Arbeiter:innenmacht

Das Elend von Äquidistanz und Raushalten

Martin Suchanek, Neue Internationale 284, Juli/August 2024

Stell Dir vor, es findet ein genozidaler Krieg statt – und die Mehrzahl der deutschen Linksradikalen beteiligt sich nicht an den Solidaritätsaktionen mit den tausenden zivilen Opfern, den Demonstrationen, die ein Ende des Mordens und dessen willfähriger Unterstützung durch den deutschen Staat fordern. Dieses Verhalten stößt zu Recht auf Unverständnis, Kritik, Empörung.

Dummerweise handelt es sich um keinen hypothetischen Fall. Große Teile, wahrscheinlich die Mehrheit der deutschen „radikalen Linken“ versuchen, sich seit Jahren aus dem Thema Israel/Palästina „rauszuhalten“. Die Interventionistische Linke stand über Jahre beispielhaft und bewusst für eine Haltung, die seit dem 7. Oktober 2023 immer untragbarer wird und die anscheinend selbst in ihren Reihen auf Widerspruch stößt.

So schreibt sie im „Zweiten Statement der IL Berlin zum Krieg in Israel/Palästina“ vom 7. Mai 2024: „Die Nicht-Beteiligung vieler (besonders weiß dominierter) linker Gruppen fällt auf, ihr (schweigendes) Nicht-Verhalten wird zu Recht kritisiert.“

Und im letzten Abschnitt des Textes heißt es: „Nichtstun ist in der aktuellen Situation keine legitime Option, auch wenn wir sie selber zu oft und zu lange gewählt haben. Aktuell gilt es für uns als Linke, vereint mit anderen für das Ende dieses Krieges auf die Straße zu gehen.“

Betrachtet man nur diese Passagen, so könnte man sagen: endlich! Doch so eindeutig und ernst ist es mit dem „vereint mit anderen für das Ende dieses Krieges auf die Straße Gehen“ dann doch nicht. Denn zu den „anderen“, also den real existierenden Kräften der Palästinasolidaritätsbewegungen, sieht ein Teil der IL unüberbrückbare inhaltliche Differenzen, die eine gemeinsame Mobilisierung unmöglich machen. Für andere in der IL gilt das nicht.

„Und so versuchen wir als Organisation, auch hier Unterschiede auszuhalten, um aus unserer Lähmung zu kommen: Während sich ein Teil von uns weiter den Demos anschließen wird, wird ein anderer Teil versuchen, andere Wege und Bündnispartner:innen zu finden.“

Die IL nimmt hier ihre eigene Aussage zurück, dass es aktuell darum gehe, geeint gegen den Krieg auf die Straße zu gehen. Während es zuerst hieß, dass „Nichtstun keine legitime Option wäre“, so ist es wenige Zeilen später doch eine. Man tut eben was anderes, während sich einige „privat“ an den Demos beteiligen. Und um diesen Unterschied „auszuhalten“, verzichten beide Seiten darauf, als IL in Erscheinung zu treten. Das mag den inneren Frieden in der eigenen Organisation sichern – Solidarität mit der Bewegung gegen den Gazakrieg ist es keine.

Die IL positioniert sich politisch weiter zwischen den Stühlen, zwischen Solidaritätsbewegung und deutschem Imperialismus. Diese Haltung, einerseits solidarisch sein zu wollen, andererseits den konkreten Aktionen fernzubleiben, durchzieht von Beginn an den gesamten Text. „Da unser Fernbleiben als Organisation von vielen als Entsolidarisierung erlebt wurde, wollen wir mit diesem Text unsere grundsätzliche Solidarität mit den Anliegen der Proteste ausdrücken und zugleich erklären, warum wir als Gruppe nach wie vor an der Frage gespalten sind, ob wir uns den Aufrufen der Demos anschließen wollen.“

Die IL Berlin lügt sich in die eigene Tasche, wenn sie so tut, als ob „grundsätzliche Solidarität mit den Anliegen der Proteste“ und gleichzeitiges bewusstes Fernbleiben miteinander vereinbar wären. Praktisch handelt es sich um eine Distanzierung, die nicht nur als Entsolidarisierung empfunden wird, sondern auch eine solche direkt hervorbringt und verfestigt. Im Folgenden wollen wir uns jedoch nicht nur mit dieser Feststellung begnügen, sondern der Frage nachgehen, woher die innere Widersprüchlichkeit der IL-Position rührt, die sie und Tausende, wenn nicht Zehntausende andere „Linksradikale“ zum „Raushalten“ und damit faktisch zur Distanzierung von der Solidaritätsbewegung führt.

