Martin Suchanek, Neue Internationale 273, Mai 2023
Der Beginn des Ukrainekriegs markiert eine neue weltpolitische Lage. Die wachsenden innerimperialistischen Rivalitäten – der Niedergang der US-Hegemonie, der Aufstieg Chinas als neuer Großmacht, die Krise der EU, aber auch Russlands – prägen das Weltgeschehen. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt hat längst begonnen, nicht nur um die Ukraine, sondern in praktisch allen Regionen des Globus, ob nun um Taiwan oder im Nahen Osten.
All dies findet vor dem Hintergrund einer veritablen, tiefen ökonomischen Krise statt, einer weltwirtschaftlichen Lage, die von Stagflation, einer Kombination aus hoher Inflation und Stagnation, geprägt sein wird. Auch die bürgerlichen Augur:innen der globalen Ökonomie, die Wirtschaftsweisen von IWF, Weltbank, OECD oder der Bundesrepublik sprechen das offen aus.
Beim Krieg um die Ukraine zeichnen sich nach einem Jahr zwei mögliche Perspektiven ab. Entweder wird er zu einem länger andauernden Stellungskrieg werden oder wir erleben im Laufe des Jahres – natürlich auf Kosten der Ukraine – diplomatische Initiativen zur Befriedung, so dass auf die imperialistische Konfrontation ein nicht minder reaktionärer, imperialistischer Frieden folgt.
An den ökonomischen und geostrategischen Konflikten wird das aber nichts grundlegend ändern. Die Tendenz zur Fragmentierung des Weltmarktes wird zunehmen. Blockbildung und verschärfte Konkurrenz werden die Folge sein. Die Überakkumulationskrise und fallende Profitraten, die die Ursache der stagnativen Tendenzen bilden, werden sich verschärfen. Es geht nicht einfach darum, eine Wirtschaftskrise zu lösen. Es geht darum, welche Großmacht, welche imperialistischen Staaten oder Staatengruppen die Krise zu ihren Gunsten – und das heißt auf Kosten der anderen – lösen können.
Daher ertönt überall der Ruf nach dem „nationalen Schulterschluss“ – sei es im Namen der „nationalen Rettung“ wie in Putins Despotie, sei es im Namen von „Freiheit und Demokratie“, die Bundesregierung und der gesamte Westen für sich reklamieren.
Schließlich macht es sich immer besser, wenn es gelingt, der Masse der Bevölkerung – und das heißt vor allem den Arbeiter:innenklassen – die imperialistischen Interessen des „eigenen“ Staates und die Profitinteressen des „eigenen Kapitals“ als Missionen für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte zu verkaufen. Schließlich lassen sich so die Kosten eines Wirtschaftskrieges, von gigantischen Preissteigerungen und einer „ökologischen“ Wende vom russischen Gas zum LNG-Terminal leichter verkaufen.
Und schließlich müssen die Lohnabhängigen auch dafür zahlen (und gegebenenfalls auch als Soldat:innen bereitstehen). Für ihre imperialen Interessen nehmen die NATO-Staaten, die USA, aber auch die Bundesregierung nicht nur Inflationsraten von 10 % in den eigenen Ländern, sondern auch gleich die Verarmung der Ärmsten der Welt, Hyperinflation von 30, 40 oder gar 100 % und drohende Pleiten in Ländern wie Argentinien und Pakistan, der Türkei und Sri Lanka in Kauf.
Der Kampf gegen die Klimakatastrophe ist zu einer reinen Farce geworden. Flutkatastrophen und Dürren, Schmelzen der Gletscher – ob nun an den Polen oder in den Alpen – und damit Hunger, Not, Vertreibung von hunderten Millionen sind der Kollateralschaden, sind Opfer des gegenwärtigen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt und des neuen Kalten Krieges zwischen alten und neuen imperialistischen Mächten.
Millionen und Abermillionen werden zu Flüchtlingen, zur Migration gezwungen – aufgrund von Kriegen, Klimakatastrophe oder einfach von Armut und Ausplünderung der Länder des globalen Südens. Und diesen Millionen und Abermillionen verwehren die kapitalistischen Großmächte die Einreise. Migration soll stattfinden – aber nur selektiv, im direkten Interesse des Kapitals. Die anderen werden in menschenunwürdigen Lagern an den Außengrenzen der EU oder den USA „abgefangen“ oder finden beim Versuch, „illegal“ die Grenzen zu überschreiten, gar den Tod.
Keines der Probleme der Welt – und auch keines der großen Probleme in Deutschland – wird von den Herrschenden dieser Welt angegangen, geschweige denn gelöst. Im Gegenteil: gigantische Preissteigerungen, vor allem bei Energie, Lebensmitteln und Wohnen, erhöhte Arbeitshetze, wachsender Billiglohnsektor, Kürzungen, Bildungs- und Gesundheitsnotstand prägen unser Leben. Und zwar das von allen Lohnabhängigen. Besonders betroffen sind dabei die Migrant:innen und Geflüchtete, Frauen und sexuell Unterdrückte, ungelernte Arbeiter:innen, Jugendliche und Rentner:innen.
