Jürgen Roth, Infomail 1058, 8. Juni 2019
Am 5. Juni tagte die alljährlich stattfindende Konferenz der GesundheitsministerInnen des Bundes und der Länder, diesmal in der sächsischen Metropole. Angesichts des akuten Pflegenotstands mobilisierte die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bundesweit zum Protest. 1.300 Pflegekräfte aus Krankenhäusern, Altenheimen und Rehaeinrichtungen marschierten vom Ankunfts- zum Tagungsort beim Steigenberger-Hotel und mussten mehr als 3 Stunden bei brütender Hitze auf die Ankunft des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn und seiner sächsischen Kollegin Barbara Klepsch (beide CDU) warten.
Sie mussten durch ein von zahlreichen Kolleginnen gebildetes Spalier schreiten. Ver.di hatte in Form eines olympischen Briefes von 400 m Länge zahlreiche Unterschriften von Pflegekräften mit der Aufforderung zum Handeln gegen den Pflegenotstand gesammelt. Diese Papierschlange ahmte symbolisch den Stafettenlaufs des in Athen entzündeten olympischen Feuers nach. Im den letzten Monaten waren Unterschriften in Hunderten von Pflegeeinrichtungen gesammelt worden, die den beiden PolitikerInnen in Leipzig überreicht wurde.
Laut ver.di fehlen allein in der Krankenpflege 80.000 Stellen. Die Bertelsmann-Stiftung prognostiziert, dass angesichts einer steigenden Zahl von Pflegebedürftigen in 10 Jahren 500.000 Vollzeitkräfte in der Pflege vakant sein werden. Spahn und Klepsch durften zur versammelten Schar sprechen. Der Bundesgesundheitsminister wähnt die Große Koalition auf einem guten Weg. Er nannte als Belege die neue Untergrenzenregelung (PpUVG) und das Pflegepersonalstärkungsgesetz (PpSG). Ver.di-RednerInnen wiesen darauf hin, dass das PpUVG ganz und gar keine Früchte getragen habe, sondern vielmehr die Untergrenzen des schlechtest besetzten Viertels der 4 Bereiche, die unter dieses fallen, jetzt zu neuen Regelbesetzungen auch in den anderen 3 Vierteln mutiert sind! Folglich kassierte der Bundesminister Pfiffe für seine Auslassungen.
Mit Händen und Füßen währte sich Spahn gegen die lautstark geforderte Abschaffung der Fallpauschalen (DRGs). Schließlich sei doch die Pflege ab 2020 davon ausgenommen und das schaffe doch keine einzige neue Pflegekraft am Krankenbett. Beide Behauptungen sind reine Demagogie. Die Pflege wird lediglich aus den allgemeinen Fallpauschalen herausgenommen. Das viel subtilere Damoklesschwert neuer Pflege-DRGs hängt weiter über Köpfen und Rücken der Beschäftigten. Selbst wenn diese noch nicht gleich ab 2020 eingeführt werden sollten, erfolgt bestenfalls eine Rückkehr zu einem bürokratischen Prozess eines gedeckelten Pflegebudgets. Schon das Pflegestellenförderprogramm 2016 und 2017 musste so hohe bürokratische Hürden überwinden, dass dessen Mittel nur zur Hälfte abgerufen wurden. So richtig es ist, dass mit der neuen Regelung ab 2020 noch keine einzige Pflegekraft neu eingestellt wird – dafür müsste zunächst das Wiederinkrafttreten der gesetzlichen Pflegepersonalregelung her –, so sehr „vergisst“ Spahn, dass die Konferenz dies weiterhin kategorisch ablehnt. Er unterschlägt auch, dass miese Arbeitsbedingungen und Bezahlung Pflegekräfte nach durchschnittlich 12 Jahren zur Flucht aus ihrem Beruf zwingen und ihre Rückkehr erschweren. Es sind nicht Faulheit und Unwille der Beschäftigten, die für den Notstand verantwortlich zeichnen, sondern die marktwirtschaftliche Durchdringung des Gesundheits(un)wesens und die Politik ihrer ClaqueurInnen und HelfershelferInnen in den Ministeriumsetagen – zuvorderst in der Person des Bundesgesundheitsministers selbst! Auf die Pferdefüße seiner Reformen haben wir schon in „Stückwerk Pflegepolitik“ hingewiesen.
