Stefan Katzer, Neue Internationale 292, Juni 2025
Es bildete eine der zentralen Einsichten des italienischen Marxisten Antonio Gramsci, dass die bürgerliche Klasse ihre Herrschaft nicht allein auf Zwang und Gewalt, sondern ebenso auf der Zustimmung der Beherrschten gründet. Zwar hat der bürgerliche Staat in letzter Instanz immer auch die Möglichkeit, seine Repressionsorgane einzusetzen, um eine bestimmte Politik mit Gewalt durchzusetzen. In zugespitzten Situationen des Klassenkampfes macht er davon auch regelmäßig Gebrauch, um die Voraussetzungen der Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu sichern.
Eine einigermaßen stabile Herrschaftsform erfordert jedoch immer, aktive Zustimmung oder wenigstens passive Tolerierung ihrer Politik auch bei jenen zu organisieren, die selbst nicht Teil der herrschenden Klasse sind. Um dies zu erreichen, muss die herrschende Klasse ihre eigenen, besonderen Interessen als jene der gesamten Gesellschaft darstellen. Je besser ihr dies gelingt, desto leichter kann sie ihre Interessen durchsetzen.
Gegenwärtig ist das politische Personal des deutschen Imperialismus darum bemüht, den hunderte Milliarden Euro umfassenden Aufrüstungskurs als ein Projekt auszugeben, von dem angeblich alle Klassen und Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen profitieren.
Während es die Lohnabhängigen sind, die die Kosten tragen und im Zweifel für „ihr Vaterland“ töten und sterben sollen, dient die Aufrüstung einzig und allein den Interessen der Herrschenden. Sie ist notwendig geworden, um in der sich verschärfenden internationalen Konkurrenz zwischen den imperialistischen Mächten bestehen und eine führende Stellung in der Konkurrenz verteidigen zu können. Vor dem Hintergrund der Überakkumulationskrise und weiter sinkender Profitraten sind die Großmächte in einen Wettlauf um die Neuaufteilung der Welt eingetreten, der auch direkte militärische Auseinandersetzungen zwischen imperialistischen Staaten bzw. Blöcken wahrscheinlicher werden lässt. Für die Herrschenden ist es daher essenziell, sich auf diese Eventualität vorzubereiten und die Zustimmung der eigenen Bevölkerung zum eigenen Aufrüstungskurs zu sichern.
Und nichts ist dabei günstiger, als den eigenen Militarismus, den eigenen nationalen Schulterschluss als Akt der Verteidigung, als durch aggressive, despotische, autoritäre oder einfach verrückte Konkurrenz hervorgerufen darzustellen.
Einen zentralen Stellenwert bei der ideologischen Rechtfertigung der nun stattfindenden Aufrüstung in den westlichen, genauer unter den europäischen Imperialismen, spielt das Narrativ von der „Verteidigung der Freiheit“ gegenüber Putin und dem russischen Imperialismus. Mit dem reaktionären Überfall auf die Ukraine hat Putin eine Rechtfertigung geliefert, die eigenen Militärausgaben drastisch zu erhöhen. Seit der Zeitenwenderede von Scholz ist klar, dass die herrschende Klasse die Gelegenheit nutzen wird, um sich selbst in Position zu bringen.
Da ein offener Militarismus, der die wahren Ziele der Aufrüstung klar benennen würde, der Bevölkerung nicht vermittelbar ist, wurde ein Narrativ entwickelt, das diese den Lohnabhängigen schmackhaft machen soll. Die erhöhten Militärausgaben dienen demnach nicht etwa dazu, die Interessen der herrschenden Klasse weltweit durchzusetzen. Vielmehr seien sie notwendig, um die demokratische Freiheit der westlichen Gesellschaften gegen den östlichen Autoritarismus Russlands (und Chinas) zu verteidigen.
Russland und insbesondere Putin werden dabei als ein äußerer Feind inszeniert, der „unsere Freiheit und Demokratie“ gefährde und gegen den „wir uns“ daher kollektiv zur Wehr setzen müssten. Ungeachtet der Tatsache, dass das Militärbudget der EU bereits jetzt das von Russland übersteigt und allein das deutsche mit den Milliardenvorhaben der neuen Bundesregierung diesem in etwa entsprechen wird, wird so getan, als sei Putin kurz davor, die EU zu überfallen, wenn „wir“ ihm jetzt nicht die Stirn bieten und „unsererseits“ aufrüsten.
Zu Putin gesellt sich seit diesem Jahr auch die neue Trump-Regierung, die die EU und damit Deutschland als Konkurrenz und Rivalen angreift, die die transatlantische „Partner:innenschaft“ in Frage stellt oder jedenfalls so neu bestimmen will, dass Deutschland und Co. in der imperialistischen Ordnung herabgestuft werden. Auch gegen diese Disruption der internationalen Verhältnisse müssten sich Deutschland, Frankreich und die EU wappnen – und das heißt, selbst zu einer militärischen Kraft werden, die als globale Großmacht agieren kann.
