Svenja Spunck, Infomail 1016, 27. August 2018
Die russische Regierung kündigte im Juni 2018 eine weitreichende Rentenreform an. Der Hauptpunkt dabei ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters bei Frauen von 55 auf 63, bei Männern von 60 auf 65 Jahre. Was für Menschen in Deutschland nach Jammern auf hohem Niveau klingt, bedeutet in Russland arbeiten bis zum Tod, denn die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 65 Jahren.
Nicht zufällig wurde diese Reform während der Austragung der Fußball-WM angekündigt. Nach dem alten Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“ hatte man sich erhofft, die Bevölkerung in Zeiten des Vergnügens überrumpeln zu können. Doch obwohl aus „Sicherheitsgründen“ Proteste zunächst verboten waren, entlud sich die Unzufriedenheit der Bevölkerung in ersten größeren, landesweiten Protesten pünktlich zum Ende der WM.
Der Eintritt in die Rente bedeutet in Russland keineswegs, nicht mehr zu arbeiten. Rente ist vielmehr eine kleine finanzielle Unterstützung – rund 120 Euro –, die ab einem gewissen Alter an ältere ArbeiterInnen gezahlt wird. 12 bis 14 Millionen Menschen über dem Renteneintrittsalter sind momentan weiterhin an ihrem Arbeitsplatz beschäftigt. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters wird in erster Linie für eine weitere Prekarisierung und Verarmung der älteren Bevölkerungsschichten sorgen, birgt jedoch auch ein Potential zur Anhebung der Arbeitslosigkeit insgesamt.
Der Mindestlohn in Russland liegt, nachdem Putin ihn zu Beginn diesen Jahres an das Existenzminimum angepasst hatte, bei 11.000 Rubel (139 Euro) im Monat. Armut ist also auch unter der werktätigen Bevölkerung weit verbreitet. Rund 5 Millionen Menschen leben an dieser Existenzgrenze – trotz Vollzeitjobs.
Mit der Begründung, die Regierung müsse Einsparungen vornehmen, die sie angeblich in andere soziale Bereiche investieren wolle, sollen nun die ohnehin geringen Rentenausgaben gekürzt werden. Es ist kein Geheimnis, dass russische OligarchInnen zu den reichsten Menschen der Welt gehören. Jedoch ist es auch glasklar, dass sie bestens integriert sind in die staatliche Bürokratie und niemand dort auf die Idee kommen würde, ihre Vermögen anzutasten. Während für das Militär, staatliche Überwachung und Megabauprojekte Geld da ist, soll die Bevölkerung neoliberale Reformen schlucken.
Bei der Präsidentschaftswahl im März 2018 stand das Thema Rentenreform noch nicht auf der Tagesordnung. Putin war durchaus klar, dass solch eine Maßnahme nicht auf große Zustimmung treffen würde. Dies bestätigten dann auch die sinkenden Umfragewerte für ihn, nachdem das Vorhaben verkündet wurde. Die Strategie des Kremls bestand zunächst darin, der Duma die Verantwortung für die Reform in die Schuhe zu schieben. Als sich dann genug Frust angestaut hatte, verkündete Putin nach einem Monat des Schweigens, dass auch er Kritik an der Reform habe und dafür sorgen würde, dass diese noch einmal überarbeitet werde. In welcher Form das konkret passieren sollte, ist bisher nicht klar.
Während die Regierungspartei Einiges Russland so tut, als gäbe es Uneinigkeit über das Vorhaben, begann die Opposition mit ersten Protesten. Während zwar auch der rechte, neo-liberale Oppositionelle Alexei Nawalny zu einer Demonstration gegen die Reform aufrief, sind es in der Realität die Kräfte, die sich auf die ArbeiterInnenklasse stützen, welche die Proteste dominieren. Ende Juli folgten rund 12.000 Menschen in Moskau dem Aufruf der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation von Sjuganow. Außerdem gab es Proteste mit mehreren tausend TeilnehmerInnen in anderen Städten Russlands. Auf den Demonstrationen wurde der Rücktritt Ministerpräsident Medwedews gefordert sowie Putin als „Dieb“ bezeichnet. Über die KP, die in den letzten Jahren durchweg als loyale Opposition des Regimes fungierte, hinaus beteiligte sich ein großes Spektrum an linken Organisationen bis in die Sozialdemokratie hinein an den Aktionen. Einige TeilnehmerInnen und OrganisatorInnen wurden verhaftet. Ebenso war die Anti-Terroreinheit der Polizei, die „Russische Garde“, vor Ort.
Im Herbst soll die Rentenreform im Parlament erneut diskutiert werden und es wird die Fortsetzung der Proteste erwartet. Aufgrund der starken Repression gegen gewerkschaftliche und politische Organisierung mag die Kampferfahrung der russischen ArbeiterInnenklasse momentan noch gering sein. Doch allein die Proteste der letzten Wochen, an denen sich auch Jugend- und Frauenorganisationen beteiligten, zeigt deutlich, dass die Linke durchaus auf dem Weg zu einer Einheitsfront gegen die neoliberalen Angriffe ist. Die Ausweitung der Proteste wäre nicht nur in der Lage, die Reform zu verhindern, sondern auch eine linke Opposition aufzubauen. Das Thema der Rentenreform und deren weitgehende Ablehnung bietet eine gute Grundlage, andere Probleme der herrschenden Politik in Russland aufzugreifen. Die Forderung nach einem Regierungsrücktritt wurde bereits aufgeworfen. Um breite Teile der Bevölkerung zu erreichen, sollte auch die Forderung nach der Enteignung der OligarchInnen und der Einführung einer Mindestrente aufgeworfen werden, die die Lebenshaltungskosten deckt und automatisch an die Preissteigerungen angepasst wird.
Die Demonstrationen und Aktionen sind ein ermutigendes Beispiel und zeigen, dass auch die Herrschaft Putins nicht unerschütterlich ist. Entscheidend wird dabei sein, ob die Proteste über Demonstrationen hinaus zu einer politischen Streikbewegung werden, die das Land zum Stillstand bringen kann.