An dieser waren mehr als 50 Verbände – Arbeit„geber“Innen, Gewerkschaften, VertreterInnen von Pflegeberufen und –bedürftigen – beteiligt. Die am 4. Juni vorgestellten Ergebnisse versprechen bundesweite Tarifverträge für Beschäftigte in der Pflege und die gleiche Bezahlung in Ost und West. Die auf Initiative von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sowie seinen SPD-KollegInnen Familienministerin Franziska Giffey und Arbeitsminister Hubertus Heil im vergangenen Jahr gestartete Aktion will dem Fachkräftemangel in dieser Branche neben höherer Bezahlung auch durch mehr Auszubildende, Ausbildungseinrichtungen (bis 2012 um 10 %) und Weiterbildungsplätze (5.000) entgegenwirken. Zudem soll die Anwerbung von ausländischen Fachkräften forciert werden, u. a. durch eine Fach- und Sprachausbildung in deren Herkunftsländern. LINKE-Chef Riexinger bemängelt nur eine zu knapp bemessene Zusatzfinanzierung – das Fallpauschalensystem als Wurzel der neoliberalen Umgestaltung kritisiert er nicht. Sozialverbände warnen vor erhöhten Eigenbeteiligungen der Pflegebedürftigen zur Finanzierung. Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, mahnt eine zeitnahe Pflegereform an.
Tatsächlich ist bei der Konzertierten Aktion gar kein Gesetz zustande gekommen. Es gibt lediglich 200 Seiten Papier mit Zusagen der Mitarbeitenden. Deren Kernaussage – bessere Bezahlung für Altenpflegekräfte – klingt zunächst einmal gut. Fachkräfte kamen hier 2017 im Mittel auf 2.740 Euro brutto monatlich (KrankenpflegerInnen: 3.340 Euro), unausgebildete AltenpflegerInnen nur auf 1.940 Euro. Und dies ist nur der Durchschnitt: gerade private Träger weichen davon oft deutlich nach unten ab.
Eine Mehrheit der Kommissionsmitglieder setzt sich sogar für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrags (TV) für die Altenpflege ein, der dann für alle Betriebe gälte. Derzeit gilt verbindlich nur ein Altenpflegemindestlohn von 10,55 Euro Ost bzw. 11,06 Euro West. Bevor Minister Heil das Arbeit„nehmer“entsendegesetz ändern lassen kann, auf dessen Grundlage dann der TV für die gesamte Altenpflegebranche gelten könnte, fehlen wichtige Verbündete wie die kirchlichen Träger, der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) und das Deutsche Rote Kreuz, die sich laut Abschlussbericht der Konzertierten Aktion gegen den Weg der Allgemeinverbindlichkeitserklärung ausgesprochen haben.
Ver.di hat bereits im Januar 2019 seine Forderungen für die Altenpflegestundenlöhne vorgestellt: 16 Euro Einstiegsstundenlohn für Examinierte und 12,84 Euro für Ungelernte. Doch Durchsetzungskraft und –wille der Gewerkschaft lassen im Pflegebereich zu wünschen übrig! Die Aktion in Leipzig gerade 1.300 Mitglieder auf die Beine – ein maues Ergebnis für eine bundesweite Mobilisierung. Letztes Jahr in Düsseldorf waren es noch 5.000 – 6.000. Zugegeben, ziemlich zeitgleich fanden die Streiks an den Unikliniken Essen und Düsseldorf statt. Aber schon bei der Pflegekonferenz in Hamburg und auf der Streikrechtskonferenz in Braunschweig wurde deutlich, dass auch der linke Teil des Apparats keine Großdemo an einem Wochenende gegen den Pflegenotstand wollte und diesen Vorschlag gegen Leipzig ausspielte. Statt sich auf eine solche bessere Art von Lobbypolitik und auf das fast ebenso stumpfe Instrument des Volksentscheids – just in Hamburg gescheitert – zu konzentrieren, gilt es, eine gesetzliche Pflegepersonalbemessung gemäß der eigenen Vorgaben an fehlenden Stellen zu erstreiken. Dieses Instrument, nicht nur das des Lohn-Tarifvertrag, muss auch für Altenpflege und Reha erkämpft werden! Statt auf eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung zu warten, muss eine Großdemonstration, vorzugsweise an einem Wochenende im Herbst, her sowie eine gewerkschaftliche Konferenz fürs gesamte Gesundheitswesen, die diese Forderungen bündelt und mit dem Kampf für einen auskömmlichen und verbindlichen Lohntarif in der Altenpflege in Form eines Vollstreiks verbindet. Heiße Luft hatten wir in Leipzig schon genug durchs Wetter. Dafür brauchen wir keine Gewerkschaft. Die muss ihren Namen mit dem Feuer des Klassenkampfes verdienen, sonst bleibt sie nur Treibhausgas!