Martin Suchanek, Neue Internationale 225, Dezember 17/Januar 18
Das letzte Novemberwochenende war ein Alptraum für die Bevölkerung Pakistans. Seit dem 8. November hatten reaktionäre islamistische Kräfte, angeführt von der Partei „Tehreek-e-Labbaik Ya Rasool Allah“ (Tehreek-e-Labaik, TLP), das Autobahnkreuz Faizabad in der Hauptstadt Islamabad blockiert. Über Wochen beteiligten sich hunderte bis einige tausend AnhängerInnen dieser Ultra-Reaktionäre an der Aktion.
Anlass für den Sitzprotest war eine Änderung der im Wahlgesetz für die Parlamentswahlen 2018 vorgesehenen Bezeichnung für den Eid, den Abgeordnete am Beginn einer Legislaturperiode leisten müssen. Dieses Bekenntnis zu Mohammed als dem „letzten Propheten“ sollte nur eine „Erklärung“ sein. Obwohl die Regierung die Formulierung rasch als „Schreibfehler“ zurücknahm und das Parlament am 16. November die traditionelle Formel wieder einführte, wurden die Proteste nicht beendet, sondern mit der Forderung nach Rücktritt des Justizministers Zahid Hamid fortgesetzt. Den Wortführern der Islamisten zufolge wäre die Reformulierung ein bewusstes Zugeständnis an die religiöse Minderheit der Ahmadi (Ahmadiyya) gewesen. Diese Glaubensgemeinschaft wurde bereits 1974 zu Nicht-MuslimInnen erklärt und wird im Land systematisch diskriminiert. Anders als ChristInnen oder Hindus werden sie nicht als religiöse Minderheit anerkannt, da sie sich weiter als MuslimInnen bezeichnen. Offenes Bekenntnis zu ihrem Glauben und Werbung für ihn gilt als Gotteslästerung, die als Schwerverbrechen (bis hin zur Todesstrafe) betrachtet wird. Anschuldigungen wegen Blasphemie führen in Pakistan regelmäßig zu Lynchmorden durch reaktionäre Mobs, die von Parteien wie der TLP oder der Jamaat-e-Islami angeführt werden. Oft sind die Vorwürfe auch ein Vorwand, um ArbeiterInnen- und StudentInnenaktivistInnen auszuschalten.
Am Wochenende des 25. und 26. November spitzte sich die Lage zu. Schon am 16. November hatte der Oberste Gerichtshof die Räumung der Straßenblockade und Zelte angeordnet. Die Regierung zögerte mit der Umsetzung und wollte das Sit-In durch Vermittlung hoher islamischer Geistlicher beenden.
Schließlich begannen am 25. November tausende Polizisten und Grenzschützer mit der Räumung. Doch die Sicherheitskräfte mussten die Aktion auf halbem Weg abbrechen, angeblich da sich der Wind gedreht hatte und sie nun vom eigenen Tränengas blockiert würden. Der demagogische Anführer der TLP, Allama Khadim Hussain Rizvi, nutzte die Lage und rief zu Aktionen auf, um das Land zum Stillstand zu bringen. Innerhalb weniger Stunden brachen Unruhen in Karatschi, Lahore, Hyderabad und Faisalabad aus. Sechs Tote wurden gemeldet, hunderte Menschen verletzt. Der Staat wiederum legte die sozialen Medien (Facebook, Youtube) für Stunden lahm, um die Mobilisierung der Islamisten zu unterlaufen. Vergeblich, wie sich rasch zeigte.
Die Regierung sah sich gezwungen, sich an die Armeeführung zu wenden, um die Lage zu befrieden. Diese erklärte zwar, dass sie zur „verfassungsmäßigen Ordnung“ stehe – forderte aber ihrerseits die Regierung auf, eine „friedliche Lösung“ zu suchen. Solcherart führte sie dem Ministerpräsidenten vor Augen, dass er nicht mehr Herr der Lage war. Das durch Korruptionsskandale und Enthüllungen der Panama-Papers angeschlagene Kabinett beugte sich dem Druck. Die Armeeführung löste den Konflikt „friedlich“ und vermittelte ein Abkommen zwischen den Islamisten und der Regierung.
