Arbeiter:innenmacht

Ein Jahr Syrien – ein Jahr Hoffnung und Misstrauen

Dilara Lorin, Infomail 1300, 22. Dezember 2025

Es ist ein Jahr vergangen seit dem Sturz der Assad-Diktatur. Der 8. Dezember markiert für die syrische Bevölkerung den Tag, an dem sie wieder Hoffnung schöpfen konnte, Hoffnung auf ein Syrien frei von Unterdrückung, Folter und Mord. Die Assad-Familie tyrannisierte das Land über mehr als 54 Jahre, und ihr Niedergang hat vielen Syrer:innen zu Recht einen Moment des Aufatmens verschafft. Auch wenn viele wussten, dass dem HTS (Haiʾat Tahrir asch-Scham; Komitee zur Befreiung der Levante bzw. auch Organisation zur Befreiung Syriens)

nicht zu trauen sein würde, waren es doch die Massen, die den Sturz überhaupt erst ermöglichten, indem sie seit der Revolution von 2011 nicht aufgehört hatten, für ein besseres Leben zu kämpfen.

Der Sturz der Diktatur hat vor allem dazu geführt, dass heute mehr denn je Menschen versuchen, sich in kleinen Gruppen und lokalen Strukturen zu organisieren. Es entsteht, noch klein, aber sichtbar, eine Debattenkultur, die auch in öffentlichen Räumen stattfindet. Demonstrationen und Sit-ins gegen Massaker oder sektiererische Angriffe sind möglich und ermöglichen es den Unterdrückten und Arbeiter:innen, an gesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen und sich zu äußern. Dies war unter dem Assad-Regime nicht möglich.

Allerdings muss der Sturz Assads auch im Kontext imperialistischer Machtinteressen betrachtet werden. Eine solche Analyse fehlt häufig, wenn Syrien politisch diskutiert wird. Wer das blutige Regime während und nach den Aufständen seit 2011 am Leben hielt, waren der russische Imperialismus sowie die Regionalmacht Iran, unter anderem durch deren Verbündete, die Hisbollah. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine zog es zunehmend seine Truppen und Unterstützung aus Syrien ab. Die Angriffe Israels auf den Iran und den Libanon warfen Letzteren als Regionalmacht zurück und schwächten die Möglichkeiten der Hisbollah, als politisch-militärische Unterstützung vor Ort zu agieren.

Durch den Wegfall der imperialistischen Geldgeber:innen und die massive Korruption der Assad-Familie verarmte die Bevölkerung immer stärker, sodass auch in Assads eigener Anhängerschaft die Unterstützung zunehmend schwand. So konnte der HTS, der bereits seit mehreren Jahren die Kontrolle in Idlib (Stadt im Nordwesten) übernommen hatte, mit seiner Allianz verschiedener dschihadistischer Milizen den Sturz mit vergleichsweise wenig Kämpfen vollenden. Zweifellos erhielt die Türkei auch Unterstützung oder zumindest grünes Licht für den Angriff auf Assad. Doch auch große Teile der Bevölkerung unterschiedlicher Ethnien und Religionen unterstützten den Niedergang Assads, indem sie ebenfalls militärisch vorgingen.

Kein Vertrauen in die Übergangsregierung – nicht heute, nicht morgen

Der Sturz von Assad brachte die HTS an die Macht. Während die Massen den Sturz der Diktatur begrüßten, misstrauten viele zu Recht der neuen „Übergangsregierung“. Diese Skepsis und das Misstrauen in weiten Teilen der Bevölkerung sind im Verlauf des vergangenen Jahres weiter gewachsen, und al-Scharaa (Interimspräsident) hat wenig unternommen, um dem entgegenzuwirken. Die Skepsis ist zudem berechtigt, da sich ein großer Teil der Bevölkerung von der HTS nicht vertreten fühlt oder ihre Legitimation nie anerkannt hat.