Die Reallöhne sanken 2022 das dritte Jahr in Folge. Im Durchschnitt betrug der Einkommensverlust der Lohnabhängigen im letzten Jahr 4,1 %. Für 2023 ist mit keinem nennenswerten Rückgang der Verbraucher:innenpreise zu rechnen.
Praktisch alle Lohnabschlüsse blieben also in den letzten drei Jahren unter dem Niveau, das nötig wäre, die Einbußen infolge von Pandemie, Rezession oder Inflation auszugleichen. Von einer Abgeltung von Produktivitätszuwächsen, gesteigerter Intensität der Arbeit oder höherer Flexibilisierung ist hier noch gar nicht die Rede.
Praktisch alle Tarifabschlüsse 2023 folgen diesem Muster – ob nun von IG Metall, IG Bergbau, Chemie, Energie oder bei der Post. Im öffentlichen Dienst und bei der Bahn drohen ähnliche Resultate.
All das ist Teil einer Regierungs-, aber auch einer Gewerkschaftspolitik, die auf eine sozialpartnerschaftliche Verwaltung der Krise, auf den nationalen Schulterschluss setzt. Das war während der Coronakrise so – und diese Linie wird während des Kriegs und angesichts der Preissteigerungen fortgesetzt. Lohn- und Gehaltsforderungen werden nicht gestellt, um dem Trend der ständigen Verschlechterung der Einkommen entgegenzuwirken, sondern um noch Schlimmeres zu verhindern.
Keine Frage, einer ganzen Reihe von Unternehmen sind selbst die kleinen Zugeständnisse schon zu viel. Selbst die bald schon von der Inflation aufgefressene Erhöhung des Mindestlohns bringt die Fans der freien Marktwirtschaft auf die Palme. Selbst die Kindergrundsicherung soll, geht es nach FDP und Unionsparteien, mit allen Mitteln verhindert oder zumindest gänzlich verwässert werden. So droht wie schon bei der Umwandlung von Hartz IV ins Bürger:innengeld eine weitere zahnlose „Reform“, die nur der Armutsverwaltung einen anderen Namen gibt.
Wir alle wissen, dass sich unsere Lebenslage in den letzten Jahren gewaltig verschlechtert hat. Und wir wissen, dass noch viel mehr droht, wenn wir die Schulden, die in den letzten Jahren zur Rettung der Konzerne und zur Aufrüstung aufgenommen wurden, durch Kürzungen, Einkommensverluste oder Privatisierungen begleichen sollen.
Doch von einer solch simplen Wahrheit wollen die DGB-Gewerkschaften im Aufruf zum Ersten Mai, der unter dem Titel „Ungebrochen solidarisch“ veröffentlicht wurde, nichts wissen. Natürlich erkennt auch der Gewerkschaftsbund an, dass sich die Welt im „Krisendauermodus“ befindet. Warum das so ist und das womöglich etwas mit Imperialismus und Kapitalismus zu tun hat, erfahren wir allerdings nicht.
Dafür gibt es eine frohe Botschaft für alle, die drei Jahre lang Realeinkommensverluste erlitten haben: „Unser Kampf für Entlastung war erfolgreich. Die Energiepreisbremse oder Einmalzahlungen an Beschäftigte, Rentner*innen und Studierende gäbe es ohne uns nicht. Mit der Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro und dem Bürgergeld haben wir dafür gekämpft, dass Menschen mit geringem Einkommen besser dastehen. Vor allem aber haben die Gewerkschaften in vielen Tarifverhandlungen für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld im Portemonnaie von Millionen Beschäftigten gesorgt.“
Bei diesen vom DGB herbeigeschriebenen Erfolgen fragt man sich unwillkürlich, wie Niederlagen und Verschlechterungen aussehen.
Dafür verspricht – oder droht? – der DGB im Aufruf, weiter mitzuwirken, dass die Energiewende zum Erfolg, im Rahmen der Mitbestimmung kräftig mitgestaltet wird. Er fordert außerdem auch Umverteilung und eine Vermögenssteuer, denn schließlich fahren „einige Konzerne ( … ) überhöhte Gewinne“ ein. „Es darf nicht sein, dass die Hauptlasten der Krise den Beschäftigten aufgebürdet werden, während sich die Reichen aus der Verantwortung stehlen“, empört sich der DGB und man fragt sich unwillkürlich, was er unter einer gerechten „Lastenverteilung“ versteht. Sollen die Lohnarbeiter:innen weiter 4 % Einkommensverlust hinnehmen, wenn die Kapitalist:innen 4 % weniger Gewinn einfahren?