Dieses sieht den sofortigen Rücktritt des Justizministers Zahid Hamid vor. Im Gegenzug erklärte sich die TLP bereit, gegen ihn keine Fatwa (ein religiöses Urteil) zu verhängen und seine Familie nicht anzugreifen. Alle bei den Protesten festgenommenen Islamisten sollen freigelassen werden und eine neue Kommission soll die Polizeigewalt und die Handlungen der Regierung vom 25. November untersuchen. Darüber hinaus machte die Regierung den Islamisten weitere Zugeständnisse wie die Einbeziehung von Repräsentanten der TLP bei religiösen und rechtlichen Fragen.
Unterzeichnet wurde das Abkommen neben Vertretern der Regierung und der Protestierenden auch von solchen der Generalität, denen abschließend für ihre Anstrengung bei der „Abwendung einer Katastrophe für das Vaterland“ gedankt wurde.
Daraus wird nur allzu deutlich ersichtlich, wer die Sieger und Verlierer der Konfrontation waren. Die Regierung musste eine schwere politische Niederlage einstecken. Sie ist offenkundig ein Auslaufmodell. Das Militär und der ebenfalls in die Verhandlungen einbezogene Geheimdienst präsentierten sich wieder einmal als scheinbar über allen politischen und sozialen Kräften stehende „Retter der Nation“. Die Armee ging also neben den Islamisten ebenfalls als eindeutige Siegerin hervor.
Schon seit Jahren erleben wir eine stetige Verschiebung der Macht weg von den zivilen Institutionen hin zu den Streitkräften. Diese bestimmen schon heute weitgehend die Außen- und Sicherheitspolitik des Landes. Die Armee ist nicht nur eine „Garantin“ des Kapitalismus, viele ehemalige und aktive Militärs sind selbst Teil der herrschenden Klasse.
Die Schwäche der Regierung spiegelt nicht nur deren Korruption und Vetternwirtschaft wider, sondern auch ihr Unvermögen, die enormen politischen, sozialen, ökologischen und ökonomischen Probleme des Landes zu lösen. Pakistan mit seinen rund 200 Millionen EinwohnerInnen bildet einen konzentrierten Ausdruck aller Aspekte der aktuellen, historischen Krisenperiode: ökonomische Instabilität und Niedergang; Konfrontation zwischen den USA und China sowie zahlreichen Regionalmächten; Pakistans eigene Ambition, zu einer Regionalmacht aufzusteigen; Krieg und Bürgerkrieg; ökologische Krise; Überausbeutung der ArbeiterInnenklasse und Bauernschaft; Unterdrückung der Frauen, nationaler und religiöser Minderheiten; Aufstieg ultra-reaktionärer und selbst klerikal-faschistischer Kräfte.
Diese Widersprüche bereiten einerseits den Boden für eine Militärdiktatur vor. Eine „parlamentarische“ rechtsstaatliche Lösung der Krise scheint immer weiter in die Ferne zu rücken. Die Organe der legislativen, judikativen und exekutiven Gewalt stehen zueinander in mehr oder minder offener Konfrontation. Andererseits sind es ebendiese Widersprüche, die bislang auch die Armee vor einer offenen Machtübernahme zurückschrecken lassen, müsste sie doch auch die politische Verantwortung für deren Lösung übernehmen und das Land auf dem Weg in eine unsichere Zukunft führen. Pakistan entwickelte sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem Verbündeten Chinas, das einen bedeutenden Teil der geplanten neuen Seidenstraße – darunter Infrastrukturprojekte wie Straßen, Bahnen, Hochseehäfen – durch das Land baut. Andererseits existieren weiter Verbindungen zu den USA und finanzielle Abhängigkeiten von den internationalen Finanzmärkten. Pakistan unterhält Verbindungen zu Saudi-Arabien, aber auch zum Iran. Indien gilt als Erzfeind, andererseits soll der Handel „normalisiert“ werden. Regierung und Militär müssen daher lavieren.