Die Massaker an der alawitischen Bevölkerung an der Küste sowie die Ausschreitungen gegen die drusische Bevölkerung im Süden haben deutlich gemacht, dass die Übergangsregierung keinerlei Verantwortung übernimmt und dabei eine erhebliche Mitschuld trägt. Die Ausschreitungen und das Morden unter sektiererischem Deckmantel machten nicht Halt in Suweida (as-Suwaida; Stadt im Südwesten) oder in der Küstenregion, sondern breiteten sich weiter ins Landesinnere aus.

Auch der Versuch, die Übergangsregierung zu stabilisieren und zu legitimieren, zeigt deutlich, dass diese kein Interesse an einem demokratischen Syrien oder an der Teilhabe der eigenen Bevölkerung hat. Vielmehr will sie ihr eigenes Regime politisch und ideologisch festigen. In den ersten Monaten wurde klar: Straßennamen wurden geändert, ebenso die Staatsflagge; Lehrbücher wurden neu geschrieben und Lehrpläne angepasst. Es lässt sich eindeutig sagen, dass die wichtigsten Ministerien in der Hand der HTS liegen: Verteidigung, Inneres und Äußeres. In den übrigen Ministerien haben andere Akteur:innen kaum freie Hand. Man lernt eher, keine Anträge zu stellen, die al-Scharaa ablehnen könnte, und vermeidet lieber eine Konfrontation. Es gibt zahlreiche Berichte, dass zweit- und drittrangige Beamt:innen, die der HTS nahestehen, die Debatten und die Umsetzung verschiedener Entscheidungen massiv beeinflussen.

So wurden Leaks veröffentlicht, in denen deutlich wurde, dass die Lehrbücher der 8. Klasse abgeändert wurden. Die Hinrichtung arabischer Intellektueller und Nationalist:innen am 6. Mai 1916 durch Cemal Pascha, „den Schlächter“, wird nun als Hinrichtung von „Agent:innen der Brit:innen und Franzosen/Französ:innen“ sowie „Verschwörer:innen“ gegen den osmanischen Staat dargestellt. Zudem erließ al-Scharaa ein Dekret über nationale Feiertage, in dem der nationale Feiertag „Tag der Märtyrer:innen“ am 6. Mai gestrichen wurde. Die Abschaffung und die Abänderung der Lehrpläne dienen dabei vor allem den Interessen der Türkei bzw. dem Interesse des Regimes an guten Beziehungen zu Ankara.

Dass in den nächsten vier Jahren in Syrien keine Wahlen stattfinden werden, hat al-Scharaa deutlich gemacht. Das zeigt zugleich, dass er kein Interesse daran hat, seine Macht zu legitimieren, sondern vielmehr seine Befugnisse als Präsident ausweitet – eine klare Tendenz zum Bonapartismus also.

Während die Bevölkerung Syriens ständig vertröstet wird, braucht das Regime unbedingt Unterstützung aus dem Ausland. Al-Scharaa holt sich seine Legitimation derzeit vor allem durch seine Verbindungen zum US-Imperialismus sowie zu Saudi-Arabien. Im Inneren propagiert er seine Legitimation durch den Sturz Assads und durch das Versprechen, wirtschaftliches Wachstum und Wiederaufbau zu ermöglichen, was für die kriegsmüde Bevölkerung wie Balsam klingt.

Doch der Ausverkauf an die imperialistischen Mächte sowie an regionale Akteur:innen zeigt deutlich, dass al-Scharaa offenbar kein Interesse daran hat, den fast 90 % der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze leben, ein besseres Leben zu ermöglichen. Die neoliberale Umgestaltung des Marktes durch den Verkauf staatlicher Unternehmen, Kürzungen und die Entlassung von Staatsbediensteten zeigt eine besorgniserregende wirtschaftliche Entwicklung.

