Jona Everdeen, Infomail 1299, 15. Dezember 2025
Seit 2 Monaten ist der von Trump vermittelte sog. Waffenstillstand in Gaza in Kraft. Mit Frieden darf dieser jedoch nicht verwechselt werden. Wenn auch mit Unterbrechungen, gehen die Angriffe Israels auf die Bevölkerung Gazas und der Westbank weiter, Hilfslieferungen werden weiter blockiert. Kein Wunder, denn das Ziel von Trump und Co. ist nicht Frieden, sondern die Errichtung eines internationalen Protektorats in Gaza und die Vernichtung des palästinensischen Widerstandes in allen Formen.
Vom Beginn des Waffenstillstandes bis zum 4. Dezember wurden mindestens 366 Palästinenser:innen getötet und 938 verwundet. All diese Zahlen verdeutlichen, wie weit wir von einem echten Frieden entfernt sind. Immer wieder führt die israelische Armee (IDF) massive Angriffe durch. Der einzige Unterschied zu früher ist, dass diese heute wiederkehrende Ereignisse und kein Dauerzustand mehr sind. Als Gründe für die Angriffe werden angebliche Verstöße durch die Hamas genannt. Beweise dafür gibt es keine.
Auch wurden Palästinenser:innen, die sich der „Gelben Linie“ näherten und von der IDF willkürlich als „Bedrohung“ betrachtet wurden, gezielt ermordet. Die Gelbe Linie ist eine unsichtbare Demarkationslinie, die den Gazastreifen in einen zentralen „freien“ und einen von der IDF besetzten Teil unterteilt. Wann genau sich die IDF auf die „rote Linie“, eine deutlich grenznähere neue Demarkationslinie, zurückzieht, bleibt offen. Aber es wird sicher noch einige Zeit dauern, bis die langfristigen Kolonialpläne für Gaza umgesetzt werden.
So sollen Besatzungstruppen „neutraler“ Staaten – spekuliert wird über Ägypten, Indonesien und Aserbaidschan sowie die USA – in Gaza stationiert werden und die Entwaffnung des palästinensischen Widerstands und die „Ausbildung neuer Sicherheitskräfte“ überwachen. Mit diesem Plan soll Gaza zu einem besetzten Gebiet werden, in dem ausländische Mächte die Kontrolle haben. Selbstbestimmung für Palästinenser:innen ist nicht vorgesehen.
Auch die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen nötigen Versorgungsgütern ist noch immer unsicher. So lässt Israel viel weniger Lastwagen mit Hilfsgütern einfahren als eigentlich vereinbart. Grund dafür? Die Hamas würde sich weigern, die Körper der getöteten Geiseln zurückzugeben – lediglich eine zynische Ausrede, Palästinenser:innen weiter leiden zu lassen. Die Hamas unternimmt seit Beginn des Waffenstillstands größte Anstrengungen, alle toten Geiseln zu bergen. Da diese jedoch unter den Trümmern des Bombenterrors der IDF begraben sind, wodurch die meisten von ihnen auch getötet wurden, gestaltet sich dies als schwierig. Auch weil Israel immer wieder verweigerte, schweres Baugerät einzuführen, das die Suche erheblich vereinfachen würde.
Insgesamt kann man sagen, dass sich seit dem 10. Oktober die Lebensbedingungen in Gaza zwar gebessert haben, aber das systematische Morden in verminderter Form weitergeht. Allerdings ist der es ersetzende Zustand lediglich eine Verringerung des Leidens, kein Ende. Von einem Aufhören des Genozids kann man keineswegs sprechen, allenfalls davon, dass er zurzeit eine weniger drastische Form annimmt. Hinzu kommt, dass eine Wiederaufnahme der Angriffe in vollem Umfang keineswegs ausgeschlossen werden kann, auch wenn dies den Interessen der USA entgegensteht und daher zurzeit eher unwahrscheinlich ist.
