Shazia Shehzad/Martin Suchanek, Neue Internationale 203, Oktober 2015
Arbeiterinnen sind von den Auswirkungen des Neoliberalismus und der Krise besonders betroffen. Das betrifft besonders Länder der „Dritten Welt“, also Halbkolonien, die von imperialistischer Ausbeutung geprägt sind.
Die ökonomische „Entwicklung“ dort zeigt sich als ein Nebeneinander einerseits der Einbindung in den modernen globalen Kapitalismus und andererseits der Ausbreitung „alter“ Formen der extremen Ausbeutung wie z.B. der Heimindustrie. Rund 73 Prozent aller LohnarbeiterInnen in Pakistan – immerhin rund 60 Millionen – sind im „informellen“ oder „prekären“ Sektor beschäftigt, der im letzten Jahrzehnt weiter deutlich gewachsen ist.
Diese Beschäftigungsverhältnisse sind keine Relikte einer vorkapitalistischen Vergangenheit (wie z.B. die tradierte handwerkliche Produktion). Ihre Ausdehnung geht vielmehr Hand in Hand mit dem Einfluss des Großkapitals, mit der Produktion für Textil- und Handelsketten, die auf nationalen und internationalen Märkten tätig sind.
So macht der Textilexport in Pakistan mehr als 50 Prozent des Gesamtexports aus. Wie auch in Indien, Bangladesh oder Sri Lanka ist er v.a. auf den EU-Markt ausgerichtet – ob die Produktion in großen Fabriken, in kleinen Unternehmen oder in Heimarbeit erfolgt.
Letztere ist ist eine besondere Form „ungleichzeitiger und kombinierter Entwicklung“, wo rückständige Formen der Produktion wie die Hausindustrie, die Marx im „Kapital“ ausführlich beschreibt, in ein System der Profitmacherei für riesige kapitalistische Unternehmen eingebunden sind.
In die „Hausindustrie“ lagern die Unternehmen einen Großteil ihrer Aufträge auf Subunternehmen (oder eine ganze Kette von Subunternehmen) über lokale „Mittelsmänner“ aus. Der größte Teil der Produktion wird durch diese in Auftrag gegeben und die Hausarbeiterinnen (der Anteil von Männern unter ihnen ist sehr gering) treten nur diesen als „Vertragspartnerinnen“ gegenüber.
Die neoliberale Methode, die heute vorherrscht, besteht darin, dass die ArbeiterInnen im informellen Sektor generell nur kurz befristete Verträge haben (oft nur für einen Tag) und auch nur tageweise bezahlt werden. Es gibt keine soziale Absicherung gegen Krankheit, keine Alters- oder Gesundheitsvorsorge. Diese Form der Billigarbeit ist eine übliche Form in der „Dritten Welt“ geworden.
Die Hausindustrie macht in Ländern wie Pakistan einen wichtigen Teil der Produktion aus, wenn auch verlässliche Zahlen wegen des informellen (und tw. auch illegalen) Charakters der Arbeit kaum zu erhalten sind. Neben fehlender sozialer Absicherung gibt es auch keine Mindestlöhne oder irgendeinen Arbeitsschutz. Die ArbeiterInnen werden nicht stundenweise, sondern nach Stücklohn bezahlt. Produkte, die der Mittelsmann für zu schlecht befindet, werden nicht abgenommen und auch nicht bezahlt. Die Frauen arbeiten 12-14 Stunden täglich und erhalten in Pakistan sehr geringe Löhne, oft sogar weniger als 100 Rupien (ca. 84 Cent) pro Tag.
Produziert werden Textilien aller Art. Vom Teppich bis zum Reitkleid werden alle möglichen Produkte geknüpft oder genäht und abgepackt. Oft werden auch vorgefertigte Produkte zusammengenäht. In der Regel wissen die Frauen nicht, unter welchem Label die Produkte verkauft werden, da diese oft erst später aufgenäht werden, wobei derselbe Mittelsmann oder höhere Subunternehmen auch Produkte derselben Arbeiterinnen an unterschiedliche Marken verkaufen können.