Schließlich versichert die Gewerkschaftsführung auch noch NATO und Bundesregierung ihre Solidarität, und beschwört wie beim Wort zum Sonntag auch noch Abrüstung und Frieden: „Als Gewerkschaften treten wir für weltweite kontrollierte Abrüstung, für Rüstungskontrolle und für die Verwirklichung von Frieden und Freiheit im Geiste der Völkerverständigung ein.“
Damit rundet der DGB seine frohe Botschaft ab. Trotz „Krisendauermodus“ haben wir viel erreicht und der Frieden wäre auch in Sicht, wenn sich UNO und Großmächte nur darauf verständigen würden. Der Aufruf zum Ersten Mai ist so beschönigend, dass es schon wieder lächerlich wird. Aber dessen unbenommen bringt er die Weltsicht und die politische Strategie der Gewerkschaftsbürokratie – und damit ein Hauptproblem der Arbeiter:innenklasse – zum Ausdruck. Wozu, so die implizite Botschaft, brauchen wir den Klassenkampf, wenn es die Sozialpartner:innenschaft auch tut? Tarifkämpfe, Aktionen, Demos braucht es, dieser Logik zufolge, allenfalls, um die Kapitalseite an die Vorzüge der Zusammenarbeit für das nationale Interesse zu erinnern.
Zweifellos tragen die DGB-Spitzen wie die gesamte Gewerkschaftsbürokratie und die reformistischen Parteien eine politische Hauptverantwortung für das Ausbleiben eines massenhaften und organisierten Widerstandes gegen Inflation, Aufrüstung, Bildungs- und Gesundheitsmisere. Hinzu kommt, dass auch die Bundesregierung – anders als z. B. Macron in Frankreich oder die britische Regierung – auf eine Politik der Einbindung der Gewerkschaften und die, wenn auch völlig ungenügende Abfederung der Krise setzte.
Das erschwerte, ja blockierte nicht nur die Entstehung einer Antikrisenbewegung, sondern es bremste den Widerstand auf allen Ebenen. Das „Demokratie“narrativ lähmte und schwächte den Kampf gegen die imperialistische Außenpolitik, den neuen Kalten Krieg und die Aufrüstung. Hinzu kommt, dass jene Teile der Linken, die zum russischen (oder auch chinesischen) Imperialismus schweigen, die die reaktionäre und verbrecherische Politik Russlands in der Ukraine schönreden, ungewollt der bürgerlich-demokratischen Ideologie in die Hände spielen und zu Recht von vielen Arbeiter:innen nicht ernst genommen werden.
Doch das Problem des bremsenden Einflusses von reformistischen, bürokratischen oder linksbürgerlichen Kräften finden wir auch bei der Klimabewegung in Gestalt der Grünen.
Und schließlich fungiert auch die Linkspartei – wenn auch deutlich geschwächt und der Spaltung nahe – als Mittel zur Integration in die reformistischen Apparate, z. B. in den Gewerkschaften.
Doch trotz all dieser Hindernisse entwickelten sich in den letzten Monaten auch wichtige Bewegungen und innerhalb ihrer Kämpfe neue Schichten von Aktiven.
Das betrifft zum einen die Klimabewegung, die z. B. im Kampf gegen den Braunkohleabbau Zehntausende nach Lützerath mobilisierte. Diese und andere Auseinandersetzungen beförderten zugleich einen politischen Differenzierungs- und Radikalisierungsprozess, in den Revolutionär:innen eingreifen müssen.
Einen womöglich noch wichtigeren Prozess können wir aber auch in den Tarifkämpfen der letzten Monate, vor allem im Kampf um den TVöD beobachten. In Sektoren wie den Krankenhäusern entstand und entsteht auch aufgrund der Kämpfe der letzten Jahre eine neue Schicht von Kämpfer:innen, die nach eine radikaleren, konfrontativen und klassenkämpferischen Politik der Gewerkschaften verlangen. Auch wenn diese Klassenkämpfe letztlich ökonomische und keine politischen waren, so entwickelt sich hier ein kritisches Bewusstsein, das sowohl den Kapitalismus als Gegner wie auch den Gewerkschaftsapparat und die Bürokratie als Hindernis zu begreifen beginnt.
In den nächsten Monaten und Jahren wird es entscheidend sein, diese Kräfte als klassenkämpferische Opposition nicht nur gegen die aktuellen, sozialdemokratischen Vorstände der Gewerkschaften und deren Apparat, sondern auch gegen den linken Flügel der Bürokratie zu organisieren. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) kann und muss dabei trotz ihrer noch geringen Zahl eine Schlüsselrolle spielen.
Wir halten es für strategisch notwendig, diese Ansätze im Kampf gegen Klimazerstörung, Imperialismus und für die Verteidigung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen zu einer Kraft zu verbinden, die Kapital und Kabinett wirklich stoppen kann.
Um eine solche Bewegung aufzubauen, brauchen wir neben der Aktion auch Diskussion und programmatische Klärung. Dafür gilt es, die Kräfte zu formieren, die nicht nur eine Bewegung, sondern auch eine revolutionäre Organisation und Internationale aufbauen wollen – mit dem Ziel, diese Kämpfe mit dem für den revolutionären Sturz des Kapitalismus zu verbinden.