Diese widersprüchliche Lage bedeutet auch, dass strategische Gegensätze nicht einfach zwischen den Institutionen (z. B. Armee versus gewählte Regierung) verlaufen, sondern durch diese hindurch. Darüber hinaus werden sie noch durch nationale und regionale Gegensätze verschärft.
All diese Faktoren verdeutlichen, warum die Führung der Streitkräfte es bislang vorzieht, ihren politischen Einfluss bei Beibehaltung einer zivilen Regierung auszuüben oder auch auszubauen – aber die innere Dynamik der Gegensätze im Land drängt mehr und mehr auf eine Militärdiktatur.
Die Ereignisse vom November haben auch eine andere erschreckende Gefahr zutage treten lassen – die einer islamistischen, halb-faschistischen oder gar faschistischen Lösung der Krise. Das Militär versucht, sich zur Zeit dieser Kräfte zu bedienen, aber das bedeutet keineswegs, dass sich die Kräfte, die der Regierung eine Niederlage zufügten, nicht zu einer reaktionären, kleinbürgerlichen Massenbewegung formieren könnten.
Die gesellschaftliche Krise des Landes hat nicht erst seit kurzem den Nährboden für den Aufstieg radikaler Islamisten bereitet. Die bürgerlichen Parteien Pakistans wie auch das Militär haben außerdem eine lange unsägliche Tradition, sich im Fall politischer Krisen der Islamisten zu bedienen, ihnen politische Zugeständnisse zu machen, um so die gesellschaftliche Basis ihres jeweiligen Regimes zu erweitern. Einen besonderen Schub erlebte diese Entwicklung unter der Diktatur Zia-ul-Haqs (1977 – 1988), der gemeinsam mit den USA für den Krieg in Afghanistan islamistische Kräfte aufbaute, aber auch zur Unterdrückung der Linken, Gewerkschaften und demokratischer Opposition im Inneren nutzte.
Auch wenn die islamistischen Parteien bis heute politisch, religiös und national durchaus zerstritten sind, so stellen deren Wachstum und eine größere Vereinheitlichung dieser Strömungen eine reale unmittelbare Gefahr dar.
In Deutschland denken viele beim Islamismus an Gruppierungen wie die Taliban oder den saudischen Wahhabismus. Zweifellos bestehen auch Querverbindungen zwischen diesen Gruppierungen. Von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung kann aber sein, dass die Kräfte, die am 25. und 26. November in Erscheinung traten, anderen islamischen Richtungen angehören.
So ist z. B. die „Tehreek-e-Labaik“ ( TLP) selbst eine recht junge Partei. Ihr Anführer Rivzi hat mit dem Wahhabismus ideologisch nichts zu schaffen, sondern entstammt vielmehr einer dem Sufismus nahestehenden Koran-Schule. Diese Traditionslinie des Islam ist in Pakistan weit verbreitet.
Wie in anderen Ländern mit einer starken religiösen Tradition greifen auch in Pakistan reaktionäre kleinbürgerliche Kräfte auf ebendiese Ideologie zurück und begründen damit rechts-populistische oder gar faschistische Programme. So ist es kein Wunder, dass solche Kräfte sich auch auf sufistische Traditionen berufen. Hinzu kommt, dass sie größeren Zugang zu kleinbürgerlichen Massen finden können als die vielen Pakistani fremde Tradition des Wahhabismus.