Wir beziehen uns dabei auf das „Zweite Statement der IL Berlin zum Krieg in Israel/Palästina“, das auch den Anspruch erhebt, zu einer „differenzierten Auseinandersetzung“ mit dem Thema beizutragen.

Charakter des Krieges

Nach ihrem ersten Statement vom Oktober 2023 hat die IL Berlin auch versucht, eine Analyse des Krieges zu erarbeiten. Dabei stellt sie fest: „Doch der Konflikt in Israel/Palästina ist kein symmetrischer. Seit Jahrzehnten etabliert sich in der Region ein Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnis, das viele Menschenrechtsorganisationen als Apartheid bezeichnen.“

In den folgenden Passagen geht die IL Berlin eine Reihe Begriffe durch, die sie für zumindest partiell brauchbar hält, um den Konflikt zu beschreiben und analysieren (Apartheid, Besetzung, Vertreibung, Siedlerkolonialismus) usw.

Das Problem ihrer Bestimmungen besteht jedoch darin, dass es keine politisch-inhaltlichen sind, keine Charakterisierungen, die zu bestimmten politischen Schlussfolgerungen führen, sondern ein räsonierendes Für und Wider. So heißt es zum (Siedler-)Kolonialismus:

„Wir finden, es gibt gute Argumente, besonders in Bezug auf die systematische Besiedlung der Westbank oder die rassistische Unterdrückung dort von (Siedler-)Kolonialismus oder mindestens Elementen davon zu sprechen, und auch dafür, die Strukturen dort mit dem Apartheidsbegriff als spezifische Form der Herrschaft zu beschreiben. Wir sind uns aber uneinig darüber, ob wir die Verwendung dieser Begriffe produktiv finden, weil sie oft weniger als Zustandsbeschreibung, sondern als Kampfbegriffe genutzt und verstanden werden. Die Auseinandersetzung um die Begriffe erschwert es oft, in eine Debatte zu kommen, die Möglichkeiten für gemeinsame Kämpfe gegen die schreckliche Situation der Menschen vor Ort eröffnet.“

Auf den Wert oder auch die Grenzen der Begriffe wird im Beitrag inhaltlich nicht weiter eingegangen (Welches sind z. B. die guten Gründe?), vielmehr endet die ganze Betrachtung damit, dass sich die IL uneinig ist, ob es überhaupt Sinn macht, sie zu verwenden, selbst wenn sie zutreffen. Denn es handle sich um „Kampfbegriffe“. Unglücklicherweise zeichnen sich alle wissenschaftlichen Begriffe des Marxismus nicht nur dadurch aus, dass sie Zusammenfassungen, Erkenntnisformen realer Verhältnisse sind, sondern auch „Kampfbegriffe“. Das ist unvermeidlich, wenn der Marxismus eine revolutionäre Theorie  sein will, deren Zweck darin besteht, den Kampf zur Veränderung der Gesellschaft zu erhellen, die Erfahrungen vergangener Kämpfe zu verallgemeinern und die Politik und Programmatik wissenschaftlich zu fundieren. So gipfelt die marxistische Staatstheorie – jedenfalls lt. Marx und Lenin – in der Schlussfolgerung, dass der bürgerliche Staat in der sozialistischen Revolution nicht übernommen, sondern zerschlagen und durch die Diktatur des Proletariats ersetzt werden muss. Diese aus der Analyse der Revolutionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewonnene begrifflich-theoretische Erkenntnisse bilden zugleich „politische Kampfbegriffe“, weil sie bestimmte klassenpolitische Schlussfolgerungen darstellen. Als „Kampfbegriffe“ werden diese dabei nicht nur vom Klassengegner, dessen Staat zerschlagen werden soll, aufgefasst, sondern notwendigerweise auch von den reformistischen, antirevolutionären Teilen der Arbeiter:innenbewegung und Linken.