Teile und herrsche – die Politik in Syrien durch USA, Israel, Türkei und Saudi-Arabien

Das letzte Jahr hat deutlich gemacht, dass sich der syrische Staat in der Neuaufteilung der Welt, in der auch sein Territorium eine Rolle spielt, immer weiter in eine Abhängigkeit vom US-Imperialismus bewegt. Sichtbar wurde dies nicht nur daran, dass al-Scharaa der erste syrische Präsident der Geschichte war, der das Weiße Haus besuchte, oder durch Trumps Äußerungen „He’s a handsome guy“ („Er ist ein angenehmer Junge“), sondern auch durch die zunehmende Abhängigkeit von den US-kontrollierten Ölvorkommen.

Auch wenn al-Scharaa der Bevölkerung diesen Schritt als Normalisierung des Staates verkaufen will, weil es scheinbar einer hin zur Stabilisierung sei, ist das letztlich eine weitere Festigung von Abhängigkeiten und schiebt die Souveränität des Staates immer weiter in eine Schublade, die nicht mehr geöffnet werden soll. Vor allem strategische Sektoren wie Energie, Telekommunikation und Verteidigung sollen weiterhin politischen Bedingungen unterliegen, die mit der Aufhebung von Sanktionen und der regionalen Angleichung verbunden sind. Durch die Regulierung des syrischen Zugangs zu seinen eigenen Öl- und Gasfeldern, Raffineriekapazitäten, der Stromerzeugung und den Pipelinetrassen manifestieren imperialistische Staaten sowie Regionalmächte die Abhängigkeit immer weiter. Ein Nutzen dieser Ressourcen zugunsten der Bevölkerung wird damit vollkommen unrealistisch, somit auch eine „gerechte“ Verteilung der Profite.

Daneben ist in den letzten Wochen deutlich geworden, dass al-Scharaas diplomatisches „Klinkenputzen“ nicht aufhört. Ein Besuch bei Putin verlief für ihn positiv; die russischen Militärstützpunkte, die noch aus der Zeit Assads bestehen, können weiterhin bleiben. Die Türkei versucht unterdessen, ihre eigenen Interessen in Syrien durchzusetzen, allen voran die vollständige Ausschließung der kurdischen Selbstverwaltung aus dem sich neu formierenden Staat. Auch wirtschaftlich überflutet die Türkei den syrischen Markt mit billigen Waren. Durch die engen Verbindungen zwischen beiden Staaten kann sie außerdem viele syrische Geflüchtete abschieben, was eines der Hauptthemen der letzten Wahl war und politisch als Erfolg verbucht wird.

International versucht sich al-Scharaa, vor allem mit einem neuen Modell zu präsentieren, das dem der Taliban ähnelt: dem nationalen Dschihadismus. Damit möchte al-Scharaa deutlich machen: Wir greifen die bestehende Weltordnung und die Großmächte nicht an, wir sind vielmehr verlässliche Ansprechpartner:innen im westasiatischen Raum. Wir stehen für Ruhe und Ordnung, die Euren ökonomischen und geostrategischen Interessen dient, und wir übernehmen sogar die Funktion, internationale Dschihadist:innen wie den IS/Daesch (Islamischer Staat) zu bekämpfen. Und dafür wollen wir nicht viel – nur internationale Anerkennung, stabile Wirtschaftsbeziehungen und ein paar eigene Pfründe für die herrschende Klasse in Syrien und den Staatsapparat.

Natürlich ist sich al-Scharaa seiner Rolle als Handlanger der Imperialist:innen bewusst, und durch seine islamistische Ausrichtung erhält er im Kampf gegen andere islamistische Gruppen zusätzliche Anerkennung. Den USA soll vermittelt werden, dass die Islamisierung innerhalb des eigenen Staates keine Gefahr für sie darstellt. Diese wiederum interessieren sich nicht für die Einbindung von Minderheiten; sie wollen lediglich die Sicherheit, mit einem Präsidenten verhandeln zu können, weshalb sie kein Problem mit al-Scharaas Ausrichtung haben.