Auch wenn die TLP im November nur wenige tausend eigene AktivistInnen mobilisieren konnte, so vermochte sie ihren reaktionären Protest so weit öffentlich zu machen, dass sich alle anderen islamistischen Strömungen gegen die Regierung solidarisierten und ihrerseits gewaltsame Aktionen in verschiedenen Städten initiierten. Auch das ist nicht ganz neu, aber es offenbart das reaktionäre Potential dieser Kräfte, die zusammen Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende mobilisieren können. Auch wenn keinesfalls jede dieser Gruppierungen einen direkt faschistischen Charakter hat, so vertreten sie in unterschiedlichen Abstufungen reaktionäre Ideologien und befürworten die Diskriminierung von religiösen Minderheiten, von Frauen, aber auch der ArbeiterInnenbewegung, Linken, liberalen und nicht-sektiererischen Kräften. Dies mag von aktiven Angriffen bis hin zur passiven Unterstützung „dem Inhalt nach“ reichen.
So gab es etliche, die die TLP direkt unterstützten. Weitaus größere Schichten sprachen sich jedoch gegen deren Methoden aus, befürworteten aber die Forderungen der TLP. Es ist daher falsch anzunehmen, diese Parteien wären reine Befehlsempfängerinnen des Staates ohne eigene soziale Basis. Diese Einschätzung, wie sie unter anderem von der IMT (International Marxist Tendency, in Deutschland: Der Funke) vertreten wird, ist eine gefährliche Verharmlosung – eine Verharmlosung, die einige ihrer FührerInnen bisher als Ausrede genutzt haben, um eine gemeinsame Einheitsfront abzulehnen oder deren Notwendigkeit herunterzuspielen.
Der Sieg in Islamabad hat das Selbstvertrauen der äußersten Reaktion zweifellos enorm gestärkt. In den letzten Wochen kam es vermehrt zu physischen Angriffen und Einschüchterungen politischer GegnerInnen. All das bedeutet, dass sich in Pakistan eine ultra-reaktionäre, klerikal-faschistische Bewegung zu formieren droht.
Diese stellt für die ArbeiterInnenbewegung, für alle Unterdrückten eine unmittelbare Gefahr dar. Eine dramatische weitere Rechtsentwicklung wird zunehmend unmittelbar bedrohlich. Das Wachstum und die Vereinheitlichung einer proto-faschistischen Bewegung kann darüber hinaus auch die Errichtung einer Militärdiktatur begünstigen, die Ordnung schafft und alle verbliebenen demokratischen Rechte aushebelt.
Daher erfordert die Situation rasches Handeln und Einheit auf Seiten der ArbeiterInnenklasse, der Linken, der Unterdrückten. Unsere GenossInnen der „Revolutionary Socialist Movement“ (RSM) haben einen Aufruf zur Schaffung einer Einheitsfront an Gewerkschaften, fortschrittliche StudentInnenorganisationen und die pakistanische Linke mit folgenden fünf Punkten gerichtet:
„1. Wir, die UnterzeichnerInnen dieser Erklärung, rufen die Gewerkschaften und linken Parteien, alle fortschrittlichen Studenten-, Frauen- und Bauernverbände auf, eine vereinigte Front gegen den klerikalen Faschismus und gegen jeden Versuch des Militärs, mehr Macht zu erlangen oder eine neue Militärdiktatur zu errichten, zu gründen.
2. Als UnterzeichnerInnen verpflichten wir uns und unsere Organisationen zum Aufbau einer landesweiten Einheitsfront.
3. Dies erfordert die Bildung von Aktionsausschüssen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene.
4. Die Aufgabe dieser Ausschüsse ist es, eine Kampagne zu starten, die unsere Stimme gegen den klerikalen Faschismus und die Militärregierung aus der Sicht der ArbeiterInnenklasse erheben soll.
5. Dazu gehört auch die Vereinbarung zur gegenseitigen Selbstverteidigung gegen Bedrohungen und Angriffe und das Ziel, die arbeitenden Massen so zu organisieren, dass sie ihre Bezirke und Gemeinden, ihre Fabriken und Schulen vor sektiererischen und faschistischen Angriffen schützen können. Es bedeutet auch, unsere Klasse so zu organisieren und auszubilden, dass sie im Falle eines faschistischen oder militärischen Putschversuchs in der Lage ist, Massenstreiks durchzuführen.“