Dass sämtliche Begriffe, die versuchen, den Klassencharakter des Zionismus, die Herrschaft in Palästina, die Vertreibung zu fassen, immer auch Kampfbegriffe sind, stellt keine Besonderheit dar, sondern ergibt sich einfach daraus, dass sie wirkliche Klassen- und Unterdrückungsverhältnisse, wirkliche geschichtliche Bewegungen auf den Punkt zu bringen versuchen.

Die analytischen Betrachtungen der IL versuchen hingegen, genau das zu vermeiden, wozu eine begriffliche Bestimmung für revolutionäre Politik wesentlich ist, nämlich zur Einordnung und Charakterisierung eines bestimmten Konflikts. Nachdem die IL Berlin mehrere Begriffe als (partiell) tauglich durchgegangen ist, wissen wir letztlich noch immer nicht, wie sie die Verhältnisse in Palästina/Israel einschätzt. Vielmehr heißt es:

„Trotzdem halten wir Analysen, welche den Staat Israel allein als koloniale Macht interpretieren, für unzureichend.“ Und weiter nach einer historisch verkürzten Darstellung des Zionismus und dem Verweis auf die Nakba: „Die Geschichte dieser Region ist komplex und sie in einfache, schematische Erzählungen einzufügen, führt zu Verzerrungen. Den einen scheint es heute schwer, Israel als ‚Täter’ zu sehen – sie relativieren die Verbrechen der Armee, beschönigen die Besatzung und markieren alles als antisemitisch, was den Staat ansatzweise kritisiert. Den anderen scheint es unmöglich, die Geschichte der Staatsgründung Israels als Folge des europäischen Antisemitismus und der Shoah zu verstehen. Israel als Schutzraum für viele Jüdinnen und Juden und gleichzeitig als ‚Täter’ – dieser Komplexität müssen wir uns als Linke stellen.“

Statt eine konkrete Bestimmung des Charakters Israels durchzuführen, die auch widersprüchliche Elemente der Genesis des Staats inkludieren soll, bleibt die IL bei einem scheinbar „differenzierten“, in Wirklichkeit aber unverbindlichen „Es gibt diese und jene Seiten“ stehen. Die Frage, warum der von ihr zu Recht als nichtsymmetrischer Krieg bezeichnete gegen Gaza und Westbank ein solcher ist, taucht nicht auf.

In der IL-Analyse fehlt der Bezug darauf, dass der israelische Staat ein Unterdrückerstaat ist, der auf der Vertreibung und Unterdrückung des palästinensischen Volkes basiert. Daher fehlt auch jeder Bezug darauf, dass sich die jüdisch-israelische Nation mit Staatsgründung zu einer herrschenden aufschwung, die palästinensische zu einer unterdrückten geriet. Das wesentliche am Zionismus als Ideologie und Staatsverfassung besteht heute darin, dass er zur Doktrin und Rechtfertigungsideologie genau dieser Unterdrückung wurde.

Natürlich unterscheidet sich dabei die israelische Apartheid durchaus von der südafrikanischen, die auf Überausbeutung schwarzer Lohnarbeit zielte, während die israelische gerade seit der 2. Intifada auf Ersetzung und Marginalisierung palästinensischer Arbeitskraft zielt (insb. was die Bevölkerung Gazas betrifft). Auch der Siedlerkolonialismus hat sich seit 1948 verändert. Der israelische Staat basiert einerseits auf seiner Fortsetzung und Permanenz, andererseits auch auf einer modernen kapitalistischen Wirtschaft und Ausbeutung, die jedoch beide in einem expansiven, zionistischen Staatsprojekt verzahnt sind.

