Arbeiter:innenmacht

Parlamentswahlen in Israel: Oslo-Abkommen abgewählt

Robert Teller, Neue Internationale 241, Oktober 2019

Die israelischen Knessetwahlen am 17. September sollten Benjamin Netanjahu mit der Mehrheit ausstatten, die er bräuchte, um Premierminister zu bleiben. Sie haben aber die Liste Kachol Lavan (Blau Weiß) des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz knapp zur stärksten Kraft gemacht.

Kachol Lavan erhielt 25,95 % der Stimmen bzw. 33 Sitze in der Knesset, dem israelischen Parlament. Netanjahus Likud (Zusammenschluss) kam auf 25,10 % (32 Sitze). Selbst mithilfe verbündeter Parteien verfügt keines der beiden Lager über eine Abgeordnetenmehrheit.

Gantz, Befehlshaber der Gaza-Kriege 2012 und 2014, will mit der Person Netanjahu abrechnen und ist zu einer Koalition mit Likud nur unter der Bedingung bereit, dass Netanjahu nicht der Regierung angehört. Dieser wurde zwar erneut mit der Regierungsbildung beauftragt, aber dies ist nutzlos, solange keine Koalition unter seiner Führung möglich ist.

Wie bei der vorigen Wahl im April wird ihr Zustandekommen wohl unter anderem an Avigdor Liebermans Bedingung scheitern, die Befreiung ultraorthodoxer Juden und Jüdinnen von der Wehrpflicht abzuschaffen. Solange keine Partei ihre Wahlversprechen bezüglich einer Regierungsbeteiligung revidiert, sind wiederholte Neuwahlen wahrscheinlich. Mit den Mehrheitsverhältnissen in der Knesset ist auch Netanjahus Ziel, durch eine Gesetzesänderung Immunität vor Strafverfolgung zu erhalten, gescheitert.

Keine Illusionen in Gantz

Die Fehde zwischen Netanjahu und Gantz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Programme des Likud und der angeblichen Mitte-Links-Parteienliste Kachol Lavan weitgehend deckungsgleich sind – auch hinsichtlich der israelischen Kontrolle des Jordantals, des Status Ostjerusalems, der Besatzung der Westbank und der Ablehnung des Rückkehrrechts. Zusammen vereinigen sie 51 % der Stimmen auf sich. Weitere 19 % der Stimmen entfallen auf Parteien der religiösen Ultrarechten, 7 % auf die säkulare, völkische Partei Jisr’ael Beitenu (Unser Zuhause Israel) von Avigdor Lieberman. Die ehemals mächtige Awoda (Arbeitspartei) ist mit 5 % für ihre Liste nahe an der Bedeutungslosigkeit. 4 % erhielt die von der Meretz-Partei (Energie) angeführte Liste. Die Vereinigte Liste arabischer Parteien bildet mit 11 % der Stimmen immerhin die drittstärkste Fraktion in der Knesset. 10 ihrer 13 Abgeordneten haben allerdings ihre Unterstützung für eine Regierung unter Führung von Gantz erklärt, um einen Premier Netanjahu zu verhindern.

Die Wahlergebnisse zeigen, wie sehr sich die politischen Verhältnisse nach rechts verschoben haben. Mehr als drei Viertel der Stimmen entfallen auf rechte bis rechtsextreme Parteien. Auch wenn der Likud seine führende Rolle in einer Regierung verlieren sollte, prägen Kernelemente seines Programms die gesamte politische Landschaft im Staat Israel.

Scheitern der Zweistaatenlösung

Mit der Ankündigung, das Jordantal zu annektieren, beerdigt Netanjahu in offenem Bruch geltender Verträge und internationalen Rechts die sogenannte Zweistaatenlösung. Natürlich wird den PalästinenserInnen, die 85 % der Bevölkerung des seit 1967 besetzten Jordantals ausmachen, schon längst das Selbstbestimmungsrecht auch auf diesem Gebiet verwehrt. Das von Netanjahu beanspruchte Territorium besteht weitestgehend aus C-Gebieten, die nach den Osloer Verträgen unter alleiniger israelischer Kontrolle stehen. 85 % der Fläche darf von PalästinenserInnen nicht betreten oder genutzt werden. 46 % des Jordantals ist als militärisches Sperrgebiet deklariert. Hierunter fallen auch die israelischen Siedlungen. Faktisch steht es längst unter israelischer Souveränität. Die Annexion wäre der logische Abschluss der Besatzungspolitik seit 1967 – und ginge zugleich mit einer weiteren Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung einher.

