Bruno Tesch, Infomail 1290, 29. August 2025
Die Ankündigung eines „heißen Herbstes“ schien bislang das Privileg des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu sein. Nun hat sich die Führungskraft an der Regierung, die Christlich Demokratische Union, dieses Labels bemächtigt – und im Gegensatz zu den leeren Versprechungen der Gewerkschaften von Kampfaktionen, die sich im besten Fall in einigen Demonstrationen erschöpften, meint sie es auf ihre Art „ehrlicher“ und ist gewillt, alle Druckmittel gesetzlicher und ideologischer Art einzusetzen, um ein arbeiter:innenfeindliches Programm durchzusetzen.
Waren es am vorigen Wochenende noch Botschaften, die teils aus nichtregierungsamtlichen Quellen sickerten, kehrte nun die höchste Ebenenwahl, mit der die Unionsspitzen unter Vorsitz von Kanzler Merz am 25.8. tagten, gefolgt von einer Klausurtagung der parlamentarischen Fraktion am 27.8. in Würzburg, die besondere Bedeutung hervor und trug durch die eindeutig umrissene thematische Vorgabe einen vollumfänglich programmatischen Charakter.
Es ging bei der Zusammenkunft um Entscheidungen, die in diesem „Herbst der Reformen“ herbeigeführt werden sollen, um das „Sozialsystem zukunftsfest“ zu machen. Mit der Äußerung „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist nicht mehr finanzierbar“ gab Merz schon zuvor in seiner Rede auf dem niedersächsischen Landesparteitag der CDU die Richtung vor. Merz spielt auf den Mythos Sozialstaat an, als ob die herrschende Klasse ihn geschaffen hätte. Soziale Errungenschaften mussten jedoch zumeist gegen ihren Willen von der Arbeiter:innenbewegung erkämpft werden, um dann vom Staat einverleibt zu werden.
Assistenz erhielt er v. a. aus den Reihen der in Bayern regierenden christlichen Schwester CSU (Christlich Soziale Union), die aus dem Munde ihres Vorsitzenden Markus Söder die Deckungslücke für den Bundeshaushalt von 30 Milliarden Euro mit konkreten Einsparmöglichkeiten bei Bürgergeld und Heizungsgesetz zu schließen gedenkt. Steuererhöhungen seien für diesen Zweck ein „No go“, was jedoch nicht für die Belastung von auch gering verdienenden Beitragszahler:innen mit höheren Beiträgen für die Pflegeversicherung gelten soll, eine verkappte Steuererhöhung also. Die Erbschaftssteuer solle hingegen gar gesenkt werden.
Eine Bündelung der verschiedenen Wünsche aus dem Lager der bürgerlichen Rechten und des Kapitals wird ins Auge gefasst und soll in Fachkommissionen als Gesetzesvorlage ausgearbeitet werden.
Mit dem CDU-Vorstoß soll natürlich auch die Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit der Koalitionspartnerin, der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), ausgetestet werden. Die Parteispitze äußerte sich beschwichtigend und wiegelte ab: Es habe in den ersten 100 Amtstagen von Merz schon mehrfach Entscheidungen gegeben, die wieder revidiert worden seien. Deshalb müsse man das, was in der CDU gerade diskutiert wird, nicht zu ernst nehmen. Doch, das muss man! Wer bei solchen geplanten Angriffen lieber abwartet, statt eigene Positionen dem entgegenzustellen und dagegen nicht nur die eigene Basis, sondern auch andere Arbeiter:innenorganisationen zu mobilisieren, handelt fahrlässig und begeht einmal mehr Verrat an der Arbeiter:innenklasse.
Mit heißer Nadel wurde derweil am gleichen 27. August an einem neuen Topthema gestrickt, das sich um Weichenstellungen für eine weitere Militarisierung von Staat und Gesellschaft dreht und innen- und außenpolitische Ambitionen miteinander verquickt. Die Reaktion der SPD darauf lässt das Schlimmste für ein Mittragen auch des Sozialabbaus befürchten.
Das Regierungskabinett beschloss einmütig die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats. Neben koordinativen und exekutiven Aufgaben soll die „Resilienz“ Deutschlands mittels Durchführung von Krisensimulationen und sicherheitspolitischen Übungen gestärkt werden.
