Redaktion, Revolutionärer Marxismus 48, August 2016
Die Krise der Europäischen Union, der britische Brexit, der wachsende Rechtspopulismus und Rassismus auf dem Kontinent verdeutlichen – in Europa, vor allem in der EU und Eurozone, treten die grundlegenden Widersprüche unserer Periode deutlicher hervor als in anderen imperialistischen Staaten oder Zentren.
Kein Wunder! Die EU selbst ist von tiefen inneren Gegensätzen durchzogen. Es wurde zwar ein Binnenmarkt geschaffen. Aber, anders als die USA, China oder selbst Japan und Russland ist die Union kein einheitlicher Staat.
Mit der größer gewordenen Dominanz Deutschlands traten auch die Gegensätze während der Krise deutlicher hervor – und daran droht die EU zu zerbrechen.
Sicher weint kein/e Linke/r einem imperialistischen „Einigungsprojekt“ eine Träne nach. Zugleich sollte aber auch niemand vergessen: Der Zerfall der EU in einzelne „unabhängige“ Nationalstaaten, der Austritt aus der Union oder der Eurozone stellt auf der Basis des kapitalistischen Staates eine reaktionäre Antwort auf die Krise dar. Die Erweiterung der Produktivkräfte, ein größerer Wirtschaftsraum, engere, übernationale ökonomische Verbindungen, vereinheitlichtere Kommunikations- und Verkehrssysteme, größere Freizügigkeit der Arbeitskraft stellen einen Fortschritt dar, auch wenn sie unter der Ägide des Finanzkapitals „von oben“ durchgeführt wurden. Mit dem Zerfall der EU in einzelne Nationalstaaten werden auch die Grenzen zwischen den ArbeiterInnenklassen Europas wieder errichtet, wird die rassistische Abschottung weiter verstärkt. Darum waren und sind die Auswirkungen des Brexit reaktionär.
Die Krise der EU verdeutlicht aber auch eines. Die Kapitalistenklassen und die imperialistischen Staaten sind nicht fähig, den Kontinent zu einen. Es sind ihre eigenen Klasseninteressen, die einer Einigung im Wege stehen oder ihr allenfalls die Form der zeitweiligen Unterordnung anderer geben können. Als Alternative zur imperialistischen Einigung droht die Zersplitterung des Kontinents, die die Beherrschung der „schwächeren“ Staaten durch die tradierten europäischen oder außereuropäischen Mächte nicht aufheben, sondern ihr allenfalls eine andere Form geben wird. Die „nationale Unabhängigkeit“ einer vom Weltmarkt getrennten „eigenständigen“ Entwicklung ist eine reaktionäre Fiktion, in der imperialistischen Epoche eine Utopie.
Die einzig fortschrittliche Alternative zur Vereinigung des Kontinents unter der Herrschaft der Finanzkapitale Deutschlands, Frankreichs und ihrer Juniorpartner ist die Schaffung Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa.
Nur die ArbeiterInnenklasse vermag Europa zu einen. Dazu braucht sie jedoch eine politische Zielsetzung, eine Strategie, ein Programm und auch eine internationale, revolutionäre Partei. Diese Themen bilden den Rahmen dieser Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“.
Wir eröffnen sie mit drei Resolutionen, die der Kongress unserer internationalen Strömung, der Liga für die Fünfte Internationale, im Frühjahr 2016 verabschiedet hat.
Der erste Text „Internationale politisch-ökonomische Perspektiven“ ist eine umfangreiche, wenn auch thesenartige Darstellung der Weltlage.
Darauf folgen die „Abschlusserklärung des Kongresses“ und die Resolution „Die Krise der Europäischen Union und die Aufgaben der ArbeiterInnenklasse“.
Seit dem Kongress der Liga sind nur wenige Monate vergangen. Seither haben sich in vielen Regionen die politischen Ereignisse überstürzt. Das ist selbst ein Zeichen dafür, dass wir in einer historischen Krisenperiode, einer Phase des Umbruchs leben, die durch tiefe Krise des Gesamtsystems und durch den Kampf um eine Neuaufteilung der Welt gekennzeichnet ist. Eine solche Krise hat auch zur Folge, dass sich politische Veränderungen viel rascher vollziehen.
