Arbeiter:innenmacht

Deutscher Oktober 1923 – Parteidebatte um die Niederlage

Bruno Tesch, Neue Internationale 278, November 2023

Die KPD offenbarte nach dem Oktober 1923 bei der Ursachenbetrachtung der Niederlage tiefe Unterschiede in der Gewichtung und vor allem auch im Verständnis der Einheitsfronttaktik und setzte damit ihre nach wie vor bestehenden ungeklärten Differenzen fort.

Selbst bei der scheinbaren Einigkeit über die Einschätzung der deutschen Situation „als objektiv revolutionär“ sind Zweifel angebracht. Festgemacht wurde dies in erster Linie am Grad der Zerrüttung der bürgerlichen Demokratie und der Polarisierung in ein klar reaktionäres, gestützt auf kleinbürgerliche Bewegungen und Militär, und ein revolutionäres Lager. Dessen Zusammensetzung und das Kräfteverhältnis zum feindlichen Pol wurden jedoch unterschiedlich interpretiert.

In der Debatte zeichneten sich drei Flügel ab: Linke, Mitte und Rechte. Wir untersuchen und bewerten im Folgenden ebenso deren Antworten wie jene aus dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI). Dabei beschränken wir uns aus Platzgründen auf Sinowjews Buch und die im Ergänzungsheft 1 der „Internationale“ (Januar 1924) geführte Debatte und liefern diese sowie weitere Quellen am Schluss.

Unterschiedliche Lehren: in Parteiführung … 

In ihren „Thesen zur Oktoberniederlage und zur gegenwärtigen Lage“ hielten Thalheimer und Brandler fest:

„1. Der Oktoberrückzug war unvermeidlich und richtig.

2. Die grundlegenden Ursachen der Oktoberniederlage sind objektiver Art und nicht wesentlichen taktischen Fehlern der KPD geschuldet. Die entscheidende Ursache ist der noch zu starke hemmende Einfluss der Sozialdemokratie. Die Mehrheit der Arbeiterklasse war nicht mehr bereit, für die Novemberdemokratie zu kämpfen, die ihnen bereits materiell nichts mehr gab, und noch nicht bereit, für die Rätediktatur und den Sozialismus zu kämpfen. Oder anders ausgedrückt: Die Mehrheit der Arbeiterklasse war noch nicht für den Kommunismus gewonnen.

3. Der gemeinsame Fehler der Exekutive (der Komintern) wie der Zentrale der KPD war die falsche Beurteilung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Arbeiterklasse, zwischen SPD und KPD. Die KPD, hat in dieser Beziehung sich kritisch gegenüber der Exekutive verhalten, aber nicht genügend energisch. Die Exekutive hat dieser Kritik nicht das genügende Gewicht beigelegt.

4. Die Folgen dieser falschen Beurteilung des Kräfteverhältnisses waren:

a) ein zu früher Termin des Endkampfes

b) die Vernachlässigung der Teilkämpfe und der politischen Vorbereitung

c) infolge der mangelnden Verbindung zwischen politischer und technischer Vorbereitung litt auch die militärisch-technische Vorbereitung

5. Mängel zweiter und dritter Ordnung waren:

a) in Sachsen und Thüringen nicht genügende Ausnützung der gegebenen Positionen sowohl in Bezug auf Zersetzung der SPD und Heranziehung der SPD-Arbeiter an die KPD, wie auch in Bezug auf die Organisation der militärischen Abwehr.

b) Schwerfälligkeit der organisatorischen Umstellung der Partei für den Bürgerkrieg.

6. All diese Fehler und Mängel ändern nichts Wesentliches an dem grundlegenden Kräfteverhältnis zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse.“

In „Zur gegenwärtigen Lage“ stellten sie aber eine Militärdiktatur fest, mithin ein scharfes Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Der Einfluss der Oktoberniederlage auf Stimmung innerhalb der Arbeiter:innenklasse und Zustimmung zur KPD fand keinen Niederschlag, auch nicht in den nachfolgenden erläuternden Gedankengängen von Thalheimer zu den Thesen.

Brandler sprach in seinem Beitrag jedoch davon, dass der kampflose Sieg der Reichsexekutive, der Truppen des Generalleutnants Müller, der in Sachsen Befehlsgewalt hatte, demoralisierend auf die Arbeiter:innenklasse und Teile der Partei gewirkt habe – ein Schwächezustand, der durch die Umstellung auf die Illegalität in Verbindung mit dem Oktoberrückzug die Aktivität lähmte.