Die Koalition hat zugleich auch das Gesetz zum Wehrdienst auf den Weg gebracht. Es sieht ab nächstem Jahr das pflichtgemäße Ausfüllen von Fragen der männlichen Bevölkerung zur „Wehrwilligkeit“ vor, als nächsten Schritt dann ab 1.7.2027 die verpflichtende Musterung der Geburtsjahrgänge ab 2008, und im Folgejahr steht die Endstufe der Wiedereinführung der Wehrpflicht an. Dieses Gesetz muss noch ratifiziert werden, bedarf jedoch nicht der Zustimmung des Bundesrates. Der Sprecher:innenrat der Bundesschüler:innenkonferenz monierte, dass im Vorwege zu diesem Projekt zu keinem Zeitpunkt auch nur ein/e einzige/r Vertreter:in der Jugend zu Diskussionen oder Anhörungen geladen worden sei.
Ein zusätzliches Kabinettstückchen lieferte die Regierung in Form des gebilligten Rüstungsexportberichts, der die schon von der Ampelkoalition getätigten Genehmigungsverfahren für Waffenausfuhren beschleunigen und deren Umfang noch vergrößern soll. Allein im ersten Halbjahr hat die deutsche Wirtschaft mit 12,83 Milliarden Euro militärtechnischer Exportartikel einen neuen Rekord aufgestellt. „Die Zeitenwende wird erlebbar“, jubelte ein reaktionärer Redakteur des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND).
Wenn es noch eines untrüglichen Beweises für die kritiklos stützende Haltung der SPD für den heimischen Imperialismus und strikte Staatsräson bedurft hätte, so wurde er am gleichen Tag erbracht, als zur Einweihung der künftig größten Munitionsfabrik Europas Parteichef Klingbeil und Verteidigungsminister Pistorius in trauter Eintracht mit Friedrich Merz und NATO-Generalsekretär Rutte das Startband für die Errichtung eines Rheinmetall-Werks in Unterlüß (Lüneburger Heide) zerschnitten.
die SPD ihre ominösen „roten Linien“ in der Sozialpolitik, die Eingriffe z. B. in bestehendes Arbeitsrecht vermeiden will, fallen lässt?
2003 setzte sich die SPD selber für den Umbau der Sozialsysteme ein. Die berüchtigte Agenda 2010 wurde unter Führung der Sozialdemokratie vom Schröder/Grünen-Kabinett aufgelegt und sollte Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung schaffen und hatte in dem Zusammenhang auch Kürzungen von Leistungen des Staates im Gepäck, was selbstredend auch jede/r Kapitalist:in aus der Seele sprechen musste.
Die SPD wurde bei den Bundestagswahlen 2005 dafür abgestraft und musste in die Rolle der Juniorpartnerin in einer CDU-geführten Regierung schlüpfen. Viel bedeutsamer allerdings war, dass die Agenda-Politik in Teilen der Arbeiter:innenklasse Unmut hervorrief, der sich nicht nur in Großdemonstrationen entlud, sondern auch eine Absetzbewegung in Gang setzte, was in der Gründung der damaligen Wahlalternative für Soziale Gerechtigkeit (WASG) gipfelte, die wiederum in der späteren Linkspartei aufging.
Ob sich ein solches Szenario wiederholt, lässt sich nicht vorhersagen, auszuschließen ist es aber nicht ganz, obwohl die Vorzeichen heute mit dem Vorrücken des Rechtspopulismus andere sind als noch vor 20 Jahren. Nichts deutet auf einen möglichen Fraktionskampf innerhalb der SPD hin, der die Partei bei ihrem derzeitigen Tiefstand in der Wähler:innengunst vor eine Zerreißprobe stellen könnte. Ein Fraktionskampf hatte auch damals nicht stattgefunden, weil v. a. der Protagonist der Opposition gegen den Agendakurs, der seinerzeitige Finanzminister Oskar Lafontaine, sich schmollend zurückzog, statt dagegen zu mobilisieren.
Revolutionär:innen müssen aber die Entwicklung gerade im Parteiengefüge nicht nur aufmerksam beobachten und kommentieren, sondern auch taktisch darauf reagieren und Einheitsfrontangebote um Schlüsselfragen für die Arbeiter:innenklasse in Abwehr der Angriffe von Kapital und Regierung unterbreiten.