Natürlich stellen der russische, der US-amerikanische und natürlich auch der chinesische Imperialismus tatsächlich reaktionäre Kräfte dar, die von den Lohnabhängigen bekämpft werden müssen. Dabei müssen diese aber ihr eigenes Programm, ihre eigene Strategie verfolgen und dürfen sich nicht zu Anhängseln „ihrer“ herrschenden Klasse machen lassen. Genau das tun aber alle, die den aktuellen Aufrüstungskurs nicht ohne Wenn und Aber bekämpfen.
Wie verlogen das ganze Gerede von der Verteidigung der Demokratie ist, lässt sich auch hierzulande leicht verdeutlichen, wenn wieder einmal die Axt an demokratische Rechte gelegt und der Raum, in dem demokratische Willensbildungsprozesse stattfinden, immer weiter eingeengt wird. Besonders deutlich wurde dies, als sich die palästinasolidarische Bewegung in Deutschland letztes Jahr darum bemühte, die Komplizenschaft des deutschen Imperialismus am Genozid Israels an den Palästinenser:innen aufzudecken. In Putin’scher Manier wurden von der damaligen Innenministerin Nancy Faeser die bewaffneten Repressionsorgane eingesetzt, um einen Kongress zu verhindern, der sich kritisch mit der Rolle der deutschen Bundesregierung bei der Massakrierung der Palästinenser:innen im Gazastreifen auseinandersetzen wollte. Über eine gerichtliche Erlaubnis des Kongresses wurde sich dabei einfach hinweggesetzt, Menschen wurden an der Einreise gehindert und der Kongress schließlich von der Polizei auf Geheiß von oben willkürlich aufgelöst.
Darüber hinaus wurde auch die Versammlungsfreiheit massiv eingeschränkt und Menschen wurden daran gehindert, Demonstrationen in Solidarität mit Palästina durchzuführen. Ebenso wurden Vereine verboten, die sich mit dem palästinensischen Befreiungskampf solidarisierten.
Ebenso wurden die Rechte und Freiheiten von Geflüchteten und Arbeitslosen in den letzten Jahren immer weiter eingeschränkt. So wurde etwa mit der Bezahlkarte für Geflüchtete ein System eingeführt, das diese Menschen bevormundet und in ihrer Freiheit bei der Auswahl von Konsumgütern massiv einschränkt. Erwerbslose hingegen müssen damit rechnen, dass der Staat ihre Leistungen unter das Existenzminimum kürzt, sollten sie sich nicht so benehmen, wie die Behörden es von ihnen verlangen. Und auch die Freiheit, über den eigenen Körper bestimmen zu können, ist für Frauen in Deutschland immer noch nicht verwirklicht – Paragraph 218 lässt grüßen!
All dies macht deutlich, dass die Lohnabhängigen sich bei der Verteidigung ihrer demokratischen Rechte und Freiheiten nicht auf die herrschende Klasse verlassen können. Im Gegenteil. Es ist die herrschende Klasse in Deutschland selbst, die die größte Bedrohung für die Freiheit der Lohnabhängigen hierzulande darstellt. Sie ist es, die auf Kosten der Lohnabhängigen hunderte Milliarden für Aufrüstung ausgibt, anstatt in die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter:innenklasse zu investieren. Sie ist es, die mit rassistischer Hetze die Lohnabhängigen mit deutschem Pass gegen ihre geflüchteten Klassenbrüder und -schwestern ausspielt. Sie ist es, die den Genozid in Gaza mit Waffenlieferungen befördert, weitere Militärinterventionen vorbereitet und die NATO-Aufrüstung in Osteuropa forciert. Sie, die herrschende Klasse im eigenen Land, ist daher die Hauptfeindin, die es zu bekämpfen gilt.
Leider haben das viele Organisationen der Arbeiter:innenklasse nicht verstanden. Insbesondere die Bürokratie innerhalb der Gewerkschaften, aber auch das führende Personal in den reformistischen Parteien setzen im Kampf gegen den russischen Imperialismus nicht etwa auf die Stärke und den revolutionären Elan der Arbeiter:innenklasse, sondern auf die als „Wertegemeinschaft“ betitelte Europäische Union und deren „Verteidigungsfähigkeit“. Die Gewerkschaftsbürokratie hat auch gar kein Interesse daran, den Klassenkampf gegen die Aufrüstung anzuheizen, geht es ihr selbst doch darum, in trauter Partnerschaft mit der herrschenden Klasse die bestmögliche Position für den deutschen Imperialismus herauszuschlagen. Dementsprechend ist es kein Wunder, wenn die Verlautbarungen dieser bürokratischen Kaste sich kaum von Regierungserklärungen unterscheiden.