Dass die israelische Regierung trotz aller politischer und diplomatischer Verrenkungen des neuen Regimes in Damaskus den neuen Machthaber:innen nicht vertraut, zeigt sich in der kontinuierlichen Bombardierung Syriens sowie der Besetzung weiter Teile südlich von Damaskus. Dieses Misstrauen beruht jedoch nicht grundsätzlich auf der dschihadistischen Ausrichtung, sondern dient vielmehr dazu, den neuen Machthaber:innen – wie schon Assad – klarzumachen, dass sie es nicht wagen sollen, Israel anzugreifen. Dass die HTS ein Friedensabkommen mit Israel aushandelt, zeigt ihre Bereitschaft, die Aufteilung des Nahen Ostens sowie die israelische Präsenz zu akzeptieren und sich damit als weiteres Anhängsel der USA zu positionieren.

Darüber hinaus versucht Israel, sich während der Massaker an der drusischen Bevölkerung als vermeintlicher „Beschützer“ oder „Retter“ zu inszenieren. Tatsächlich verfolgt der israelische Staat das Ziel, seinen Einfluss im Süden Syriens, insbesondere in der Region um die seit 1967 besetzten Golanhöhen, auszubauen. Im Norden Israels leben drusische Minderheiten, die trotz Diskriminierung in der israelischen Gesellschaft im Militär dienen und vom Zionismus gern als „Vorzeigeminderheit“ instrumentalisiert werden. Der gezielte Angriff Israels im Süden Syriens reiht sich ein in eine lange Serie militärischer Operationen gegen den Iran, die Hisbollah, den Jemen und andere regionale Akteur:innen. Ziel dieser Angriffe ist es, feindliche Staaten oder Akteur:innen dauerhaft militärisch zu schwächen, um Israels strategische Handlungsfreiheit bei Vertreibung, Besatzung und Genozid aufrechtzuerhalten. Die extreme Rechte in Israel geht sogar noch weiter als Netanjahu und verfolgt die Annexion von Teilen Syriens als Teil eines zukünftigen „Großisrael“.

Weder Israel noch die Türkei haben ein Interesse an einem unabhängigen, demokratischen Syrien oder an einer friedlichen Stabilisierung, die sich ihrem Einfluss entzieht. Im Gegenteil: Beide versuchen, die inneren Widersprüche und Konflikte für ihre eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Syrien ist ein Schauplatz für die geostrategischen Ziele Israels und der Türkei sowie des westlichen Imperialismus, allen voran der USA.

Vollendung des Arabischen Frühlings

Ob die USA sowie Israel die Existenz des HTS als Machthaber in Syrien auch in der Zukunft akzeptieren werden, bleibt noch unklar. Es wird sich zeigen, wie tief al-Scharaa die Abhängigkeit, den Ausverkauf des Marktes und die Verarmung der Menschen wird durchsetzen können. Dass al-Scharaa jedoch derzeit alles daransetzt, dies zu tun, um selbst an der Macht bleiben zu können, zeigt sich in den engeren Beziehungen zur Türkei, der weiterschreitenden Unterwerfung unter die USA sowie den engen Verbindungen zu Katar, Saudi-Arabien und Ägypten. Um diese Akteure zu befriedigen, beruft er sich bewusst nicht auf den Arabischen Frühling.

Denn Syrien ist ein Land, in dem es gelungen ist, den Diktator zu stürzen. Doch um die Interessen der aktuell Herrschenden in den arabischen Ländern nicht zu gefährden, gibt es keinen positiven Bezug darauf, obwohl dies ihm selbst im eigenen Land wohl viel Unterstützung einbringen würde. Letztendlich signalisiert er den Machthaber:innen: Ich bin kein Resultat von Aufständen, auch wenn wir wissen, dass dies in der Realität nicht stimmt. Damit macht er deutlich, dass seine Machtübernahme keine „Bedrohung“ für ihre Staaten darstellt, auf welche sich Kräfte, die einen Umsturz wollen, berufen könnten.