Welches Verhältnis die IDF unter der Netanjahu-Regierung zu Waffenstillständen hat, sieht man auch im Libanon. Dort hält sie nicht nur weiterhin Teile der Grenzregionen besetzt, auch greift sie nahezu täglich „Hisbollah-Ziele“ aus der Luft an. Getötet wurden dabei in der Zeit des inzwischen mehr als einjährigen Waffenstillstands mindestens 111 Zivilist:innen (Stand: 2. November). Dass ein Waffenstillstand bedeutet, dass man die gegnerische Konfliktpartei eben nicht mehr angreift, interessiert Netanjahu und die IDF genauso wenig wie irgendwelche anderen Gesetze und Regeln, einmal vom „Recht des Stärkeren“ abgesehen. Schließlich kann man sich die historische Chance nicht entgehen lassen, die im Zuge des aktiven Krieges im Herbst 2024 massiv geschwächte Hisbollah als militärische Akteurin dauerhaft zu vernichten – insbesondere jetzt, wo auch der Iran nach dem 12-Tage-Krieg im Juni nicht gewillt oder fähig ist, dagegen etwas zu unternehmen.
Diese Angriffe haben in den letzten Wochen zugenommen. So wurde auch die südliche Vorstadtregion von Beirut, im Oktober letzten Jahres Ort massiver Angriffe, erneut zum Ziel einer Bombenatttacke. Das Ziel ist wohl auch, der libanesischen Regierung gegenüber eine dauerhafte Drohkulisse aufrechtzuerhalten und den Staat so zu kompletter Passivität und Defensive zu zwingen. Und anders als in Gaza, wo der „Friedensplan“ ein wichtiger Prestigefaktor für Trump ist, interessieren die fast täglichen IDF-Terroranschläge im Libanon international niemanden so wirklich.
In der Westbank nimmt seit Abschluss des Waffenstillstands die Gewalt durch Siedler:innen und IDF massiv zu. Inzwischen sind gewaltsame Angriffe von rechtsradikalen und faschistischen Siedler:innen zur täglichen Realität geworden. Immer häufiger wird nicht „nur“ das Eigentum der Palästinenser:innen zerstört, sondern sie werden direkt ermordet. Unter dem „Sicherheitsminister“ Itamar Ben-Gvir, den man mit Fug und Recht einen Faschisten nennen kann, wurden die Siedler:innen von Schläger:innenbanden zu Milizen umgebaut, erhielten große Mengen an Schnellfeuerwaffen und Munition sowie einen de facto Freifahrtschein, diese auch einzusetzen. Eingebettet sind diese Angriffe durch Siedler:innen sowie auch die IDF, die hier monatlich Dutzende Palästinenser:innen ermordet und Hunderte verschleppt, in Pläne, die Westbank zu annektieren und somit dem israelischen Staatsgebiet einzuverleiben. Erst am 22. Oktober wurde ein Gesetz dazu mit knapper Mehrheit im israelischen Parlament (Knesset) beschlossen. Wohlgemerkt gegen Netanjahu, der diesen Vorstoß ablehnte. Warum, ist klar: So verurteilten die USA diese Abstimmung scharf und machten deutlich: „Das wird nicht passieren.“ Was jedoch passiert, mit Unterstützung Netanjahus und Duldung der USA, ist der Bau zahlreicher neuer illegaler Siedlungen auf gestohlenem palästinensischem Land. So plant die rechtsradikale israelische Regierung, einen Plan fortzusetzen, der das Abtrennen Ostjerusalems vom Rest der Westbank durch einen Halbring aus Siedlungen vorsieht. Von Frieden kann also auch in der Westbank nicht die Rede sein. Stattdessen schreitet die Vertreibung der Palästinenser:innen durch den Staat oder mit dessen Duldung handelnde Milizen weiter voran. Und auch ein kürzlich beschlossenes Gesetz zeigt unmissverständlich, dass es sich hierbei um ein Apartheidsystem aus dem Lehrbuch handelt: So soll künftig ein/e Palästinenser:in, der/die eine/n Israel:in tötet, hingerichtet werden dürfen, umgekehrt aber natürlich nicht. In den meisten Fällen muss diese/r mit gar keiner Strafe rechnen, selbst wenn er/sie nicht aktiv für die IDF handelt.
Die Palästinensische Autonomiebehörde spielt währenddessen ihre unrühmliche Rolle weiter: Nicht nur unternimmt sie nichts gegen den Siedler:innenterror, stattdessen unterstützt sie die Besatzungsmacht immer wieder aktiv dabei, palästinensischen Widerstand niederzuhalten. Sie ist schon seit langer Zeit ein Stein im Weg der Befreiung Palästinas, was immer wieder deutlich wird.