Wir teilen die Forderungen der IL, dass eine revolutionäre Perspektive die eines friedlichen Zusammenlebens der palästinensischen und jüdischen Nation (und aller anderen Nationalitäten) beinhalten muss. Dem steht jedoch als aktuelles Haupthindernis der israelische Staat entgegen. Was die Unterdrückung der Palästinenser:innen betrifft, ist das offenkundig, da er letztlich in seinen Grundfesten erschüttert würde, wenngleich nur bürgerlich-demokratische Rechte für die Palästinenser:innen eingeführt würden, die „radikale Linke“ in anderen Ländern als Selbstverständlichkeit fordern. So gibt es für Palästinenser:innen keine offenen Grenzen nach Israel, denn das würde faktisch ihr Recht auf Rückkehr bedeuten.

Wir ziehen daraus – wie etliche andere in der Solidaritätsbewegung – die Schlussfolgerung, dass nur ein gemeinsamer, binationaler sozialistischer Staat diese demokratischen Rechte (Rückkehr aller Vertriebenen, Zusammenleben beider Nationen, Anerkennung von deren Existenzrecht) friedlich und dauerhaft wird gewährleisten können, weil nur auf Basis des Gemeineigentums eine befriedigende materielle Lösung des Rechts auf Rückkehr und eine Neuverteilung der Ressourcen des Landes möglich sein wird.

In diesem Zusammenhang weisen wir auch die Vorstellung der IL zurück, dass Israel ein Schutzraum für das jüdische Volk gegen den Antisemitismus wäre. Im Gegenteil! Die Bindung der jüdisch-israelischen Arbeiter:innenklasse an den Zionismus kettet sie an einen Unterdrückerstaat und an ihre „eigene“ Bourgeoisie, ganz so wie die Unterstützung des deutschen Imperialismus die deutsche Arbeiter:innenklasse an ihre Bourgeoisie und deren Imperialismus. Um sich selbst zu befreien, muss die jüdische Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus brechen. Daher müssen wir alle antizionistischen, proletarischen und fortschrittlichen Kräfte in Israel stärken. Ein Teil des Bruchs mit dem Zionismus muss dabei notwendigerweise die Solidarität mit den Unterdrückten beinhalten, also dem palästinensischen Volk und dessen Recht auf Selbstbestimmung.

Der 7. Oktober

Das inkludiert auch die Anerkennung seines Widerstandes, selbst wenn wir die Strategie und Politik seiner Führung grundsätzlich ablehnen oder kritisieren mögen. Die Politik der Hamas ist islamistisch und zutiefst reaktionär, die Politik der Fatah nationalistisch und bürgerlich-konservativ. Und wir kritisieren die politische Unterordnung von palästinensischen Linken unter die Hamas bzw. auch unter Bündnisse mit vorgeblich antiimperialistischen Regimen im Nahen Osten (Syrien, Iran). Darin stimmen wir mit der IL überein.

Aber bei aller Forderung nach differenzierter Analyse, bei allen Widersprüchlichkeiten, die den Text durchziehen, stellt für die IL der 7. Oktober ein singuläres Ereignis dar. „Was am 7.10. passiert ist, bewegt sich für uns jedoch weit außerhalb der Grenzen von politisch legitimem Widerstand. Es war ein von Antisemit:innen begangenes Massaker.“

Wir halten das für einseitig und damit falsch. Der Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza war ein legitimer Akt (egal ob man ihn angesichts der zu befürchtenden Reaktion des Staats Israel für richtig hält oder nicht). Wir halten es in einem Krieg ebenso für legitim, militärische Anlagen des Gegners anzugreifen, auf Bomben und Artilleriebeschuss mit Raketen zu antworten. Zugleich haben wir in unseren Stellungnahmen und Texten von Beginn an klargemacht, dass wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ablehnen und verurteilen. Dies könnt ihr gerne nachlesen, z. B. unter „Resolution zum Krieg gegen Gaza“ vom 26. Oktober 2023.

Auch wenn die IL-Stellungnahmen davon schreiben, dass es einen „Kontext“ gibt, der dem 7. Oktober vorangegangen ist, so findet dieser keinen Eingang in Eure Betrachtung.