So waren es doch letztlich die syrischen Massen, die mehr als ein Jahrzehnt lang, allein gelassen von der Welt, einen Kampf gegen einen Tyrannen geführt haben. Und es war nicht al-Scharaas Verdienst allein, sondern das immer wieder im Verborgenen aufflammende Feuer von 2011. Die Arbeiter:innenklasse, die Verarmten und Unterdrückten von heute, die verstehen, dass der Sturz Assads ein erster richtiger Schritt war, wissen, dass der Kampf heute nicht aufhören darf, sondern im Gegenteil jetzt erst seine Stärke entfalten muss. Sie sollten diesen Funken weitertragen.

Revolution jetzt! – Was brauchen wir dafür?

Syrien ist einer der Orte, die uns deutlich zeigen, was möglich wäre, wenn eine organisierte Arbeiter:innenklasse mit einem revolutionären Programm vorhanden wäre. Das Regime ist nicht nur noch nicht gefestigt, sondern hat deutlich gemacht, dass es kein Interesse an einem demokratischen, auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Nationen und Minderheiten basierenden Syrien hat, sondern einen zentralistischen, bonapartistischen Staat anstrebt. Und die Bevölkerung will ein so unmenschliches Leben wie unter der Assad-Familie kein zweites Mal akzeptieren. An diesem Punkt müssen Revolutionär:innen beginnen, Arbeiter:innen, Unterdrückte und Verarmte zu organisieren.

Und es ist nicht so, als gäbe es keine politischen Debatten und Auseinandersetzungen. Erste Streiks in Krankenhäusern, weil der Lohn gekürzt werden sollte, und Solidaritätsdemonstrationen mit den Menschen in der Küstenregion sowie in Suweida haben bereits stattgefunden. Das sind erste richtige Schritte, doch es braucht Revolutionär:innen, die diese Menschen organisieren und gemeinsam mit ihnen für ein revolutionäres Programm kämpfen. Doch auch die Wahrheit muss gesagt werden: Ein großer Teil der Kader, die eine solche Aufgabe hätten übernehmen können, ist entweder gefallen oder befindet sich in der Diaspora.

Gerade deswegen ist es wichtig, eine offene Diskussion zu führen: Welche Fragen benötigen dringend eine Lösung? Welche sozialistischen Antworten würden wir Aktivist:innen in Syrien geben?

Aktuell erscheinen drei Themen besonders brennend:

1. Der Kampf um demokratische Rechte

2. Die Aufarbeitung der Diktatur

3. Der Kampf gegen die Verarmung der Massen

Wie können wir diesen Kampf umsetzen?

Kampf um demokratische Rechte – Kampf gegen Unterdrückung

Dabei muss zuerst gesagt werden: Weder imperialistische Mächte noch die Übergangsregierung können Sicherheit für die verschiedenen Teile der syrischen Gesellschaft, Religionen und Ethnien gewährleisten. Das letzte Jahr hat gezeigt: Al-Scharaa ist unfähig, die verschiedenen Teile der Bevölkerung zu schützen oder Gewaltexzesse zu verhindern. Die Arbeiter:innenklasse, die in den letzten 14 Jahren durch Armut und Krieg ausgeblutet und ausgebeutet wurde, ist trotz dieser massiven Entbehrungen die einzige Kraft, die einen solchen Kampf führen kann, egal welcher Religion oder Herkunft. Nur gemeinsam mit den Unterdrückten und Jugendlichen kann sie einen kollektiven, demokratischen Kampf führen, der den nationalen Minderheiten Selbstbestimmung (bis hin zum Recht auf Loslösung) garantiert, den Frauen Selbstbestimmung ermöglicht und diese Forderungen mit jenen nach Arbeiter:innenkontrolle über die Produktion und den Wiederaufbau verbindet.

Der gemeinsame Kampf der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und unterdrückten Massen aller Nationalitäten muss demokratische Forderungen beinhalten, zentral darunter: die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Über deren Delegierte muss die Bevölkerung in ihren Nachbarschaften, Betrieben, Universitäten und Schulen selbst entscheiden. Die Wahl zu dieser Versammlung soll nicht von der Übergangsregierung kontrolliert werden, sondern von Räten, die eine echte, basisdemokratische Vertretung ermöglichen. Ziel muss ein Staat sein, der die vielfältigen Bedürfnisse der syrischen Gesellschaft anerkennt, jenseits autoritärer Zentralmacht und ethnischer Bevorzugung. Diese Forderung ist an sich keine revolutionäre, wird jedoch zu einem Mittel, mit dem Revolutionär:innen sich aufstellen lassen und mit dieser Kampagne in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die eigenen Interessen und die Notwendigkeit eigener Organisierung entwickeln können.