Wir sehen, dass der Waffenstillstand keinen echten Frieden bringen kann und erst recht nicht die Unterdrückung der Palästinenser:innen beendet. Er fällt selbst hinter den Oslo-Plan weit zurück. Die Schimäre der Zwei-Staaten-Lösung, die schon lange hohl und reaktionär war, ist endgültig in sich zusammengebrochen. Es ist offenkundig geworden, dass es mit dem zionistischen, von seinem Grundprinzip her reaktionären, rassistischen Staat keine friedliche Koexistenz geben kann. Israel wird immer weiter brutal Krieg führen gegen jeden Funken von palästinensischem Widerstand und gegen andere unliebsame Kräfte in der ganzen Region, aus seinem ultrarassistischen Eigeninteresse wie aus seiner Rolle als imperialistischer Gendarm des westlichen Blocks heraus.
Der westliche Imperialismus, insbesondere die USA, ist es, in dessen Interesse Israel Politik betreibt, und Trumps Gaza-Plan ist zu verstehen als ein Zurückpfeifen des Kettenhundes, der sich zu sehr verselbstständigt hatte und, besonders mit dem Angriff auf Katar, schließlich auch US-Interessen bedrohte. Die USA versucht nun, den Konflikt reaktionär zu „befrieden“, ohne von Israel „Unzumutbares“ zu verlangen, wie die Etablierung eines auch nur als Schimäre existierenden palästinensischen Staates. Stattdessen soll ein neuer Status quo geschaffen werden, in dem die Palästinenser:innen noch weitaus unterdrückter und marginalisierter sind als zuvor. Auch wenn ihre direkte physische Vernichtung nicht vorgesehen ist, sollen die Palästinenser:innen faktisch als Nation ausradiert und ihr Widerstandswille gebrochen werden.
Auf Basis der Errichtung eines Protektorats sollen dann die Abraham-Accords wieder aufgenommen werden, eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und sämtlichen Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, sowie womöglich auch der neuen Regierung in Syrien. Mit einer totalen Vertreibung und Vernichtung der Palästinenser:innen aus Gaza sowie einer direkten formalen Annexion der Westbank ist das nicht vereinbar, mit der fortlaufenden Landnahme, der Ausweitung der zionistischen Siedlungen und verschärfter Unterdrückung der Palästinenser:innen schon.
Der russische und chinesische Imperialismus zeigen durch die De-facto-Zustimmung zum Trump’schen Friedensplan, dass sie keine Verbündeten des palästinensischen Widerstands sind, sondern Zuschauer, die genau überlegen und abwägen, was sie tun können, um ihren eigenen Interessen am besten zu nützen. Das zeigte sich auch beim 12-Tage-Krieg Israels (und am Ende der USA) gegen den Iran. Obgleich mit dem Iran mehr oder weniger eng verbündet, beließen es die beiden Großmächte bei Lippenbekenntnissen oder symbolischer Hilfe für die angegriffene Regionalmacht. Gleichzeitig entpuppte sich die vom Iran geführte „Achse des Widerstands“ als zahnloser Tiger, der spätestens mit den israelischen Bomben auf Teheran kraftlos zusammensank. Weder reaktionäre, islamistische Kräfte wie die Hamas, die zurzeit den palästinensischen Widerstand führt, noch Regionalmächte oder „neue“ imperialistische Großmächte können oder wollen Palästina befreien. Doch wie kann Palästina dann befreit werden?
Die Lage in Palästina ist so zugespitzt, dass eine fortschrittliche Befriedung, eine Befreiung Palästinas oder selbst ein unabhängiger palästinensischer Staat im imperialistischen Weltsystem kaum denkbar sind. Die einzige Möglichkeit, wie Palästina realistisch befreit werden kann, liegt außerhalb dessen bzw. im aktiven Kampf gegen die zionistische Besatzung wie auch gegen die imperialistische Herrschaft – nicht zugestanden durch irgendeine Groß- oder Regionalmacht, sondern erzwungen durch den Kampf der Arbeiter:innenklasse und Unterdrückten!
In den letzten Jahren haben wir gesehen, wie in allen Ecken der Welt Massen für Palästina auf die Straße gegangen sind. In zahlreichen Ländern haben diese Proteste historische Stärke erreicht. Die Palästinabewegung der letzten Jahre erinnert an die gegen den Vietnamkrieg. In Deutschland haben in der größten propalästinensischen Demo seiner Geschichte mehr als Hunderttausend der Staatsräson getrotzt. In Britannien waren regelmäßig Millionen auf der Straße. Insbesondere in den Wochen vor dem Waffenstillstand erreichte die Bewegung eine neue Hochphase. Im Fahrwasser der Global Sumud Flotilla, die einen Akt unglaublichen Muts darstellte, mobilisierten noch einmal Millionen auf die Straßen. So trug sie zu einer Welle der Wut und des Widerstands bei, die viele westliche Staaten zu symbolischen Zugeständnissen, v. a. der formalen (aber im Grunde rein symbolischen) Anerkennung des Staates Palästina zwang, und womöglich dazu beigetragen haben könnte, dass die USA so sehr auf einen Waffenstillstand gedrängt haben, um das zeitgleich mit den Gen-Z-Protesten drohende Umschlagen in eine globale Aufstandsbewegung zu verhindern.
