, damit sie Teil eines Selbstverteidigungssystems unter der Kontrolle der palästinensischen Massen werden und nicht eines Apparates unter der Kontrolle ihrer FeindInnen.
Solche Aktionskomitees müssen lokal und in ganz Palästina zentralisiert werden, um eine Führung für den Befreiungskampf zu schaffen, die gewählt, abwählbar und den Massen gegenüber rechenschaftspflichtig ist. Unter deren Kontrolle sollte auch eine verfassunggebende Versammlung einberufen werden, um das Demokratiedefizit der PNA zu überwinden und die zukünftige demokratische und soziale Ordnung der palästinensischen Nation zu diskutieren und zu bestimmen.
Die Entwicklung hat eine Zweistaatenlösung zu einer völligen Utopie gemacht. Dies spiegelt sich auf seine Weise in den zentralen Forderungen der aktuellen Bewegung wider, die auf gleiche Rechte in einem Staat abzielen. Diese würden die Auflösung der eigens definierten jüdisch-israelischen Staats selbst und seine Ersetzung durch einen bi-nationalen Staat bedeuten. Keineswegs würde das die Existenz der jüdisch-israelischen Nationalität in Frage stellen. Viele Staaten beherbergen mehr als eine Nation in sich. Aber das „Existenzrecht“ eines israelisch-jüdischen Staates auf Land, das der palästinensischen Nation gestohlen wurde, ist kein demokratisches Recht oder kein Ausdruck von Selbstbestimmung. Es kann kein demokratisches „Recht auf Existenz“ für einen rassistischen Staat geben, der darauf angewiesen ist, die PalästinenserInnen unerbittlich ihres Landes und ihrer demokratischen Rechte zu berauben. Deshalb kann der israelische Staat nicht reformiert, sondern muss aufgelöst und durch einen säkularen, demokratischen, binationalen Staat ersetzt werden.
Die gegenwärtige politische Krise des Zionismus sowie die wachsende soziale Ungleichheit innerhalb Israels selbst können auch das Terrain dafür liefern, die ideologische und soziale Einheit des Zionismus zu brechen. Ein Massenaufstand, eine dritte Intifada, angeführt von der palästinensischen ArbeiterInnenklasse in allen Teilen des Landes, mit Massenaktionen und politischen Massenstreiks kann diese Spaltungen vertiefen und den zionistischen Block entlang der Klassenlinien aufbrechen. Das bedeutet eindeutig, dass die kleinen, aber wichtigen antizionistischen Kräfte innerhalb Israels selbst unerbittlich gegen die zionistische Einheit anrennen müssen. Die Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts des palästinensischen Volkes ist nicht nur eine moralische und internationalistische Pflicht der ArbeiterInnen der unterdrückenden Nation, sie ist auch eine Voraussetzung für ihre eigene Befreiung von ihrer Klassenausbeutung durch die israelische Kapitalistenklasse.
Das wirft die Frage auf, wie die unterschiedlichen sozialen und demokratischen Forderungen zwischen den Nationen realisiert werden können. Um einen gerechten und friedlichen binationalen Staat mit gleichen Rechten für alle zu erreichen, darf der Kampf um die Befreiung nicht mit dem um demokratische Forderungen enden. Die Aktionsräte müssen auch die brennenden sozialen Fragen ansprechen, die Sicherung von Arbeitsplätzen, Löhnen, Renten und sozialen Dienstleistungen. Sie müssen die Notwendigkeit eines Programms für gesellschaftlich nützliche Arbeit ansprechen, der Kontrolle der Arbeiterklasse an den Arbeitsplätzen, in den Fabriken. Sie müssen die Landfrage und die der Kontrolle über die natürlichen Ressourcen Palästinas aufwerfen.
Um die demokratischen Forderungen der palästinensischen Massen zu verwirklichen und um einen Keil in das zionistische Lager zu treiben und Teile der jüdischen ArbeiterInnenklasse zu gewinnen, muss ein Programm zur Befreiung die wichtigsten Produktionsmittel in öffentliches Eigentum überführen. Die großen Finanzinstitutionen, die Banken, die großen Unternehmen müssen entschädigungslos enteignet werden. Das Land muss verstaatlicht und von denen kontrolliert werden, die es bebauen und dies auch weiterhin tun wollen.
So wie zwei Individuen nicht beide über exklusives Privateigentum an etwas verfügen können, können auch nicht zwei Völker beide exklusives Eigentum an einem Territorium besitzen. Die einzige fortschrittliche Lösung ist das Gemeineigentum, das heißt die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Deshalb ist unser Programm für Palästina die permanente Revolution, die zweifellos mit dem Kampf für demokratische Rechte, der Intifada, beginnen wird, aber nur durch sozialistische Maßnahmen endgültig erfüllt werden kann.
Dieser Kampf für ein sozialistisches Palästina, für einen binationalen ArbeiterInnenstaat, ist selbst Teil dessen für eine sozialistische Revolution in der gesamten Region, für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine politische Partei der ArbeiterInnenklasse notwendig, die dafür kämpft, dem Befreiungskampf auf der Grundlage des Programms der permanenten Revolution die Führung zu geben. Um dies zu erreichen, müssen sich die palästinensischen und die jüdischen antizionistischen ArbeiterInnen und Linken in einer revolutionären Partei vereinigen, die eine politische Alternative zur Irreführung durch reaktionäre islamistische, bürgerlich-nationalistische und kleinbürgerliche Guerillakräfte bieten kann.
Der Aufbau einer internationalen Solidaritätsbewegung wird der Schlüssel sein, um die Rückendeckung des zionistischen Staates, einer privilegierten Halbkolonie des US-Imperialismus, herauszufordern.
Die gigantischen Bewegungen in den USA und Großbritannien sowie radikalere direkte Aktionen gegen Rüstungskonzerne zeigten das enorme Potenzial, die palästinensischen Massen in der Diaspora, antizionistische und demokratische Kampagnen der jüdischen Gemeinschaft wie Jewish Voice for Peace, die sozialistische Linke, Gewerkschaften, linke Parteien und die Bewegungen der Unterdrückten wie Black Lives Matter zu vereinen.
In Ländern wie Deutschland, wo die Massenorganisationen der ArbeiterInnenklasse die Unterdrückung des palästinensischen Volkes und die Politik „ihres“ Imperialismus unterstützen, müssen wir uns dafür einsetzen, dass diese Organisationen mit dieser Politik brechen und sich auf die Seite der Unterdrückten stellen. Wo Gewerkschaften und ArbeiterInnenparteien Positionen der Solidarität mit den palästinensischen Massen eingenommen haben, müssen wir sicherstellen, dass ihren Worten Taten folgen. Es ist klar, dass die globale Solidaritätsbewegung sich so organisieren muss, dass sie in Koordination mit der Widerstandsbewegung in Palästina selbst handeln kann. Dafür schlagen wir die folgenden Forderungen vor, die in den imperialistischen Ländern errungen werden müssen: