Wilhelm Schulz, Neue Internationale 275, Juli/August 2023
Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, dann gewänne die Alternative für Deutschland (AfD) den aktuellen Schätzungen zur Folge 19 % der Stimmen. Sie wäre damit zweistärkste Kraft nach der Union. Das sind knapp 9 Zähler mehr im Vergleich zur letzten Bundestagswahl vom September 2021. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wäre sie aktuell stärkste Kraft. In allen Bundesländern hat sie zugelegt, außer in den Stadtstaaten und Niedersachsen. Und das ist bei weitem nicht auf den Osten des Landes beschränkt, wobei sie dort weiterhin deutlich höhere Stimmanteile hält.
So ist der prognostizierte Stimmzuwachs in NRW beispielsweise einer um 8,8 % von 5,4 % auf 14,2 %. In Hessen ist sie laut Prognosen viertstärkste Kraft, aber erhielte 17,4 %. In Sachsen scheint sie am erfolgreichsten mit 32,5 %. Natürlich sind das Umfragezahlen, die immer eine gewisse Abweichung enthalten; natürlich ist das „nur“ eine Momentaufnahme und natürlich ist das nur ein Auszug der Wirklichkeit, aber eines ist es sicherlich nicht: eine Ausnahme. Die Zahlen stellen uns also vor die Aufgabe, mal wieder nach den Rechten zu schauen.
Gründe dafür gibt es zur Genüge. Zwischen Ampel und Union wird die alte Leier aus der Mottenkiste geholt, ob man sich rhetorisch von der AfD abgrenzen oder dieser angleichen sollte. Am 25. Juni wurde Robert Sesselmann im Kreis Sonneberg (Thüringen) zum Landrat gewählt und ist nun das erste AfD-Mitglied in einem leitenden regierenden Amt, wenn auch regional. Am 2. Juli wurde Hannes Loth in Raguhn-Jeßnitz (Landkreis Anhalt-Bitterfeld, Sachsen-Anhalt) zum ersten hauptamtlichen AfD-Bürgermeister gewählt.
Dabei sah es noch vor einem Jahr aus, als hätte sich die Partei bundesweit relativ fest im niedrigen zweistelligen Bereich eingeordnet, trotz ökologischer Krise, trotz Pandemie und trotz Kriegs um die Ukraine. Nun scheint ein Heizungsgesetz der Tropfen gewesen zu sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Aufgrund massiver Einkommensverluste angesichts der Inflation, die vor allem Lohnabhängige und ärmere Zwischenklassen wie kleine Ladenbesitzer:innen oder selbstständige Handwerker:innen trifft, erscheint oder ist das alles nicht mehr leistbar. Steigende Kreditunsicherheit erhöht das Risiko von Verarmung, Verschuldung und Insolvenz. Ein Risiko, das die Sorge in sich trägt, dass man den bisherigen Lebensstandard oder bescheidenen „Luxus“ zu verlieren droht, sei es das Auto, das Haus, den Jahresurlaub oder Ähnliches. Die Angst vor dem sozialen Abstieg unterhöhlt das Vertrauen in Staat und Demokratie – und befördert die Suche nach einem politischen Ausweg aus der realen oder gefühlten Bedrohung.
Diese angeführten Punkte zeigen auch, dass es Ängste sind, die in viel höherem Maß den ländlichen Raum treffen. Deutschland ist zwar unter den OECD-Ländern eines mit den höchsten Anteilen an Mieter:innen, aber diese sind ungleich verteilt, ähnliches gilt für den Individualverkehr. Private Eigenheime prägen vor allem die ländlichen Regionen. Dort sind die Menschen auf PKWs angewiesen. Diese Regionen werden außerdem oft von wenigen Unternehmen geprägt. Eine strukturelle Krise dieser macht sich schnell als Strukturbruch in der gesamten Region spürbar.
