Arbeiter:innenmacht

1848 und die Linke

Martin Suchanek, Infomail 1237, 15. November 2023

Der folgende Text ist ein Redemanuskript, das dem Beitrag bei der von Platypus Leipzig am 2. Oktober durchgeführten Veranstaltung zu „1848 und die Linke“.

„Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um sich über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eigenen Inhalt anzukommen. Dort ging die Phrase über den Inhalt, hier geht der Inhalt über die Phrase hinaus.“ (Marx, 18. Brumaire des Louis Bonaparte)

Betrachten wir die Revolution von 1848, so brachten wir sie als Revolutionär:innen vom Standpunkt der Revolution des 20. und 21. Jahrhunderts, ihre Verwerfungen, Aufgaben – nicht und nie bloß in einer geschichtlichen Rückschau.

Diese Bemerkung erklärt aber, warum ein großer Teil der sog. Linken – inklusive derer, die sich selbst radikal nennen, so wenig Interesse an der Revolution von 1848 und auch anderen Revolutionen der Vergangenheit haben. Nehmen wir nur den Oktober 1923, dessen Niederlage einen weltgeschichtlichen Wendepunkt darstellte.

Die Revolution von 1848 stellt auch einen solchen weltgeschichtlichen Wendepunkt dar, weil sie die Parameter der Klassenverhältnisse und revolutionärer Politik damals und bis heute mitprägt. Worin besteht das, dazu thesenhaft.

1. Die REVOLUTION von 1848 war eine internationale Revolution

Auch wenn sie – wie viele Revolutionen – unvorhergesehen, wenn sie, in Marx Worten, in Frankreich mit einer „Überrumpelung“ beginnt, so breitet sie sich über ganz Europa aus.

Sie ist kein nationales Ereignis, sondern ein internationales, auch wenn es Deutschland und Osteuropa um den die Nachvollziehung der bürgerlichen Revolution geht.

2. Die Revolution von 1848 ist zwar eine gescheiterte bürgerliche Revolution, zugleich aber geht sie schon über diese hinaus und zwar in mehrfacher Hinsicht.

– Erstens verbindet die Entwicklung in England und jene auf dem Kontinent die Frage der sozialistischen mit der bürgerlichen Revolution.

  • Zweitens zeigen alle Revolution und Erhebungen in Europa, dass das Bürger:innentum nicht mehr zu einer entschlossenen, konsequenten Revolution gegen die Dynastien und das alte Regime fähig ist. Die bürgerliche und kleinbürgerlichen Parteien Deutschland, Frankreich, Österreich usw. ziehen letztlich die Niederlage einer zu weit gehenden Revolution vor.
  • – Dies hängt drittens untrennbar mit der Entwicklung des Klassenkampfes und dem Hervortreten der Arbeiter:innenklasse als eigenständiger, unabhängiger revolutionärer Kraft zusammen, vor allem und zuerst in Frankreich. Die Klasse der Lohnabhängigen trägt auch gemeinsam mit den unteren Schichten des städtischen Kleinbürger:innentums die Hauptlast der Revolution.
  • Daher enthalten viertens das Programm der Arbeiter:innenklasse – wie im Kommunistischen Manifest, aber sehr viel genauer in den Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland im März 1848 dargelegt – sehr radikale Eigentumsforderungen und Übergangsforderungen.
  • Die Revolution enthält also fünftens schon wichtige Aspekte der permanenten Revolution, der Revolution in Permanenz, der Verbindung von demokratischen Aufgaben – nationale Einheit, Demokratie und Republik, Landfrage, Abschaffung aller feudalen Überreste – mit Fragen der proletarischen Revolution. Schon im Kampf treten letztlich Proletariat und Bürger:innentum als Kräfte auf, die um die Führung der Revolution im Streit liegen.
  • Die Revolution zeigt die Notwendigkeit der Organisierung der Arbeiter:innenklasse als eigenständige politische Kraft, als Partei, im Gegensatz zu anderen Klassen – auch als Voraussetzung für Taktik und Bündnispolitik gegen die Reaktion.

3. Das Scheitern der Revolution führt Marx und Engels zu einer schonungslosen und nüchternen Neubestimmung der Aufgaben von Revolutionär:innen.