Doch damit nicht genug. Die IL unterstellt der Solidaritätsbewegung insgesamt ein Schweigen zur Hamas und eine Relativierung des Antisemitismus, obwohl doch viele selbst Gegner:innen der Hamas seien. „Gerade deshalb verstehen wir nicht, warum entsprechende, den 7. Oktober verherrlichende Statements teils nie gelöscht, geschweige denn ihre Veröffentlichung kritisch reflektiert wurde.“

Erstens besteht die Solidaritätsbewegung aus zahlreichen Gruppierungen, die auch unterschiedlich differenzierte Stellungnahmen zum 7. Oktober veröffentlicht haben. Etliche oder vielleicht auch viele davon erkennen die Legitimität eines gewaltsamen Ausbruchs an, die allermeisten verurteilen zugleich Massaker und Angriffe auf die Zivilbevölkerung und erheben öffentlich Kritik daran. Die Erklärung der IL beschäftigt sich interessanterweise erst gar nicht damit, sondern mit nicht näher definierten, den 7. Oktober verherrlichenden Statements.

Zweitens soll offenkundig der Eindruck einer unkritischen Haltung zur Hamas vermittelt werden – und damit auch eine Rechtfertigung dafür, sich selbst an Protesten gegen den Mord an Zehntausenden nicht zu beteiligen.

Alle Teil des „Systems Belagerung“

Im Grunde weiß auch die IL Berlin, dass die meisten Kräfte der Solidaritätsbewegung der Hamas überaus kritisch gegenüberstehen. Sie bringt aber noch ein Argument ins Spiel, nämlich dass diese in Palästina taktische und militärische Absprachen mit der Hamas oder anderen Islamist:innen in Erwägung ziehen würden, was die IL moralisch entrüstet als Tabu linker Politik betrachtet. In Wirklichkeit macht sie es sich hier bloß einfach, weil sie von den Kampfbedingungen palästinensischer Linker wie überhaupt der Bewegung abstrahiert, ja die These auftischt, dass im Grunde die Hamas und ihre Verbündeten (inklusive der palästinensischen Linken) „Teil des Systems Belagerung“ seien.

„Das finden wir falsch, auch weil die Hamas und ihre Verbündeten Teil des Systems Belagerung sind und nicht dessen Gegner. Die Hamas braucht die regelmäßige Eskalation des Konfliktes zum Machterhalt, ähnlich wie die Netanjahu-Regierung. Und selbst wenn sie ein ernsthaftes Interesse an einem Ende der Belagerung hätte, wird es mit ihr keine Befreiung der palästinensischen Bevölkerung geben, sondern nur den Wechsel vom einen repressiven Herrschaftsregime zum anderen.“

Hier finden sich gleich mehrere Verdrehungen. Nicht nur die Hamas, sondern auch deren Verbündete, womit wohl nur die palästinensische Linke gemeint sein kann, werden als Teil des Systems Belagerung denunziert. Hier wird davon abstrahiert, wer es denn überhaupt erst geschaffen hat, wer Gaza seit 2006 abriegelte, bombardierte, dort einmarschiert. Letztlich wird so getan, als seien Besatzungsmacht und Besetzte gleichermaßen schuld, weil sie ja ständig „eskalieren“ würden. Zudem wird davon abstrahiert, dass das System Besatzung auch wesentlich die Handlungsoptionen der Bevölkerung des besetzten, abgeriegelten, einem Freiluftgefängnis ähnlichen Gebietes diktiert, dementsprechend auch die „Eskalation“, also das Zurückschießen zu einer der wenigen Optionen macht, mit denen der Gegner getroffen werden kann. Schließlich ignoriert die IL auch massive Repression gegen andere, zivile Formen des Widerstandes aus Gaza, die selbst blutig niedergeschlagen wurden und somit auch dazu beitrugen, dass der gewaltsame Ausbruch als eine der letzten Optionen erschien.