Zur Frage, warum die linkssozialdemokratisch beeinflussten Arbeiter:innen doch der passiven Regierungsführung in Sachsen/Thüringen gefolgt sind, führte Thalheimer aus:

„Wir haben nicht geglaubt, dass die linken SPD-Führer kämpfen wollten, aber dass die linken SPD-Arbeiter zum Kampf bereit waren. Es hat sich gezeigt, dass die Wirkung des organisatorischen Bandes viel stärker ist, als wir annahmen.“ Zur Festigung der Position in Sachsen und Thüringen bemerkte Thalheimer:

„Der bürgerliche Staatsapparat war unseren Genossen in Sachsen und Thüringen sehr wenig vertraut. [ … ] Es zeigte sich in der Praxis die Notwendigkeit der sofortigen Zerschlagung und völligen Neubaus dieses Apparates.“

Brandler wies eine Schuld durch taktische Fehler der Partei zurück und lastete sie dem Verrat der SPD an. Der Fehler bestände nur in der Unterschätzung der Zähigkeit der konterrevolutionären Fraktion der SPD und in der Überschätzung der eigenen Kräfte.

Er sah in „Lehren der Oktoberniederniederlage“ drei Fehlerquellen bei der falschen Beurteilung der Kräfteverhältnisse: zum einem habe die Außerachtlassung der gesamten internationalen Situation, das Verbot der proletarischen Hundertschaften und Kontrollausschüsse in Preußen sowie in Rheinland-Westfalen durch die Okkupationsarmee den Ausbau der proletarischen Klassenorgane gehemmt.

… und Parteigliederungen: Abrücken von der Mehrheitslinie

Andere Stimmen aus den Reihen der Parteimehrheit konstatierten eine Krise der Partei und verwiesen darauf, dass bereits bei den Kämpfen in den Bergbauregionen im Frühjahr Vorbereitungsarbeit auf entscheidende Kämpfe hätte geleistet werden sollen, und hielten eine Weiterführung von Teilkämpfen zur Deckung des Rückzugs der Partei für erforderlich.

Einen kritischen Schritt weiter gingen Genoss:innen, die von der Parteiführung (in einem namentlich nicht gezeichneten Beitrag „Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“) abrückten und der Partei vorhielten, dass sie In den Länderregierungen die Kampfpositionen nicht genügend ausgenutzt hätte, um die Mobilisierung der Massen zum organisierten Widerstand durchzuführen.

„Der Kardinalfehler der strategischen Einstellung war, dass die Partei sich auf einen ,Endkampf’ zur Eroberung der politischen Macht vorbereitete und die Einleitung von Teilkämpfen, Kämpfen mit Teilforderungen und weniger aggressiven Mitteln und Kampfmethoden ablehnte und verhinderte.

Nur aus der Verteidigung der mitteldeutschen Position zum entscheidenden Kampf überzugehen, war falsch. Nach Einzug der Weißen in Mitteldeutschland trat deshalb überall eine starke Desorientierung ein.

Der kampflose Rückzug war falsch, dem aktiven Teil des Proletariats unverständlich, Vertrauen auch der sympathisierenden Sektoren in die Partei geschwächt.“

Weitere Argumente (H. Lemann: „Um den proletarischen Machtkampf) wurden mit dem Hinweis vorgebracht:

„Statt über den Weg der Konzentration auf die regionalen Regierungen als Machtbasis für den sogenannten Endkampf hätte die Kampfaufnahme bedeutet: Generalstreik über das Reichsgebiet mit dem politischen Ziel, zunächst die Regierung und die Staatsgewalt unter Druck zu setzen und die Truppentransporte nach Sachsen zu verhindern. Zugleich mit dem Generalstreik konnte man auf bewaffnete Erhebungen unter Förderung und Führung der revolutionären Vorhut rechnen. Erst aus diesen Kämpfen mit Minimalzielen hätte man prüfen müssen, ob weitere Ziele erreichbar sind.“

Schlussfolgerungen der Parteiopposition

Noch grundlegendere Vorwürfe erhob A. Kleine in seinem Aufsatz „ Die Oktoberniederlage des Proletariats und die Aufgaben der KPD“, v. a. im Abschnitt „Die Fehler der Partei“.