Auch wenn die Resolutionen des Kongresses mittlerweile durch eine ganze Reihe von politischen Entwicklungen ergänzt werden könnten, so haben diese umgekehrt die grundlegende Einschätzung vom März 2016 bestätigt.
Die Resolution zu Europa steht in diesem „Revolutionären Marxismus“ am Ende der Kongresstexte, weil sie auch den Übergang zu einem thematischen Schwerpunkt dieser Ausgabe bildet. Im Artikel „EU-Krise und die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“ beschäftigt sich Tobi Hansen mit den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Vereinigung Europas und legt dar, warum es notwendig ist, an die Losung Trotzkis und der frühen Kommunistischen Internationale anzuknüpfen.
Im Anschluss veröffentlichen wir eine Resolution des Internationalen Sekretariats der Liga für die Fünfte Internationale „Das Referendum über den Brexit und seine Nachwirkungen“ und die Polemik „Varoufakis rettet Europa“, die die sozial-demokratischen Rezepte des ehemaligen Finanzministers aufs Korn nimmt.
Darauf folgen zwei Texte, die sich mit dem zunehmenden Rassismus in Europa, seinen Ursachen und der Politik der ArbeiterInnenbewegung und Linken beschäftigen. Anne Moll und Martin Suchanek widmen sich dem Thema „Imperialismus, Rassismus und die deutsche Linke“ und unterziehen dabei die Strategie unterschiedlicher Strömungen einer Kritik. Darauf folgt die Resolution „Internationale Solidarität statt Nationalismus und Festung Europa“, die Arbeiter*innen*standpunkt und Gruppe ArbeiterInnenmacht im März 2016 gemeinsam verabschiedet haben und deren grundsätzliche politische Ausrichtung weiter aktuell ist.
Die Zerrüttung der Verhältnisse geht auch an den „tradierten“ politischen Organisationen nicht vorbei. Michael Märzen widmet sich ihnen und ihren Ursachen in einem Diskussionsbeitrag „Der Niedergang der SPÖ“. Im abschließenden Kapitel stellt er dar, welche Aufgaben sich daraus ergeben. Über die Tiefe und Signifikanz der SPÖ-Krise und die Bedeutung und Möglichkeiten des „Aufbruchs“ besteht allerdings im AST noch Diskussionsbedarf.
Die letzten beiden Artikelkomplexe beziehen sich auf die „radikale Linke“ in Deutschland und international. Wilhelm Schulz bilanziert in „Bilanz und Lehren eines Umgruppierungsprojekts“ die Geschichte, die Möglichkeiten und das Scheitern der „Neuen antikapitalistischen Organisation“ (NaO). Sein Beitrag wird durch Tobi Hansens Replik auf die NaO-Bilanzen von „Lila Wolken“, isl und RSB sowie ihrer Antworten auf die Dokumentierung der Auflösungserklärung der NaO abgerundet.
Schließlich veröffentlichen wir eine ausführliche Kritik der „Fracción Trotskista“ (FT), die in Deutschland durch RIO vertreten wird. Ihren Anspruch, den „orthodoxen Trotzkismus“ zu repräsentieren, vermag sie nicht einzulösen. Stattdessen tritt ihr workeristischer Maximalismus zutage.
Die beiden letzten Themenkomplexe – NaO und FT – mögen auf den ersten Blick den „großen Themen“ wie Krise der EU, Rassismus fern erscheinen. Manche mögen sie als „Kleingruppengezänk“ oder „innerlinke“ Debatte abtun. Wir halten eine solche Herangehensweise für oberflächlich. Wenn die Schwäche der „radikalen Linken“ überwunden werden soll, so muss die „radikale Linke“ nicht nur praktisch wirksamer werden, sie muss auch und vor allem theoretisch, programmatisch, taktisch, also in ihrem Verständnis des Marxismus aufrüsten, also die inhaltliche Auseinandersetzung forcieren.