Die Scheidung zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen spielt für die IL hier offenkundig keine Rolle. Sie abstrahiert davon, dass, ob wir das wollen oder nicht, die Hamas und ihre Verbündeten einen Teil des palästinensischen Widerstandes verkörpern, die über eine reale Verankerung unter den Massen verfügen, weil sie trotz ihrer sonstigen Fehler oder reaktionären Ausrichtung einen Kampf gegen wirkliche nationale Unterdrückung führen. Dieser Gesichtspunkt, der für das Verständnis der Lage, vor allem aber auch für das Bewusstsein und die Situation des palästinensischen Volkes von grundlegender Bedeutung ist und den jede revolutionäre Politik einbeziehen muss, stellt für die IL ein Buch mit sieben Siegeln dar.

Schlimmer noch: Selbst wenn es doch anders wäre, also der Widerstand ein Interesse an seinem eigenen Sieg hätte, so wäre das erst recht schlecht. Ein Sieg unter Führung der Hamas würde nur die Unterdrücker:innen wechseln, spielte also keine Rolle. Natürlich kann ein solcher unter Führung Hamas (oder auch jeder anderen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Kraft) zur Schaffung eines neuen Unterdrückerstaates, gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen führen.

Doch die Tatsache, dass die Hamas heute eine zentrale Kraft ist, bedeutet keineswegs, dass sie das bleiben muss. Ob sie von anderen, fortschrittlichen Kräften abgelöst werden kann, hängt wesentlich davon ab, ob sich diese herausbilden und in der Praxis als führende Kraft des Widerstandes erweisen können. Doch das setzt die Beteiligung am Kampf voraus, ansonsten verdammen sich diese zur Isolierung und überlassen faktisch anderen das politische Terrain.

Grundsätzlich besteht in jedem nationalen Befreiungskampf, in jedem antiimperialistischen oder antikolonialen Kampf, der nicht vom Proletariat geführt und in einer sozialistischen Umwälzung endet, die Möglichkeit, dass die einstigen Unterdrückten zu neuen Unterdrücker:innen werden. Doch diese als Vorwand dafür zu nehmen, dem Kampf selbst den Rücken zu kehren, eine vorgeblich „neutrale“ Position einzunehmen, läuft letztlich auf die Akzeptanz des Bestehenden hinaus, in der utopischen Hoffnung auf eine/n Schlichter:in von außen. Nachdem für die IL die israelische Regierung und die palästinensische Bewegung gleichermaßen reaktionär sind, bleibt nur noch die Hoffnung auf eine/n recht überraschende/n Friedensstifter:in:

„Von der rechten Regierung in Israel kann kein ernstzunehmender Frieden in der Region erwartet werden, genauso wenig wie von der Hamas. Es braucht internationalen Druck und die deutsche Bundesregierung ist in der Position, diesen Druck aufzubauen.“

Diese recht kuriose Formulierung ist letztlich kein Zufall, sondern die logische Konsequenz, wenn sich in Israel/Palästina selbst keine Kräfte finden, die Frieden schaffen können. Dann bleiben nur noch die UNO, die Weltpolizei oder die Bundesregierung.

Nationale Frage und Internationalismus

Eine revolutionäre Strategie hingegen inkludiert auch die Anerkennung eines Widerstandes, selbst wenn wir die Strategie und Politik seiner Führung grundsätzlich ablehnen oder kritisieren mögen. Dass antikoloniale oder antiimperialistische Bewegungen von reaktionären Parteien und Kräften geführt werden, stellt keine Besonderheit Palästinas dar. Im Grunde wurden fast alle diese Kämpfe in den letzten Jahren von kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Kräften geführt. Dies rührt nicht nur daher, dass sie politisch heterogen sind, sondern auch aus unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen Klassen bestehen.

Umgekehrt stellt die nationale Unterdrückung, die Scheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Nationen, ein grundlegendes Merkmal der imperialistischen Epoche dar. Für Revolutionär:innen kann sich die Frage, wie wir zu diesen Kämpfen und Bewegungen stehen, dabei nicht darauf beschränken, nur mit „emanzipatorischen Strömungen“ solidarisch zu sein. Das liegt zum einen daran, dass auch diese einen bestimmten Klassencharakter tragen, also meist linkskleinbürgerlicher Natur sind, keine sozialistische Perspektive verfolgen und wie z. B. im Fall der kurdischen Bewegung in Rojava vor fragwürdigen Bündnisse mit imperialistischen Kräften wie den USA nicht zurückschrecken. Trotzdem haben wir unsere und auch Ihr als IL Eure Solidarität mit dem Widerstandskampf des kurdischen Volkes nicht ad acta gelegt, als sie z. B. vom türkischen Staat angegriffen wurden. Wohl aber sollte eine solche Unterstützung sich nur auf bestimmte gemeinsame Ziele beschränken, nicht auf die Politik der PYD und anderen kleinbürgerlich-nationalistischen kurdischen Strömungen und Parteien.