Er bestritt die Aussage: „Es hat sich herausgestellt, dass der europäische Menschewismus viel tiefere Wurzeln in der Arbeitermasse hat, als wir es annehmen konnten.“ Kleine verwies in dem Zusammenhang auf Trotzkis „Anti-Kautsky“ („Terrorismus und Kommunismus“) und folgerte: „Die Partei konnte nicht das wahre Kräfteverhältnis erkennen, weil sie jeden anwachsenden Kampf der Massen abzubremsen versuchte, um ihn in den Rahmen des von der Partei vorbereiteten Widerstand einzugliedern.“

Kein Organ der Partei, keine Hundertschaft, kein Kontrollausschuss, kein Minister hätten trotz der gespannten Lage die Vereinbarungen mit der SPD durchbrochen, obwohl die reformistischen Führer:innen den gemeinsamen Kampf gegen die drohende „weiße“ Gefahr hintertrieben. In Berlin waren breitere Teile des Proletariats als in dem Anti-Cuno-Streik zum Kampfe bereit. „Was hat die Partei diesen Massen gesagt? Wir werden nicht siegen! Der Feind ist stärker, die Zeit arbeitet für uns; lasst ihn die Macht übernehmen. In dieser Situation war der Oktoberrückzug falsch.“ Die Mehrheit der Klasse war nur gewinnbar, wenn die Partei ihre Kampfbereitschaft auch beweisen konnte, wie das Hamburger Beispiel es vorgeführt hätte. Der Nichteinbezug der Massen in die Kampfvorbereitung zeigte, dass die Partei, v. a. die Leitung, ein unzulängliches Verständnis für die Verhältnisse zwischen ihr und den Massen und die Rolle der Partei im Kampfe um die Einheitsfront bewiesen hat.

Fehler waren schon vor dem Streik gegen die Regierung absehbar. Betriebsrätebewegung und militärische Vorbereitung hätten gestärkt werden müssen. Dass dies unterblieb, war als Ausdruck der Unterschätzung der Rolle der KPD in einer Epoche des Kampfes um die Einheitsfront des Proletariats zu werten. Die Partei hat im Großen und Ganzen das Vertrauen in die linken Führer:innen der SPD gestärkt. Die Hoffnung auf die Chemnitzer Konferenz, um diese Führung in den Kampf hineinzuziehen, trog. Das Stillhalten der KPD in der Regierung rächte sich. Kleine räumte allerdings ein, dass sich große Teile noch keine Kampferfahrung erworben hatten. Auch die Betriebsräte in Berlin hatten zum Oktober Teile ihres Einflusses eingebüßt.

Noch schärfer ging Max Albert in dem Artikel „Alles oder nichts“ mit der Parteiführung ins Gericht. Er stellte die Situation als ununterbrochenen Aufstieg und gewaltige Stärkung der revolutionären Bewegung des Proletariats dar und verwies auf Zersetzungserscheinungen im Lager der Arbeiter:innenfeinde – Schwarze Reichswehr, monarchistische (Kronprinz-)Truppe, Deutschnationale, katholische Gruppen –, die hätten genutzt werden sollen, um selbst nach dem Einmarsch in Sachsen aktive Gegenwehr zu leisten.

Die Unterschätzung der eigenen Kräfte – in Hamburg wurden die linken sozialdemokratischen Arbeiter:innen nicht eingeweiht und führten keinen synchronisierten Aufstand durch – und Überschätzung der gegnerischen wären der schwerste Fehler in der Oktoberniederlage gewesen. Albert beschuldigte aber beide Flügel, Parteiführung und „linke“ Opposition, eine falsche Vorstellung von Bürgerkrieg gehabt zu haben. Dieser könne nicht mit „Entscheidungskämpfen“ beginnen, was sich auf die falsche Alternative Sieg oder Niederlage zuspitzen würde. Die Vertagung des Kampfes führte zu einer schweren Niederlage nicht nur der KPD, die zu einer des deutschen, ja internationalen Proletariats geriet. Ebenso im Debakel endete die Einschätzung, den Kampf leicht gewinnen zu können.