In der Hausindustrie arbeiten fast ausschließlich Frauen und zwar zuhause oder in kleinen Betrieben in unmittelbarer Nachbarschaft. Dort sind 10 oder 20 Frauen quasi eingepfercht in kleinsten „Sweat Shops“. Ihr Lohn ist so gering, dass sie davon allein nicht überleben könnten, er ist vielmehr Bestandteil des „Familienlohns“ der proletarischen Familien.
Dabei sind die Frauen den „Mittelsmännern“, ihren Auftraggebern, nicht nur als vereinzelte Vertragspartnerinnen extrem ausgeliefert und unterliegen einer enormen Ausbeutung. Oft sind sie bei den „Mittelsmännern“ auch verschuldet, weil sie z.B. in der Zeit von Hochzeit, Schwangerschaft, Unfällen oder Krankheit nicht produzieren können. Sie nehmen dann Kredite bei ihren Vertragspartner auf, die bei extremen Zinsen in Zukunft abgearbeitet werden müssen.
Die patriarchale Unterdrückung der Frau in der pakistanischen Gesellschaft sichert dieses System der Ausbeutung ab. Eine Form der Unterdrückung der Frau besteht dabei darin, dass sie nicht allein im öffentlichen Leben in Erscheinung treten darf oder es dafür großen Mutes bedarf. Die Mobilität der Frauen ist daher extrem eingeschränkt. Frauen, die einer Lohnarbeit außer Haus nachgehen, setzen sich dabei nicht nur gesellschaftlicher Anfeindung aus, sondern auch enormen Risiken bis zu sexuellen und physischen Übergriffen. Daher ist für viele Frauen die Hausarbeit die einzige Form, ihre Arbeitskraft verkaufen und so zum Auskommen der Familie beitragen zu können, ohne Beleidigungen oder Übergriffen auf dem Weg zur Arbeit oder am Arbeitsplatz ausgesetzt zu sein. Das führt auch dazu, dass Frauen und deren Familien oft die Heimarbeit der Fabrikarbeit vorziehen.
Hinzu kommt, dass in Pakistan Lohnabhängige, v.a. deren untere Schichten, auch nicht als kreditwürdig (oft überhaupt nicht als geschäftsfähig) gelten und bei normalen Banken keine Vorschüsse erhalten, ja oft noch nicht einmal ein Konto eröffnen dürfen. Für Frauen gilt das umso mehr. Daher bleibt ihnen (wie auch großen Teilen der männlichen Arbeiter) nur der Mittelsmann oder der private Geldverleiher, wenn sie finanziell in Bedrängnis kommen.
Diese Situation kommt einer Falle für die Frauen gleich, die sie zum Objekt extremer Ausbeutung und Abhängigkeit macht, dessen ursächliche Faktoren sich wechselseitig verstärken.
Der Ausschluss der Frauen vom öffentlichen Leben aufgrund von Patriarchat, Religion und reaktionärer kultureller Traditionen festigt also auch das System der extremen Überausbeutung in der Heimindustrie.
Die Kapitalisten haben davon viele Vorteile. Sie können die einzelnen Frauen ebenso leicht einstellen wie feuern. Konjunkturelle Einbrüche treffen diese ganz unmittelbar. Die einzelnen Frauen haben fast keine Verhandlungsmacht und müssen daher Löhne unter ihren Reproduktionskosten akzeptieren. Bei Krankheit, Unfall, Alter usw. tragen sie bzw. ihre Familien die Kosten. Außerdem müssen sie nicht nur den Arbeitsraum stellen (ihre Wohnung), sondern in der Regel auch Arbeitsmittel, Werkzeuge, Ausstattung usw. bezahlen, mitunter sogar die Kosten für die Rohstoffe tragen. Die Frauen werden so formell in den Status individueller Kleinproduzentinnen gedrängt, die an den Mittelsmann nur ein Produkt zu dessen „Stückkosten“ verkaufen. Es erscheint so, als wären sie keine Lohnarbeiterinnen, sondern verarmte Kleinproduzentinnen. In Wirklichkeit ist das freilich nur ein oberflächlicher Schein, wie auch in der „Hausindustrie“ oder im „Verlagssystem“ im Frühkapitalismus Europas (oder auch in „neueren“ Formen prekärer Beschäftigung).