Doch die Bewegung hatte eine zentrale Schwäche, die sie nie wirklich überwinden konnte: Sie konzentrierte sich zumeist auf eine Massendemonstration nach der anderen, konnte damit jedoch die Regierung nur passiv unter Druck setzen, symbolische Maßnahmen, aber keinen realen Bruch mit der Unterstützung für den Zionismus erzwingen. In Italien jedoch gelang in dieser Hochphase der Bewegung Ende September/Anfang Oktober ein qualitativer Sprung. Mit gigantischen Massenstreiks gingen die italienischen Arbeiter:innen den nächsten Schritt, den Schritt, um tatsächlich ökonomischen Druck auszuüben. Sie brachten den Widerstand an die Orte des kapitalistischen Alltags, in die Betriebe, an Unis und auch Schulen! Ebenfalls in Italien geschah in Protoform, was der Schlüssel zum Sieg der Bewegung sein kann, wie das Proletariat imstande ist, den Zionismus zu brechen und Palästina zu befreien:
Rüstungsrelevante Lieferungen nach Israel wurden in mehreren italienischen Häfen blockiert! Das ist die Aufgabe der Arbeiter:innenklasse: zu verhindern, dass der zionistische Staat an Waffen, aber auch an andere kriegswichtige Güter kommt! Und das ist es daher auch, was eine Bewegung für die Befreiung Palästinas, die wie oben geschildert noch immer zwingend notwendig ist, tun muss: Schiffe und Flugzeuge mit Ziel Haifa, Aschdod oder Ben Gurion Airport nicht durchlassen!
Um den palästinensischen Widerstand zu brechen, hat Israel versucht, Gaza durch eine komplette Blockade von Hilfsgütern auszuhungern, von jeder Versorgung abzuschneiden. Um den Zionismus zu brechen, gilt es für uns, seine Versorgung durch den Imperialismus zu durchtrennen. Ohne Waffen, Munition und andere Güter von westlichen Staaten ist Israel nicht lange überlebensfähig, kann es seinen Terror nicht lange aufrechterhalten! Neben Warenlieferungen gehören dazu auch andere Aktionen des Boykotts – so der Zusammenarbeit von Universitäten mit solchen, die am Genozid beteiligt waren und an der Unterdrückung beteiligt sind!
Um das erzwingen zu können, gegen die Macht der imperialistischen Staaten, die mit aller Gewalt solche umfangreichen Blockaden zu brechen versuchen würden, braucht es Strukturen zur Koordinierung! Wir müssen uns organisieren in unseren Betrieben, an Schulen und Universitäten! Dort müssen wir Komitees schaffen und Selbstverteidigungsstrukturen, um Veranstaltungen und Aktionen gegen Provokateur:innen und Repression schützen zu können! In den westlich-imperialistischen Ländern gilt es, die Unterstützung für den Zionismus zu brechen. In Westasien und Nordafrika gilt es, die passive oder offene Kooperation der Regime mit Zionismus und Imperialismus aufzuzeigen; es gilt, die weitere Zusammenarbeit mit dem Zionismus durch Massenmobilisierungen zu stoppen und diesen Kampf mit dem gegen die Ausbeutung und Unterdrückung zu verbinden, kurzum mit dem für einen Neuen Arabischen Frühling und für den revolutionären Sturz der reaktionären Regime. Nur als Teil einer Sozialistischen Föderation der Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas kann ein säkulares und sozialistisches Palästina vom Fluss zum Meer frei sein! Und diese Föderation kann nur eingebettet in eine globale sozialistische Bewegung gegen den Imperialismus bestehen! Darum muss unsere Parole lauten: Globalize the Intifada! Intifada bis zum Sieg, bis es der Imperialismus ist, der in Schutt und Asche liegt, und aus seinen Trümmern die Sozialistische Weltrepublik emporsteigt!