Dieselbe Herangehensweise vertreten wir in Palästina. Wir machen unsere Solidarität mit dem Befreiungskampf nicht vom Charakter der aktuellen Führung des palästinensischen Volkes abhängig. Warum? Weil der Kampf gegen Unterdrückung und Besatzung auch legitim ist, wenn die lohnabhängigen und bäuerlichen Massen einer falschen Ideologie, Führung und Politik folgen. Dies trifft im Übrigen auf die meisten antikolonialen und antiimperialistischen Bewegungen zu.

Unsere Aufgabe als revolutionäre Internationalist:innen besteht nicht darin, erst solidarisch zu sein, wenn uns die Kombattant:innen ideologisch „fortschrittlich“ genug erscheinen, sondern wenn sie einen gerechtfertigten Kampf führen. Zugleich versuchen wir, im Rahmen dieser Grundhaltung mit jenen Kräften in Verbindung zu gelangen, die wie wir dafür eintreten, dass die Arbeiter:innenklasse, gestützt auf eine revolutionäre Partei, zur führenden Kraft wird und den Kampf gegen Unterdrückung mit dem gegen kapitalistische Ausbeutung verbindet. Dies wird aber nur möglich sein, wenn sich eine solche Kraft selbst aktiv am Widerstand gegen die aktuelle Hauptform der Unterdrückung beteiligt, wenn auch mit eigenen Methoden und eigener Programmatik. Tut sie das nicht, wird sie zu Recht als passive, den realen Unterdrückungserfahrungen bloß kommentierend gegenüberstehende Gruppierung wahrgenommen und nie in der Lage sein, den Einfluss reaktionärer Kräfte zu brechen.

Die IL und ihre Stellungnahme werfen jedoch diese Fragen erst gar nicht auf. Wie revolutionäre Kräfte in Palästina und Israel agieren sollen, erscheint außerhalb der eigenen Überlegungen. Wir halten dies für einen grundlegenden Mangel nicht nur der IL, sondern eines großen Teils der deutschen Linken und eines verkürzten Solidaritätsbegriffs. Internationale Solidarität erscheint so bloß als Unterstützung/Nichtunterstützung dieses oder jenes Kampfes. Mit wem Solidarität geübt wird, hängt letztlich von der ideologischen Nähe ab. So erscheint die kurdische Bewegung der IL und anderen postautonomen Kräften als „nahe“, gewissermaßen artverwandt. Bei anderen, sicher auch komplexen Kriegen und Konflikten wie in der Ukraine oder Palästina, wo keine Akteurin ähnlich der PYD sichtbar ist, bleibt die Solidarität aus.

Für uns hingegen bedeutet Internationalismus wesentlich den Aufbau einer politisch und programmatisch einheitlichen länderübergreifenden Organisation, einer neuen revolutionären Internationale. Daher stellt für uns die Beschäftigung damit, welche Politik in zentralen Klassenkämpfen, Kriegen, Aufständen etc. einzuschlagen wäre, ein wesentliches Moment revolutionärer Politik dar. Ansonsten bleibt „linksradikale“ Politik letztlich nationalborniert, Internationalismus bloß die Summe verschiedener nationaler Politiken.

Wer sich raushält, den holen die Verhältnisse ein!