Al-Scharaas Versuch, seine Herrschaft zu stabilisieren, durch Integration alter Feind:innen, Instrumentalisierung religiöser Konflikte und durch Einbindung externer Kräfte, dient letztlich einer kapitalistischen Neuordnung Syriens. Sein Ziel ist es, ausländische Investitionen zu ermöglichen auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse und der unterdrückten ethnischen und religiösen Gruppen.

Doch diese Arbeiter:innenklasse darf sich nicht abwenden, sondern muss sich in jeden Teil dieses Prozesses einmischen. Im Zentrum dieses Aufbaus muss der Kampf für umfassende demokratische Rechte stehen: für Arbeiter:innen, ihre Organisationen sowie für ethnische und religiöse Gemeinschaften auf lokaler und regionaler Ebene.

Zugleich müssen in diesem Kampf demokratische Kampforgane – Räte der Arbeiter:innen, Bäuer:innen und einfachen Soldat:innen – aufgebaut werden, die selbst zum Zentrum des Widerstandes werden und den Kampf zu einer neuen Revolution treiben können, die die demokratischen und sozialen Forderungen der Massen wirklich garantiert und in eine Arbeiter:innenregierung mündet.

Aufarbeitung der Diktatur

Die Aufarbeitung des Assad-Systems hat unter al-Scharaa bisher nicht stattgefunden und wird auch in Zukunft nicht stattfinden. Im Gegenteil: Die Übergangsregierung stützt sich zunehmend auf dieselben Strukturen und Personen, die aus der Assad-Diktatur übrig geblieben sind. Ganze Dokumentenbestände über große Teile der Bevölkerung, die die Diktatur gesammelt hatte, befinden sich in ihren Händen und werden unkontrolliert weiterverwendet. So ist es mehrfach passiert, dass Menschen, die Syrien seit Jahren nicht betreten konnten, bei der ersten Einreise verhaftet wurden, weil die Sicherheitsabteilung dieselben Dokumente und Anschuldigungen nutzt wie zuvor.

Diese Reproduktion der Gewaltmechanismen muss durchbrochen werden. Es braucht die Offenlegung aller Dokumente, die die Übergangsregierung vom Assad-Regime übernommen hat. Außerdem ist die Frage der politischen Gefangenen, der Gefolterten und der Ermordeten nicht nur eine offene Wunde jeder betroffenen Familie, sondern eine, die weiterhin blutet. Al-Scharaa hat sich in den Monaten seiner Machtübernahme weder bemüht, die Familien der Gefangenen zu besuchen, noch eine unabhängige Aufarbeitung der Gräueltaten einzuleiten.

Die Offenlegung der Dokumente sowie eine unabhängige Aufarbeitung, damit die Wunden der Familien heilen können, sind essenziell, um einen gemeinsamen Kampf zu ermöglichen und Misstrauen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen abzubauen.

Es braucht offene Stellen in den Vierteln, in denen all jene, die Folter und Vergewaltigungen erlitten haben, psychologische Unterstützung erhalten. Es braucht Frauenzentren, die jenen Frauen die Rückkehr in Gesellschaft und politisches Leben ermöglichen, die in den zahlreichen Foltergefängnissen sexuelle Gewalt erleiden mussten. Es braucht zudem Selbstverteidigungseinheiten der Unterdrückten und Arbeiter:innen, kontrolliert durch Komitees, sodass ein kollektives Verständnis entsteht, sich gegen staatliche Gewalt zu verteidigen.

Stoppt die Verarmung der Massen!