Das schließt natürlich auch ein, dass wir heute in der Politik und Analyse von Marx und Engels auch wichtige Schwächen und Fehler kritisch benennen müssen. Das bezieht sich z. B. auf die falsche Konzeption von historischen und geschichtslosen Völkern, die sie, wie Rosdolsky in „Friedrich Engels und das Problem der ‚geschichtslosen’ Völker“ zeigt, von Hegel letztlich unkritisch übernehmen. Es bezieht sich aber auch auf die Frage der eigenständigen Arbeiter:innenorganisation, deren Wichtigkeit erst mit dem Niedergang der Revolution deutlicher hervorgehoben wird.

Jetzt aber zu den positiven Lehren:

  • Anerkennung der Niederlage der Revolution. Ablehnung der Vorstellung, dass diese künstlich wiederbelebt werden könne.
  • Hinwendung zur tieferen, ökonomischen Analyse der Verhältnisse. Die Niederlage wird nicht einfach aus politischen Fehlern und Verrat erklärt, sondern auch aus einer Unreife der Arbeiter:innenklasse, die ihrerseits durch die Unreife der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung in Deutschland, tw. in Frankreich verursacht ist.
  • Zugleich tritt das Proletariat schon so sehr in Erscheinung, dass das Bürger:innentum als revolutionäre Klasse ausfällt, vor dem Kampf zurückschreckt, weil das Proletariat zu weit gehen könnte, den bürgerlich Rahmen der Verhältnisse in Frage stellen könnte. Umgekehrt betrachten Marx und Engels die bürgerliche Revolution nur als Übergangsstadium.
  • Die Konterrevolution kann sich auf die Erschöpfung der revolutionären Klassen stützen – unreifes Proletariat, zögerliche bürgerlich/kleinbürgerliche demokratische Kräfte – aber auch auf „Mittelklassen“ und die Bäuer:innenschaft auf dem Land. Der Sieg der Konterrevolution nimmt eine spezifische Form an, führt zur Etablierung eines bonapartistischen Staatsapparates oder Regimes. Am klarsten in Frankreich, aber auch in Preußen.
  • Die gescheiterte Revolution macht auch deutlich, dass die Arbeiter:innenklasse die bürgerliche, bürokratische Staatsmaschinerie, die mehr und mehr perfektioniert wird, nicht einfach in Besitz nehmen kann für ihre Zwecke. Der bürgerliche Staat muss vielmehr zerschlagen werden, damit eine wirkliche Volksrevolution mit dem Proletariat an der Spitze siegen kann.

4. Warum kräht 2023 kaum jemand nach der Revolution 1848?

Das hängt sicher nicht nur damit zusammen, dass 175 Jahre ein etwas sperriger Jahrestag sind. Auch die Revolution von 1923 interessiert wenig, ob wir den 100. Jahrestag erleben.

Der Grund ist eine andere. Für Marxist:innen ist die Betrachtung vergangener Revolution untrennbar mit der Betrachtung zukünftiger verbunden. Oder wie Marx formuliert: die soziale Revolution schöpft ihre Poesie auf der Zukunft.

Für eine Linke jedoch, für deren große Mehrheit die Revolution ein toter Hund, eine Utopie, eine bloße Erinnerung an die Vergangenheit geworden ist, gibt es auch keine Lehren aus der Revolution.

Die heutige Linke steht in ihrem Verhältnis zur Revolution von 1848 allenfalls auf dem Standpunkt des radikalen Kleinbürger:innentums von 1848, das die Revolution irgendwie wollte, aber auch nicht zu viel und zu radikal. Heute will man eine entschlossene, transformatorische Reformpolitik, Sozialismus, aber im Rahmen des bürgerlich-demokratischen Staatsgebäudes.

Nur wenn die sozialistische Umwälzung, nur wenn die Revolution als reale Möglichkeit und Aufgabe unserer historischen Periode begriffen wird – als einzige wirkliche Antwort auf die Krise des Kapitalismus, auf den Krieg, auf die ökologische Zerstörung, auf Rassismus und zunehmende Reaktion in allen Formen – nur dann können überhaupt die Lehren vergangener Revolutionen fruchtbar gemacht werden.

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