Die IL selbst konstatiert in ihre Erklärung, dass sie die gesamte Frage letztlich aus einem vornehmlich nationalen Gesichtspunkt betrachtet. „Lange haben wir uns bewusst dagegen entschieden, eine Position oder Praxis zu Israel/Palästina zu entwickeln. Angesichts der teils absurden Konflikte und Spaltungslinien, zu denen das Thema in der deutschen Linken geführt hat, vielleicht eine zumindest nachvollziehbare Entscheidung. Doch in den letzten Jahren kam es nicht nur wiederholt zu Eskalationen des Krieges, diese hatten auch Konsequenzen in der deutschen Gesellschaft, u. a. steigenden Antisemitismus und eine sich zuspitzende Kriminalisierung der palästinensischen Bewegung (Stichwort BDS-Resolutionen).“

Solange der Krieg zu keinen Konsequenzen in der deutschen Gesellschaft führte, war es anscheinend politisch richtig, sich nicht weiter zu Palästina zu positionieren. Schließlich liegt das weit weg und führt zu Spaltungslinien, die man doch in der IL vermeiden wollte. Stattdessen konzentrierte man sich auf Kampagnenarbeit, die man von einem umstrittenen Befreiungskampf nicht beflecken lassen wollte. Internationale Solidaritätsaktionen organisierte die IL aber zu Rojava, dessen fortschrittlicher Charakter im linken und postautonomen Milieu weitgehend unumstritten war.

Heute fällt der IL dieses „Raushalten“ auf die Füße. Doch statt die eigene Ignoranz und Nationalborniertheit kritisch zu hinterfragen, will sie nachträglich noch Absolution erbitten für eine „vielleicht nachvollziehbare Entscheidung“. Die Bedeutung des palästinensischen Kampfes und die Konfliktlinien in der deutschen Linken verdeutlichen nur, wie notwendig eine Analyse und Positionierung war. Die IL und mit ihr allzu viele deutsche „radikale“ Linke betrachteten hingegen den „Nahostkonflikt“ in erster Linie als Störfaktor für ihre imaginäre Einheit. Selbst heute, wo diese Herangehensweise der IL auf die Füße fällt (was noch das geringste Problem dabei ist), redet die Stellungnahme die Tatsache schön, dass sich die Genoss:innen der IL zu keiner gemeinsamen Haltung zur Solidaritätsbewegung entschließen können, als „Wunsch, zu einfach gezeichneten Dichotomien zu entkommen“, schön.

In Wirklichkeit steht sie für Entsolidarisierung, Sektierertum und Ultimatismus gegenüber einer realen Solidaritätsbewegung, die einer staatlichen Repression und medialer Hetze neuen, dramatischen Ausmaßes ausgesetzt ist. Und die IL führt dabei Ausschlusskriterien für eine (kritische) Unterstützung und Zusammenarbeit an, die ihr bei ihren eigenen Kampagnen und breiten, flexiblen Bündnissen fremd sind. So gab es nie Kritik oder auch nur Bedenken an der Zusammenarbeit mit Grünen, SPD, Linkspartei, den rot-grün-roten Senaten und dem Gewerkschaftsapparat bei DWe. Im Gegenteil, die IL stand nicht nur für taktische Zusammenarbeit bei einer bestimmten Aktion, sondern ihre führenden Aktivist:innen verteidigten auch gleich ihre bürgerlichen und reformistischen Partner:innen gegen jede Kritik.

Das Problem liegt dabei nicht in der taktischen Zusammenarbeit mit reformistischen Parteien. Aber es wirft ein bezeichnendes Licht auf Opportunismus und Sektierertum in der IL. Während man kein Problem in der oft weitgehend kritiklosen Zusammenarbeit mit Parteien sieht, die den deutschen Imperialismus maßgeblich mitverwalten, reichen ein paar angeblich ungelöschte Posts als Vorwand, sich einer Bewegung in Solidarität mit Gaza, mit Zehntausenden Toten zu verweigern.

Es wirkt geradezu zynisch, wenn die IL ihre Erklärung mit den Worten beendet: „Dieser Krieg muss enden, ceasefire now!“ Wer diese Ziele will, muss auch die Mittel wollen, sie zu erreichen. Und das geht nur über die Stärkung, Koordinierung, Verbreiterung der Solidaritätsbewegung. Es gibt keine anderen!

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