Die Ankündigung wirtschaftlicher Maßnahmen wie Lebensmittelverteilung wären kein Mittel zur Mobilisierung des sächsischen Proletariats angesichts des drohenden Reichswehreinmarschs gewesen. So wurde im Gegenteil das Gefühl geweckt, als sei eine Besserung ihrer Lebenslage auch ohne Kampf möglich, als könnten ein paar sächsische Minister für sie die Revolution machen. Wenn am Ende der Chemnitzer Konferenz plötzlich die Parole: Generalstreik, die gleichzeitig bewaffneter Endkampf heißen sollte, „wie ein Dachziegel in die Versammlung flog, soll man sich doch nicht darüber wundern, wenn diese Parole nicht sofort mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.“

Albert erblickte auch Fehler darin, dass in der Periode der Kampfvorbereitung die politische Arbeit durch die militärischen Vorkehrungen sehr stark verdrängt wurde. Bewaffnung von Kadern reichte nicht, sie musste vielmehr aus der Massenbewegung heraus entwickelt werden.

Strategiekritik des linken Flügels

Der Flügel, der sich v. a. um Parteikräfte in Berlin und Brandenburg gruppiert hatte, stand von Beginn an in Fragen von Einheitsfront und Arbeiter:innenregierung in Opposition zur Parteimehrheit. Die einzige scheinbare Gemeinsamkeit eines situativen Fixpunktes bestand in der Ausrichtung auf den „Endkampf“, der auch von den Oppositionellen als richtig erachtet wurde, wie in der „Skizze zu den Thesen über die politische Situation und über die Lage der Partei“ durch die Bezirksleitung Berlin-Brandenburg festgehalten wurde. Die Wegbeschreibung und Einschätzungen über die notwendige Politik unterschieden sich jedoch diametral. In diesem Papier hieß es, die Situation sei objektiv reif für die Machteroberung des Proletariats, die Siegesaussichten der KPD im Oktober seien groß gewesen. Den Kampf hätte die Partei wagen müssen. Die Parteileitung hätte jedoch im August eine Perspektive linkssozialdemokratischer, rein gewerkschaftlicher Regierung verbreitet und durch eine Popularisierung der linken SPD durch Einheitsfront und Bündnis, deutlich geworden in den Regierungen Sachsen und Thüringen, ein falsches Bild von Arbeiter:innenregierung erzeugt. Die KPD-Führung habe die Schwächung der Position des Proletariats und der Partei zu verantworten.

Ruth Fischer, die führende Feder des Flügels, schrieb dazu ausführlicher in: „Zur Lage in Deutschland und zur Taktik der Partei“ über die Taktik der KPD in Sachsen. Sie kreidete der Parteiführung eine

„- falsche Einschätzung der Kräfteverhältnisse

– falsche Anwendung der Einheitsfronttaktik, u. a. in Regierungsbeteiligung Sachsen und Thüringen

– reformistische Betrachtung der Regierungsbeteiligung, des Staates, der Staatsmacht und der ,Ausnützung des Staatsapparates’“ an.

In Sachsen sei die KPD nicht so stark wie behauptet, sondern politisch unselbstständig, schwankend gewesen. Dies zeigte sich bei Wahlen zum Metallarbeiter:innenverband, beim Antifaschistischen Tag, Auguststreik und während der Regierungsbeteiligung besonders zum Ende. Die Stärke der sächsischen Hundertschaften wurde übertrieben.

In der Einheitsfrontpolitik sei der „ehrliche[r] Wille, zusammen mit der linken SPD, Arbeiterpolitik im Rahmen der Demokratie zu betreiben“, betont worden. Jedes Wort dieses Leitsatzes unserer sächsischen Politik war ein prinzipieller wie taktischer Fehler, Betonung auf der Unfähigkeit der SPD, Arbeiter:innenpolitik (d. h. revolutionäre Politik) zu treiben, notwendig. Ziel musste sein, die Einheitsfront mit ihnen zu vernichten. Jede Zusammenarbeit mit diesen Führer:innen habe ihnen Kredit verschafft, gefolgert aus der These des Leipziger Parteitags, „dass auch die Sozialdemokratie revolutionäre Kämpfe führen“ könne.