Mehr als 90 % der syrischen Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Fast alle sind auf ausländische Hilfsgüter angewiesen. Doch die Neoliberalisierung des Marktes dient ausschließlich der Bereicherung der Herrschenden und der Bourgeoisie, nicht aber den Arbeiter:innen. So sollten Staatsangestellte und Pflegepersonal in den ersten Monaten massenhaft gekündigt werden. Die Angriffe auf die Arbeiter:innen werden sich in den kommenden Zeiten sogar noch verschärfen. Dagegen gilt es, Widerstand aufzubauen an den Orten, an denen man sich täglich aufhält. Es braucht jetzt den Aufbau von Streikkomitees, um zukünftigen Angriffen organisiert entgegentreten zu können.

Auch die gerechte Verteilung von Hilfsgütern muss durch Nachbarschaftskomitees erfolgen, ebenso wie die bedingungslose Lieferung von Lebensmitteln, Medikamenten und Wiederaufbaumaterialien. Diese Hilfe muss jedoch unter Kontrolle der Stadtteilkomitees organisiert werden, in denen Frauen und Jugendliche eine zentrale Rolle spielen, um zu verhindern, dass Stammesführer oder religiöse Eliten Hilfslieferungen monopolisieren.

Es ist Aufgabe von Arbeiter:innen, Frauen und Jugendlichen, sich zu organisieren, um die Macht der örtlichen Komitees wieder aufzubauen, Gewerkschaften kampffähig zu machen und eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen.

International muss die Arbeiter:innenbewegung die sofortige und vollständige Aufhebung aller imperialistischen Sanktionen fordern – ebenso wie die bedingungslose Lieferung von Lebensmitteln, Medikamenten und Wiederaufbaumaterialien. Auch diese Hilfe muss unter Kontrolle der Stadtteilkomitees stehen, in denen Frauen und Jugendliche eine zentrale Rolle spielen, um ihre Aneignung durch lokale Eliten zu verhindern.

Arbeiter:innenregierung

Die Verbindung dieser Kämpfe muss nicht nur in der Schaffung von Doppelmachtorganen wie Räten und Kontrollkomitees, von Selbstverteidigungsmilizen und Soldat:innenkomitees münden, sondern muss im Kampf für eine Arbeiter:innenregierung münden. Nur sie kann die demokratischen Forderungen und Versprechen konsequent zu Ende führen, indem sie diese mit den Aufgaben einer sozialistischen Umwälzung verbindet – der entschädigungslosen Enteignung des ausländischen wie syrischen Großkapitals und der Errichtung einer demokratischen Planwirtschaft, die zuerst vor allem die Grundbedürfnisse der Lohnabhängigen, der Bäuer:innen und der verarmten Massen befriedigt. Eine solche Regierung muss von Beginn an eine sozialistische Umwälzung in Syrien als Teil einer breiteren, revolutionären Transformation in der gesamten Region, in Westasien und Nordafrika begreifen.

Related Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Aktuelle Veranstaltungen

Jan.
23
Fr.
13:00 Akademischer Boykott Konferenz @ Berlin
Akademischer Boykott Konferenz @ Berlin
Jan. 23 um 13:00 – Jan. 25 um 20:00
Akademischer Boykott Konferenz @ Berlin
Akademischer Boykott Konferenz Berlin, 23. – 25. Januar 2026 Worum geht es? Nach Oktober 2023 entstand eine Solidaritätsbewegung mit Palästina an Universitäten, die von Studierenden getragen und zunächst von vereinzelten und später einer zunehmenden Zahl[...]

Für eine Uni des gesellschaftlichen Fortschritts

Revolutionäres Aktionsprogramm

Buch, A 5, 100 Seiten, 6,- Euro

Vom Widerstand zur Befreiung

Für ein freies, demokratisches, sozialistisches Palästina!

Broschüre, A4, 48 Seiten, 3,- Euro

Lage der Klasse – Podcast der Gruppe Arbeiter:innenmacht

Internationalismus. Revolutionäres Sommercamp 2025