Es ist auch kein Wunder, dass die AfD im Osten stärker ist. Das hat nichts mit einer gegenüber dem Westen stärkeren „antidemokratischen“ Grundhaltung zu tun, wohl aber damit, dass die Mittelschichten und das Kleinbürger:innentum weniger starke Wurzeln in der bundesrepublikanischen Gesellschaft haben als im Westen.
In der gegenwärtigen Lage stellt die AfD die einzige große bundesweite und parlamentarische Kraft dar, die (fast) überall dort, wo die Regierung ein Plus macht, ein Minus setzt. Im Gegensatz zu allen Parteien hegt sie keine unmittelbaren Regierungsabsichten. Auch auf Landesebene scheint das kurzfristig unwahrscheinlich, was der AfD erlaubt, sich als „Systemopposition“ zu gerieren. Die AfD ist also die Partei, die der blinden Not der aktuellen Situation Ausdruck verleihen kann.
Doch wäre es weiterhin verkürzt, bei dieser Darstellung als Protestpartei stehenzubleiben. Denn die aktuelle Politik der Ampel stellt eine klare Perspektive zur Orientierung des deutschen Kapitals dar, deutlicher als es die GroKo in den letzten Jahren tat. Umstellung der deutschen Automobilindustrie, Umbau der Wertschöpfungsketten weg von wirtschaftlicher Verflechtung mit dem russischen Imperialismus, Umbau eines Großteils der Heiz- und Energieinfrastruktur. Die Liste könnte verlängert werden, aber sie drückt eines aus: Während für die einen ökonomische Sicherheiten der letzten Jahre einbrechen, sind für andere Sektoren Milliardeninvestitionen erkennbar (bspw. 10 Milliarden Euro Fördersumme für ein Intel-Chipwerk in Magdeburg bei bis zu 3.000 direkten und insgesamt bis zu 10.000 Stellen). Die AfD stellt bei weitem noch keine Alternative für größere Teile der herrschenden Klasse dar, profitiert jedoch von deren Unruhe.
Entscheidend ist jedoch, dass sie die Ablehnung der verschiedenen Regierungsvorhaben mit einem demagogischen, rechtspopulistischen Angriff auf die „Eliten“, das „System“ verknüpft. In Berlin wäre eine gegen die Deutschen gerichtete „Diktatur“ von Grünen, Gutmenschen, Kriegstreiber:innen, Genderwahnsinnigen und Flüchtlingshelfer:innen errichtet worden. Auch wenn die AfD damit immer auch „Protestwähler:innen“ anspricht, so verbindet sich deren „Protest“ zunehmend mit einer weiter nach rechts gehenden Kraft.
In welchem Kontext findet dieser Aufschwung statt? Er kommt nicht von ungefähr, sondern baut auf der politischen Krise, die angestoßen wurde durch die Weltwirtschaftskrise von 2007/08. Die AfD konnte die Kombination aus politischen Niederlagen der Arbeiter:innenbewegung und der zunehmenden Gräben zwischen verschiedenen nationalen Bourgeoisien nutzen, um ein gefährliches Amalgam zwischen einer nationalistischen Orientierung für Teile der herrschenden Klasse und einem wütenden Mob in den Onlineforen, den neuen Stammtischen, bilden.
Die weitere Rechtsentwicklung der AfD drohte in den letzten Jahren, dieses giftige Bündnis zu sprengen, das insgesamt als rechtspopulistisch zu charakterisieren ist. Doch die große Spaltung blieb bislang aus, obwohl ihr mehr oder weniger offen faschistoider Flügel in den letzten Jahren stärker wurde. Die Wahlerfolge und -prognosen werden den Frieden und die Einheit der AfD zumindest zeitweise bewahren. Das rhetorische Nach-rechts-Gehen weiter Teile der CDU und die Orientierungslosigkeit primär von kleineren und mittleren Unternehmen wird die AfD weiter stützen. Wir können und müssen daher davon ausgehen, dass die ökonomische Lage, der Krieg, die Politik der Regierung wie von CDU/CSU der AfD Wähler:innen weiter in die Arme treiben wird.