Fischer kritisierte ferner: „Unsere Einheitsfronttaktik bestand in einigen Spitzenverhandlungen und parlamentarischen Kombinationen unter bewusstem Verzicht auf Betriebsrätekongresse. Selbst nach Ermordungen von Arbeitern im Frühjahr und Generalstreiksabotage während Regierungsbeteiligung ist die Front nicht gesprengt worden. Stattdessen hätten klare Signale durch mobilisierende Aktivität zu einem echten Fundament für eine Einheitsfront mit den Massen gelegt werden können, um sie von unseren revolutionären Kampfeswillen und Zielen zu überzeugen. Durch unsere Taktik in Sachsen haben wir die Entwicklung der KPD aufgehalten, die Zersetzung der SPD gehemmt, ihren ‚linken Flügel‘, die gefährlichste Barriere für die Revolution, konsolidiert und die besten revolutionären Elemente der eigenen Partei wie des Proletariats der KPD gegenüber misstrauisch gemacht. Jede bürgerliche Regierung mit einem intakten Staatsapparat und einer Spitze, die aus Personen mit sozialdemokratischem (oder auch kommunistischem) Mitgliedsbuch in der Tasche besteht, ist eine bürgerliche Regierung und handelt als und ist eine solche. Eintritt in diese Regierung konnte nur den Sinn haben, den Apparat zu sprengen, einen proletarischen an seine Stelle zu setzen und den Angriff gegen die Bourgeoisie zu beginnen. Voraussetzung hierzu war: Massenmobilisierung, Rätekongress, Beginn der Bewaffnung. Eine Änderung des Staatstyps in einen proletarischen, ohne den Widerstand der Bourgeoisie zu brechen, ist praktischer Revisionismus der Staatstheorie.“

Auch in der Praxis der Regierungsbeteiligung hätten sich viele skandalöse Fehler ereignet, z. B. die Mitverantwortung für ein Regierungsprojekt, das in Zeiten höchster Hungerkrise dem ehemaligen Königshaus ungeheure Wertobjekte schenkt, Verzicht auf selbstständige Aktionen zur Verteidigung der Regierung. Hamburg, so meinte Fischer, hätte trotz Niederlage und personeller Verluste mehr genützt als geschadet, den Kommunist:innen eher einen Prestigegewinn verschafft.

Diese Zusammenschau der Sichtweisen auf das Revolutionsjahr 1923 und die Rolle der KPD darin drückt gravierend große Gräben innerhalb der Partei aus, wobei die Brandler/Thalheimer-Führung deutlich angeschlagen aus der Niederlage der Revolution hervorging.

Sinowjews Haltung

Rückenwind erhielt der linke KPD-Flügel durch Sinowjew, der als Vorsitzender des Exekutivausschusses der Kommunistischen Internationale (EKKI) an exponierter Stelle stand, zumal er die treibende Kraft bei der Festlegung eines bewaffneten Aufstands im Herbst 1923 war. Seiner Beurteilung, die er in „Probleme der deutschen Revolution“ niederlegte, kam besonderes Gewicht zu. Rückblickend hielt er die Taktik der KPD in Sachsen für richtig, sie konnte und durfte eine Teilnahme an einer Koalition mit der SPD nicht ablehnen. Es gab keinen Grund zur Reue über das sächsische Experiment, weil dort ein Bankrott der linken Sozialdemokratie offenbart worden wäre. Im Nachwort revidierte er jedoch diese pauschale Absegnung:

„Der Eintritt der Kommunisten in die sächsische Regierung war gedacht als militärisch-politische Episode, mit dem Zwecke, für die kämpfende Avantgarde einen Stützpunkt zu schaffen. Dieses Ziel ist nicht erreicht worden. Die ganze Episode begann, einer banalen parlamentarischen Zusammenarbeit der Kommunisten mit den sogenannten ‚linken‘ Sozialdemokraten zu ähneln. Um diesen Versuch erfolgreich zu gestalten, hätte man sofort einige Zehntausend Arbeiter bewaffnen müssen. Man hätte die Frage der Nationalisierung der Großindustrie auf die Tagesordnung setzen müssen. Man hätte die Fabrikanten verhaften müssen, die die Arbeiter aussperren. Man hätte sofort die Schaffung von Arbeiterräten in Angriff nehmen müssen.“ Die sich dem widersetzende Sozialdemokratie hätte von Anfang an dafür an den Pranger gestellt werden müssen. „Das alles geschah nicht. Und darin besteht der größte Fehler der Partei.“ 

In der Frage der Einheitsfront vollzog Sinowjew eine Kehrtwendung, weg von den Kominternbeschlüssen auf dem 4. Weltkongress, die eine Einheitsfront von Kommunist:innen mit reformistischen Organisationen auf allen Ebenen befürwortete. Er sagte nun:

„Die Taktik der Einheitsfront ist in eine neue Phase eingetreten. Als Lehre muss nun gelten: ,Wir verzichten auf jegliche Verhandlungen mit dem Zentralkomitee der Sozialdemokratie und mit der Zentralleitung der deutschen Gewerkschaften. Einheit von unten heraus – das ist unsere Losung.’“ Lokale Verhandlungen mit linken Sozialdemokrat:innen seien allerdings möglich und notwendig.