Die Hausarbeit verschärft die doppelte Belastung der Frauen in der Familie (wie auch die Tendenz zur Kinderarbeit). In Pakistan haben zwar soziale Bewegungen versucht, die Probleme der Frauen in der Hausindustrie aufzugreifen, aber die (wenigen) gesetzlichen Einschränkungen der Ausbeutung existieren meist nur auf dem Papier.
Die pakistanische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale um die Zeitschrift „Revolutionary Socialist“ arbeitet aktiv am Aufbau einer „Gewerkschaft der Arbeiterinnen in der Heimindustrie und der Hausarbeiterinnen“ (Home based and domestic workers union) mit, welche von Arbeiterinnen in Lahore initiiert wurde. Gemeinsam mit hunderten Arbeiterinnen kämpfen wir für die rechtliche Anerkennung dieser Gewerkschaft.
Angesichts der enormen Bedeutung der Textilindustrie, ihrer großen Zersplitterung in zahlreiche Subunternehmen, der unterschiedlichen Form der Ausbeutung (Fabrik, Manufaktur, Hausindustrie) braucht es in allen diesen Bereichen Kampagnen zur gewerkschaftlichen Organisierung und die Überwindung der Zersplitterung durch die Schaffung einer Massengewerkschaft für die gesamte Branche.
Eine zentrale unmittelbare Forderung ist der Kampf gegen das System des Stücklohns und der kurzzeitigen Verträge. Wir treten dafür ein, dass es Arbeitsverträge gibt, die die Lebenshaltungskosten der Frauen decken sowie eine Kranken- und Unfallsversicherung, die Rentenvorsorge und Urlaub ermöglichen. Wir treten für monatliche Löhne statt Stücklohn und Tagelöhnerei ein.
Zweitens braucht es eine Kampagne gegen das System der Subunternehmen und Mittelsmänner – nicht nur wegen der Ausbeutung, sondern auch wegen der Zinsknechtschaft und zahlreicher Fälle physischer und sexueller Übergriffe.
Bislang gelang es uns, in einzelnen Bezirken in Lahore Arbeiterinnen zu organisieren, ihre Ausbeutung öffentlich zu machen, Frauen (und auch ihre Männer) für deren Rechte zu mobilisieren. In einzelnen Bereichen konnten wir auch Verbesserungen durchsetzen.
Es geht uns aber v.a. darum, diesen Kampf mit jenem der sehr schwachen pakistanischen Gewerkschafts- und ArbeiterInnenbewegung zu verbinden. Um die Lage im riesigen informellen Sektor zu ändern und das System der Hausarbeit abzuschaffen, reichen einzelne, branchenweise Versuche, tarifliche Regelungen durchzusetzen, nicht aus. Wir treten daher für eine Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn ein, die von allen Gewerkschaften, linken und ArbeiterInnenorganisationen geführt werden muss. Dieser Kampf muss zudem mit dem Engagement gegen die gesellschaftliche und rechtliche Unterdrückung der Frau verbunden werden. Dabei müssen Frauen wie jene, die sich in der „Home based and domestic workers union“ zu organisieren beginnen, eine Schlüsselrolle spielen, so dass sie von einem Objekt kapitalistischer Ausbeutung und patriarchaler Unterdrückung zu einem Subjekt im Kampf um die Befreiung der gesamten ArbeiterInnenklasse werden.