Einen entscheidenden Faktor spielen dabei auf politischer Ebene die reformistischen Parteien SPD und DIE LINKE, aber auch die Gewerkschaften, die in der Not ihre Rettung im „Bündnis der Demokrat:innen“ suchen. Wie die Erfahrung von Sonneberg zeigt, führt dieses jedoch nicht nur zur politischen Unterordnung unter die offen bürgerlichen Parteien, es erlaubt auch der AfD, sich selbst als einzige wirkliche Alternative zu den Träger:innen des Systems aufzuführen.
Doch diese Dynamik erfolgte angesichts von Aussichtslosigkeit. Im letzten Jahre sind Zehntausende den Gewerkschaften in den Tarifrunden beigetreten, beteiligten sich auch daran und kämpften für hohe Abschlüsse. Es zeigten sich teilweise neue und kampfbereite Schichten der Klasse der Lohnabhängigen. Dieses Potential einer kämpferischen Erneuerung der Arbeiter:innenbewegung wird zugleich vom Ausverkauf durch die Gewerkschaftsbürokratie gebremst und konterkariert – sei es von ver.di im beim Abschluss im öffentlichen Dienst und bei der Post, sei es von einer EVG, die sich anschickt, das bei der Bahn zu wiederholen.
Die Gewerkschaften, genauer deren Führungen, hoffen eigentlich auf eine Rückkehr zu den vermeintlich guten alten Zeiten einer „funktionierenden“ Sozialpartner:innenschaft, geraten dabei aber mehr und mehr unter Druck von Seiten des Kapitals wie auch von einzelnen Teilen der Basis.
Eine gewisse Radikalisierung und Suche nach einer Alternative können wir zweifellos auch bei der Umweltbewegung erkennen.
Doch auf der Ebene der politischen Parteien drückt sich diese Dynamik kaum aus. Das liegt nicht nur am Richtungsstreit der LINKEN, sondern an der strategischen Orientierung aller Flügel der Partei, die der Regierungsbeteiligung im Rahmen der Verwaltung des kapitalistischen Krisensystems nicht grundsätzlich abgeneigt sind. Zur Bundestagswahl 2021 hat die Parteiführung mit ihrem Sofortprogramm deutlich gemacht, dass sie für Rot-Grün-Rot ihre Grundsätze aufgeben würde (bspw. NATO-Austritt). Auch kann sie sich in ihrer historischen Hochburg, Ostdeutschland, schon seit Jahren kaum bewähren. Ihre Kritik am Kurs der Regierung wirkt wie reine Sozialkosmetik (SPD-Forderungen plus 2 Euro), gerade angesichts ihrer Politik in unterschiedlichen Landesregierungen.
Wenn man die AfD wirklich stoppen will, so erfordert dies auch, die Ursachen ihres Wachstums zu verstehen. Wer die reaktionären Antworten der Partei bekämpfen will, muss selbst eine Antwort auf die realen sozialen Probleme in Stadt und Land geben. Nur eine Bewegung, die für die sozialen Interessen der Lohnabhängigen, Krisengebeutelten und Unterdrückten kämpft, kann den Aufstieg der AfD nicht nur zeitweise ausbremsen. Gerade angesichts der drohenden Zunahme weltumspannender Krisen und heißer Kriege zeigt sich die Bedeutung dessen. Die beiden Achsen, in die wir diese Diskussion hineinführen müssen, bilden einerseits die Versuche, die Gewerkschafter:innen und sozialen Bewegungen anzusprechen, die mit den Mitteln des Klassenkampfes gegen die Angriffe der Regierung, des Kapitals und der Rechten angehen wollen. Andererseits geht es darum, eine strategische Diskussion um eine revolutionäre politische und programmatische Alternative zu führen, um so die Grundlagen für eine revolutionäre Partei und Internationale zu legen.