Aus der Erfahrung mit dem Hamburger Aufstand folgerte er: „Ihre Schattenseite besteht darin, dass sie die organisatorischen Mängel unserer Partei erbarmungslos aufdeckte und deutlich hervorhob, dass vorläufig noch eine elementare technische Ausbildung nicht vorhanden ist.“ Es habe sich aber auch gezeigt, „dass die Sympathie bedeutender Schichten der Kleinbourgeoisie für das revolutionäre Proletariat gesichert ist.“

Sinowjew kritisierte die KPD an dem Punkt, „dass in den Tagen des Bestehens der Arbeiterregierung in Sachsen niemand von den Kommunisten an die Schaffung von Räten gedacht hat“, auch in Hamburg vor der Aktion nicht. Er propagierte auch die Formel der „Arbeiter- und Bauernregierung“, die er für „unveränderlich“ und „ewig“ erklärte und die „in der allgemeinen Form auch für das heutige Deutschland“ tauge. Er bediente sich dabei einer fragwürdigen Übertragung der Verhältnisse in der SU (Klassenbündnis, -zusammenschluss Smytschka), auf Deutschland und überging die Unterschiede der bäuerlichen ökonomischen Schichtung und politischen Tradition in beiden Ländern. Sinowjew beschwor die Einheit der Partei, zu der jedoch weder sein noch das eher Laisser-faire- und dann überstürzte Verhalten der gesamten KI zur Lage in Deutschland 1923 beigetragen hatte. Sinowjews Resümee nach dem Oktober brachte den Klärungsprozess der KPD nicht wirklich weiter.

Die Lage nach der Niederlage

Auch mit seiner Prognose zur Weiterentwicklung der Lage saß er einer Fehleinschätzung auf.

Sinowjew glaubte nach den Vorkommnissen noch an einen Aufschwung der revolutionären Bewegung. „Das dringende Bedürfnis der Arbeiter, sich zu bewaffnen, erhält erst jetzt Massencharakter. Die Entscheidungskämpfe werden für einige Zeit verschoben.“ Er war der Meinung, dass die Arbeiter:innen nun zu der Einsicht gelangen werden, die linken Führer:innen der SPD seien nur ein Anhängsel der konterrevolutionären rechten Mehrheit. 

Sinowjew ging auch davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage Deutschlands noch weiter verschlechtern würde.

Dem war jedoch nicht so. Die im November 1923 erfolgte einschneidende Währungsreform und der im April 1924 vorgelegte Dawes-Finanzierungsplan, der im August 1924 im Reichstag angenommen wurde, bewirkten eine Revision der Reparationsleistungen des deutschen Reichs gegenüber den alliierten Kriegssiegermächten und bereiteten den Weg für eine Stabilisierung der v. a. durch Inflation und ungeregelte Reparationsforderungen aus dem Lot geratenen kapitalistischen Wirtschaft und stützten auch die politische Herrschaft der Bourgeoisie.

Dies verfehlte auch nicht seine Auswirkungen auf die Arbeiter:innenschaft, deren Kampfmüdigkeit sich nach dem Oktober 1923 nicht mehr erholte. Die Anzahl der Streiks ging im Laufe des Folgejahres deutlich zurück, und sie blieben auch räumlich begrenzt, so z. B. bei den Remscheider Metallbetrieben um die Verkürzung der Arbeitszeit im Januar 1924. Der seit 1919 geltende Achtstundentag war von der Unternehmer:innenschaft während der Inflationsperiode durchlöchert worden. Hier hätte die KPD bspw. wieder einen Anknüpfungspunkt gehabt, um die Streikbewegung zu verbreitern und zu politisieren, aber ihr waren die Hände gebunden, denn:

Der Preis, den die KPD zahlen musste, bestand im Parteiverbot von November 1923 – März 1924. Die proletarischen Hundertschaften wurden aufgelöst. Der noch anfängliche Wahlerfolg im Mai 1924 (12,9 % Stimmanteil mit 62 Reichstagsmandaten) verflog im Dezember 1924 jedoch auf nur noch 9 %.