So schrieb etwa der DGB in seiner Erklärung zu den Ostermärschen 2025 von der Notwendigkeit für Deutschland und die EU, „verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um gemeinsam verteidigungsfähiger zu werden“ (https://www.dgb.de/aktuelles/news/frieden-sichern-verteidigungsfaehigkeit-erhoehen-militarisierung-stoppen/).
Die Erklärung illustriert eindrücklich, wohin es führt, wenn man die Erzählung der herrschenden Klasse für bare Münze nimmt. So wird in der Erklärung des DGB zwar korrekterweise davon gesprochen, dass der Kampf um die Neuaufteilung der Welt sich weiter zuspitzt. Doch angeblich fände dieser nur zwischen „den drei Großmachtkonkurrenten USA, China und Russland“ statt, während Deutschland und die EU auf das immer aggressivere Gebaren ihrer Konkurrent:innen die einzig sinnvolle Konsequenz zögen, indem sie „ihre militärische Verteidigungsfähigkeit [erhöhen], um zu verhindern, zum Spielball rivalisierender Großmachtinteressen zu werden“.
Die EU wird kontrafaktisch als eine „Friedensmacht“ dargestellt, ihr Klassencharakter als, wenn auch krisengeschüttelter, imperialistischer Block unter Führung von Deutschland und Frankreich wird geleugnet. In der Sprache der Bürokratie klingt das so: „Auch mit Blick auf das ‚ReArm Europe‘-Paket erwarten wir, dass die EU-Staaten die Debatte über die Erhöhung ihrer gemeinsamen Verteidigungsfähigkeit sachlich und besonnen fortführen, sich gleichzeitig aber ernsthaft darum bemühen, ihr Engagement für echte friedenssichernde Maßnahmen auszubauen.“ Kritisiert wird nicht die ungeheure Aufrüstung an sich, sondern lediglich die Tatsache, dass die Rüstungsausgaben „an abstrakten Ausgabengrößen festgemacht werden“, anstatt sich am realen Bedarf zu orientieren.
Auch Vertreter:innen der Linkspartei tragen zur Desorientierung unter den Lohnabhängigen bei, wenn sie davon reden, dass „Verteidigung europäisch gedacht“ werden müsse, anstatt den Klassenkampf gegen jede Form der Aufrüstung zu führen. Da die Linke über keine konsistente antimilitaristische Strategie verfügt, welche mit dem Ziel der Überwindung des Imperialismus als einem weltweiten System verbunden ist, neigen deren Vertreter:innen immer wieder dazu, die Lügen der Herrschenden über den angeblich friedlichen Charakter der EU wiederzukäuen.
Die Führung der Linkspartei stimmt, wenn auch etwas verhaltener, in diesen Chor ein. So behauptete etwa auch Jan van Aken in einem TV-Duell vor der Bundestagswahl, dass die EU im Gegensatz zur NATO eine „Wertegemeinschaft“ darstelle und schon längst zu einer „Friedensmacht“ hätte werden können, wenn die Bindung an die NATO nicht so stark wäre (https://www.zdf.de/nachrichten/video/trump-jan-van-aken-schlussrunde-bundestagswahl-video-100.html). Anstatt konsequent gegen die nun stattfindende Militarisierung zu agitieren, wirbt Jan van Aken dafür, „Sicherheit europäisch zu denken“, und meint, damit eine progressive Antwort auf das Säbelrasseln der herrschenden Klasse gegeben zu haben. Doch die Bundeswehr oder andere militärische Einheiten verlieren nicht dadurch ihren herrschaftssichernden Charakter, indem sie einer Befehlsstruktur auf europäischer Ebene unterstellt werden. Sie sowie jedes andere stehende Heer müssen vielmehr zerschlagen und durch bewaffnete Organe der Arbeiter:innenklasse ersetzt werden.
Wenn die herrschende Klasse behauptet, durch die weitere Militarisierung und Aufrüstung die Freiheit zu verteidigen, dann geht es nie um eine über den Klassen stehende „Freiheit“, sondern um ihre, für den eigenen Profit Geschäfte machen und die Arbeiter:innenklassen anderer Länder ausbeuten zu können. Eine über den Klassen stehende, „reine“ Freiheit ist letztlich eine ideologische Fiktion, bei der es darum geht, „unserem“ Imperialismus einen vorderen Platz in der internationalen Konkurrenz zu verschaffen, um im Kampf um die Neuaufteilung der Welt nicht zu kurz zu kommen.
Dabei darf die Arbeiter:innenklasse nicht mitmachen! Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, der herrschenden Klasse in die Arme zu fallen und ihr ausbeuterisches und militaristisches System durch eine sozialistische Revolution hinwegzufegen. Nur so können die Voraussetzungen für eine Welt ohne Waffen geschaffen werden. Um dies zu erreichen, müssen wir den Klassenkampf organisieren und eine Bewegung aufbauen, die dazu in der Lage ist, dem Aufrüstungseifer eine eigene Perspektive entgegenzusetzen.