Die Zweistaatenlösung diente 25 Jahre lang dem Zweck, das Besatzungsregime in der Westbank als lediglich vorübergehenden Zustand zu legitimieren. Die Frage, wie ein demokratischer Staat der Hälfte seiner Bevölkerung demokratische Rechte verweigern kann, wurde mit Verweis auf den zukünftigen palästinensischen Staat beantwortet, die Rechtlosigkeit der PalästinenserInnen mit den Umständen der Besatzung gerechtfertigt. Mit der Annexion der besetzten Gebiete würde der rassistische Charakter der Staatsverfassung Israels, die einem Teil seiner Bevölkerung aufgrund seiner ethnischen Herkunft staatsbürgerliche Rechte verweigert, noch deutlicher geraten und auf ein größeres Territorium und dessen Bevölkerung ausgeweitet werden. Das Scheitern der Zweistaatenlösung und die Annexion von Teilen der Westbank wird jeden Zweifel ausräumen, dass der „demokratische Staat“ in Wirklichkeit ein rassistischer Apartheidstaat ist.

Annexion und Expansion

Hinzu kommt, dass eine erfolgreiche Annexion des Jordantals mit großer Wahrscheinlichkeit nur einen Zwischenschritt zu Einverleibung der gesamten Westbank darstellen würde. Schon heute trommelt der rechtsextreme Avigdor Lieberman für diese „Lösung“, deren logisches Ende die Vertreibung und ein (schleichender) Völkermord wären.

Die sogenannte Zweistaatenlösung ist damit endgültig ins Reich der Träume verbannt. Mit der Annexion des Jordantals wäre nicht nur jede Hoffnung auf einen gleichberechtigten palästinensischen Staat neben Israel der Lächerlichkeit preisgegeben. Vielmehr wäre auch die zentrale Institution des „Oslo-Systems“, die Autonomiebehörde, hinfällig, die seit 25 Jahren für die Mitverwaltung der Westbank als verlängerter Arm der Besatzung zuständig war. Die „Palestinian Authority“, die aus dem Oslo-Prozess als Insolvenzverwalterin der geläuterten PLO entstanden ist, hätte ihren Zweck erfüllt. Ihr bliebe noch als letzte Amtshandlung, den Löffel abzugeben.

Die aggressive Politik droht unter jeder Regierungskoalition. Sie würde mit einer weiteren Abriegelung und Aushungerung der Bevölkerung in Gaza einhergehen, das ökonomisch weniger lukrativ für eine direkte Annexion erscheint, ebenfalls mit weiterer Aggression gegenüber dem Libanon und Iran – zumal für jedes dieser reaktionären Vorhaben mit der Unterstützung durch die USA und stillschweigendem Einvernehmen Saudi-Arabiens gerechnet werden kann.

Insofern ist die zionistische Rechte in Israel im Begriff, die Karten in Palästina neu zu mischen. Als erstes wird dabei die Illusion des demokratischen Staates Israel über den Jordan gehen. Womöglich mit dieser auch die sorgfältig errichteten Trennlinien zwischen 1948er-PalästinenserInnen einerseits und den BewohnerInnen Gazas, Ostjerusalems und der Westbank andererseits. Die Pläne der zionistischen Rechten werden zweifellos auf den erbitterten Widerstand der PalästinenserInnen stoßen.

Perspektive

Die führenden palästinensischen Vertretungen und die Fatah-geführte Regierung, die bis heute an der Illusion der Zweistaatenlösung festhalten, werden zu diesem Widerstand kaum mehr als nutzlose Appelle an die „Weltgemeinschaft“ und den israelischen Staat, den „Friedensprozess“ fortzuführen, beitragen (Fatah: Eroberung, Sieg). Fatah-Premierminister Mohammad Schtajjeh droht schon mal, alle Vereinbarungen mit Israel, denen dieses sich ohnehin nie verpflichtet gefühlt hat, auszusetzen.

Die einzige Alternative zum rassistischen Status quo, der zionistischen Einstaatenlösung, ist ein multinationaler, sozialistischer ArbeiterInnenstaat in ganz Palästina. Dieser kann nur durch den Sturz der israelischen Bourgeoisie mit Methoden des Klassenkampfes, durch PalästinenserInnen und fortschrittliche ArbeiterInnen und Unterdrückte in Israel erreicht werden. Die entschlossene, internationale Solidarität mit dem Widerstand der PalästinenserInnen stellt ein entscheidendes Element dar. Sie ist Aufgabe und Verpflichtung aller linken, fortschrittlichen und demokratischen Kräfte auf der Welt.

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