Politische Folgen

Stalin konnte sich scheinbar damit rühmen, frühzeitig die Aussichtslosigkeit eines bewaffneten Aufstands vorausgesehen zu haben. Sein erst später veröffentlichter Warnbrief als einzige bekanntgewordene Stellungnahme und seine ansonsten indifferente Haltung während der gesamten Phase der deutschen Entwicklung 1923 wiesen in Wirklichkeit jedoch bereits darauf hin, dass es ihm weniger darum zu tun war, die Weltrevolution zu fördern, als Machtpositionen im eigenen Land zu stärken.

Statt einer ernsthaften Aufarbeitung der Lehren des Oktobers 1923 gerade in der Frage von Einheitsfrontpolitik und Anwendung der Arbeiter:innenregierungstaktik wurde innerhalb der Komintern in erster Linie Kritik an der KPD-Führung geübt. Der linke Flügel ging zunächst personell gestärkt hervor. Im April 1924 wurde eine neue Parteiführung aus seinen Reihen gebildet. Trotzki nahm nach dem Oktober 1923 die alte KPD-Leitung insofern in Schutz, als er Sinowjews und Stalins alleinige Schuldzuweisung an Brandler für die Niederlage der deutschen Revolution als Ablenkungsmanöver von den eigenen Fehlern erachtete, denn der KI-Führung kam ein wesentlich höheres Maß an Verantwortung für dieses weltpolitisch markante Fiasko zu.

Weder das EKKI noch die KPD hatten die Einheitsfrontpolitik, insbesondere in der Frage der Arbeiter:innenregierung, im Geiste der entsprechenden Thesen und Resolutionen des III. und IV. Weltkongresses im entscheidenden Moment beherzigt, sondern schwankten zwischen rechtszentristischer, opportunistischer und linkszentristischer Auslegung (Einheitsfront nur von unten). Beide Linien traten schon zuvor auf: die ultralinke in der Märzaktion 1921 und die opportunistische in der Rathenaukampagne 1922, die sich auf den Aufruf zur Republikanisierung der Reichswehr durch Hinauswurf der monarchistischen Elemente beschränkte, aber von Arbeiter:innenbewaffnung und -regierung schwieg. Unsere Synopse legt nahe, dass sich Elemente richtiger Kritik und Perspektiven v. a. bei Anhänger:innen einer mittleren Opposition finden („Zur Taktik des Oktoberrückzugs und zu den nächsten Aufgaben der Partei“, Lemann). Splitter richtiger Einsichten finden sich auch bei Kleine und dem linken Flügel der Parteimehrheit, der die Untätigkeit der Leitung während und nach der Ruhrbesatzung betonte.

Die politischen Folgen waren in mehrfacher Hinsicht verheerend. Das Scheitern der Revolution 1923 erleichterte zumindest Stalins Bestrebungen, den Sowjetstaat zu bürokratisieren. Die schwankende Linie in der Arbeiter:inneneinheitsfrontpolitik mit deren übelstem Auswuchs, der Sozialfaschismusdoktrin gegenüber der Sozialdemokratie, mündete dann 10 Jahre später in ein noch maßloseres Verhängnis für das Proletariat, die Niederlage gegenüber dem Faschismus.

Namen und Pseudonyme

Max Albert (Pseudonym für Hugo Eberlein)

August Kleine (Pseudonym: Samuel Guralski)

H. Lemann (Pseudonym: wahrscheinlich Ernst Meyer)

Quellen

Sinowjew: Probleme der deutschen Revolution, Verlag Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley, Hamburg 1923

Ergänzungsheft Nr. 1, Jahrgang 6, Januar 1924; in: Die Internationale. Zeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, Band 4, Reprint: Verlag Neue Kritik KG, Frankfurt/M. 1971 (darin u. a. Aufsätze von H. Brandler, A. Thalheimer, Karl Berger, H. Lemann, A. Kleine, Max Albert, Ruth Fischer)

Jahrgang 7, 28. März 1924; in: Die Internationale, a. a. O., Band 5, S. 33 – 152 (darin u. a. Aufsätze von Sinowjew, Edwin Hörnle, Wilhelm Koenen, St. Stefan, A. Maslow, Ruth Fischer, Sommer, Heinrich Brandler, August Thalheimer

Die Kommunistische Internationale Nr. 31 – 32, 5. Jahrgang, Band 7, Reprint: POLITLADEN ERLANGEN, Gaiganz 1974, S. 143 – 232 (darin u. a. Aufsätze von H. Remmele, A. Maslow, G. Sinowjew)

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